Es gibt doch tatsächlich Leute, die diesen Blog hier lesen. Hallo Ihr beiden. Und hin und wieder erreicht mich das Echo, dass man grundsätzlich doch einigermaßen zufrieden sei, mit dem was man hier zu lesen bekäme. Aber es gäbe auch einen Kritikpunkt…… An dieser Stelle klinke ich mich normalerweise aus. Wer will denn bitteschön irgendwas von irgendwelchen Kritikpunkten hören? Aber man ist hartnäckig und so erreichte mich dann doch hin und wieder die Botschaft, dass man neben der einigermaßen erträglichen Qualität der Texte auch immer wieder einen gewissen Hang zur Überlänge ausmache. Ich schweife also zu oft ab, so das Urteil. Und ja, das stimmt. Aber ich mache dies auch gern. Und wo sonst, als im Hasenblog, sollte ich meiner Ausschweifungslust so ungehemmt frönen können? Und außerdem hat ja niemand gesagt, dass es einfach sein würde, hier zu lesen. Es erfordert halt auch ein gewisses Maß an Durchhaltevermögen. Aber genug davon, kommen wir zur nächsten Geschichte, die auch wieder vom Hasen und im Besonderen von der Familie des Hasen handelt. Auch wenn man es nach den ersten sechs Absätzen merkt.
In meiner Kindheit, also in der etwas späteren Kindheit, bis hin zum Jugendalter, habe ich Zeitungen ausgetragen. Nichts womit man irgendwie reich werden konnte, aber ein bisschen Geld extra war immer noch besser, als gar kein bisschen Geld extra. Mein erstes Engagement war in Vertretung meiner großen Schwester für den Heinrich Bauer Verlag auszutragen. Das waren dann Zeitungen wie die Bravo, das Neue Blatt, die Neue Post und dergleichen. Außerdem dabei waren auch Wochenend und Praline. Bei diesen war die Besonderheit, dass dort immer sehr leicht bekleidete Frauen abgebildet waren. Schon auf dem Titelblatt. Das fand ich auf der einen Seite skandalös aber auf der anderen Seite auch irgendwie interessant. Warum auch immer. Ich war noch sehr jung, aber trotzdem machten die offenkundigen Unterschiede ihrer Anatomie im Vergleich zu meiner, mir ein bisschen zu schaffen und ich konnte das nicht wirklich einordnen. Wer waren diese Elfen und woher kamen sie? Erst Jahre später erschloss ich für mich, dass sie keine außerirdischen Wesen waren und ich machte meinen Frieden damit.
Aber das wollte ich eigentlich gar nicht erzählen. Entscheidend bei meinem Austragen für diesen Verlag war, dass ich immer das Geld für die Zeitungen bei den Leuten direkt kassieren musste. Das heißt, ich klingelte, wartete bis geöffnet wurde und dann wickelten wir diese windigen Geschäfte an der Haustür ab. Manchmal gab es einen Groschen Trinkgeld, oftmals auch nicht. Aber zu Weihnachten gab es immer viele Sachen. Geld, Süßigkeiten und irgendwelche Kekse, von denen man nicht wusste, ob sie vor oder nach dem Weltkrieg gebacken wurden. Dieses Zeitungsaustragen für diesen Verlag mit diesen Zeitungen ist mir im Gedächtnis geblieben. In der Hauptsache aber nicht wegen der skandalösen Blätter (natürlich nicht), sondern weil ich feststellte, dass jedes Haus seinen eigenen Geruch hatte. Das ist mir vorher nie so bewusst geworden. Wahrscheinlich hatte auch mein Elternhaus seinen eigenen Geruch. Aber genauso wie man sich selbst nicht kitzeln kann, ist es wahrscheinlich auch nicht möglich den Geruch des eigenen Hauses zu riechen, wenn man darin wohnt.
Die Gerüche der Häuser waren immer sehr unterschiedlich. Manche waren davon geprägt, dass noch mit Kohlen geheizt wurde. Andere rochen einfach nur muffig. Ein Haus roch einfach nur nach Schweinestall. Am Anfang musste ich noch vergewissern, dass ich auch wirklich an der Haustür geklingelt hatte und nicht etwa an der Tür des Schweinestalls. Wobei ich, wenn ich mal logisch gedacht hätte, auch gleich darauf hätte kommen können, dass ein Schweinestall im Normalfall keine Klingel hat. Wozu auch? Macht ja eh kein Schwein auf. Jedenfalls war ich bei diesem Haus immer froh, wenn ich schnell mit dem Kassieren durch war. Ein anderes Haus roch dafür aber nach Kuchen. Nach frisch gebackenem Topfkuchen. Und zwar jede Woche. Und ich liebte damals Topfkuchen und noch mehr liebte ich den Geruch, wenn meine Mutter einen buk. (An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass ich viel lieber „backte“ schreiben würde als „buk“, aber die Rechtschreibung will mir nicht folgen, obwohl man ja auch „hackte“ sagt und nicht „huk“.)
Ich hatte mich damals immer gefragt, ob dieses Haus einfach von sich aus so duftete, oder ob es eigentlich immer Kuchen gab. Die Frau, die immer an die Tür kam, war sehr nett, aber ein Stück Kuchen hatte sie mir nie angeboten. Weswegen ich das Rätsel des duftenden Hauses auch nie ganz lösen konnte. In meiner kindlichen Phantasie gab es Steine aus Topfkuchen, aus denen man ganze Wände mauern konnte. Als Mörtel dienten Zucker- oder Schokoladenguss. Hmmh, war dies vielleicht ein Knusperhaus und die Frau eigentlich eine Hexe, die Kinder in den Ofen steckte, um sie dort braun wie Brot zu backen? Wenn ich es recht bedachte, wollte ich doch eigentlich gar nicht rein und war dann froh, wenn ich wieder weg konnte.
Aber das wollte ich auch eigentlich gar nicht erzählen . Worum es mir geht ist, dass zu jedem Menschen auch ein Umfeld gehört. Familie, Verwandte, Freunde, Haustiere vielleicht, alles gehört zu diesem Menschen und umgibt ihn, wie der Duft ein jedes Haus umgibt und unveränderlich zu ihm gehört. Und wenn man jemanden kennenlernt und sich mit dem Gedanken befasst, mit diesem Menschen zusammen zu leben, dann bekommt man das komplette Paket mitgeliefert. Und im Laufe der Zeit lernt man alles und jeden kennen, der, die oder das zu dem geliebten Menschen gehört. Und so ist es irgendwann auch von elementarer Bedeutung, dass man dieses Umfeld ebenso mag, wie der Partner. Wenn das nicht zueinander passt wird es immer Probleme geben und man wird sich laufend die Frage stellen, wie weit die eigene Toleranzgrenze ist.
Ein Hundehasser wird die Frau auf Dauer nicht mögen können, die ihren kleinen Terrier in der Handtasche trägt und sich von ihm laufend das Gesicht abschlecken lässt. Spätestens, wenn der Hassende die lauwarme Hinterlassenschaft des Kläffenden mit einer Art Plastikbeutelhandschuh auflesen und in einem zweieinhalb Kilometer entfernten Hundekotsammelbehälter entsorgen kann, wird diese Beziehung auf eine harte, oder dem Stuhlgang entsprechend weiche Probe gestellt. Ebenso wird eine Beziehung unter keinem guten Stern stehen, in der eine der Schwiegermütter erheblich Bedenken gegenüber der Partnerwahl des eigenen Kindes hat. Man heiratet eigentlich eine ganze eigene Welt zusammen mit dem Partner und es ist besser, wenn man in diese Welt passt.
In dieser Welt gibt es dann verschiedene Personenkreise, die unterschiedlich wichtig sind. Die direkte Familie ist sehr wichtig und die guten Freunde sind es auch. Das Ganze stuft sich immer weiter ab, bis man bei der Verwandtschaft angelangt ist. Und hier kann es auch gerne mal unübersichtlich werden. Als der Hase und ich uns kennenlernten, lebten noch die allermeisten unserer Onkel und Tanten und sogar noch Großeltern. Zumindest von Hasenseite. Meine Verwandtschaft kannte ich natürlich schon lange und ich wusste, wer schräg von ihnen war, wer besonders nett und wer eben nicht. Und ich hatte eine ziemlich große Verwandtschaft. Zu meiner Konfirmation hatten wir damals eben alle Verwandten eingeladen und es waren über vierzig Leute, die da zusammengekommen sind. Und das fand ich wirklich viel. Die Eltern und Geschwister meiner Eltern mit den jeweiligen Familien eben. Und ich dachte, das wäre viel. Ich sollte mich irren.
Als ich mit dem Hasen ein paar Monate zusammen war, hatten ihre Eltern, Silberhochzeit. Ich kannte zu diesem Zeitpunkt die Eltern und die Geschwister vom Hasen zumindest ein bisschen und ich wusste, dass die Eltern vom Hasenvater in Göttingen lebten und ich vermute, dass ich diese Hasengroßeltern auch schon einmal zu Gesicht bekommen hatte, bin mir da aber nicht sicher. Ansonsten kannte ich niemanden aus der Verwandtschaft.
Die Silberhochzeit war der erste Anlass, die Verwandten vom Hasen etwas kennenzulernen. Was mir bisher immer nicht möglich war, weil eigentlich alle aus diesem Personenkreis im Großraum Göttingen lebten. Die Art der Feier war etwas merkwürdig. Man fing gegen Mittag an, allerdings noch ohne dass es zunächst etwas zu essen geben würde. Was ein bisschen herausfordernd war, weil der Hase und ich in den Morgenstunden angereist waren und ich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Der Magen knurrte so laut, dass man es hören konnte, wenn man ein paar Meter neben mir stand. Wir waren natürlich so ziemlich die ersten Gäste, weil der Hase ja die Tochter des Silberpaares war. Ihre Eltern freuten sich demnach sehr, sie pünktlich zu sehen. Mich konnten sie dabei nur am Rande zuordnen. So oft hatten wir uns bisher auch noch nicht gesehen.
Und ich wollte mich eher unauffällig verhalten. Man will sich ja bei den potentiellen Schwiegereltern von einer guten Seite zeigen. Also erwähnte ich meinen Hunger nicht weiter und versuchte das Knurren des Magens mit anderen Geräuschen zu überspielen. Aber auf meinen Hasen ist ja Verlass. „Wann gibt es denn was zu essen? Matzi hat Hunger“, sagt sie und ihre Eltern sehen mich ein bisschen pikiert an. „Was ist denn das für einer?“, mögen sie gedacht haben und die Mutter des Hasens, die als Silberbraut auch so schon etwas angespannt war, überlegte fieberhaft, wie man diesem komischen Kerl (also mir) jetzt auf die Schnelle irgendwas zu Essen organisieren könnte. „Ach Micha, sonst müsst Ihr mal in der Küche nachfragen, ob die da schon was haben“, sagte sie an den Hasen gewandt. „Nee ist schon in Ordnung, ich brauch nichts“, sagte ich und hoffte, das wäre damit vom Tisch. Aber niemand hörte mich. Und so stritten die beiden ein wenig darum, dass ich irgendwas zu beißen kriegen könnte. Und ich sagte immer wieder, dass es schon in Ordnung sei. Es schaukelte sich ein wenig hoch und schließlich wurde auch der Hasenvater auf die Unruhe aufmerksam. „Was ist denn los?“, fragte er. Und auch wenn ich den Wortlaut nicht mitkriegen konnte, vermute ich, dass meine Schwiegermutter so etwas wie: „Der da hat Hunger“, sagte. Und mein Schwiegervater, der sich in diesem Moment noch der Hoffnung hingab, niemals mein Schwiegervater werden zu müssen (vielleicht blieb seine Tochter ja nicht so sehr lange mit diesem Hungerhaken zusammen), sagte: „Es gibt noch nichts. Sonst müsst Ihr zu Leinemann fahren und Euch ne Bratwurst holen.“ Leinemann muss man wissen, war damals eine Imbisskette, die es im Großraum Göttingen gab und bei der man vor allem Bratwurst bekam. Und in all den Jahren bin ich mit dem Hasen bestimmt hundert mal in diese Gegend gefahren und wirklich jedes Mal wurde mir vom Hasen erklärt, dass es hier Leinemann gäbe und dass man da immer so lecker Bratwurst bekäme. Ein paar seltene Male haben wir auch mal eine Wurst da gegessen. Die war auch lecker, aber nicht leckerer als bei anderen Imbissen.
Jedenfalls lag diese Aussage mit Leinemann in der Luft und hungrig wie ich war, sah ich ein paar Bratwürste auf mich zuschweben, die den gröbsten Hunger stillen würden. Aber ich wollte ja nicht auffallen, was natürlich schon nicht mehr möglich war. Deswegen wollte ich nicht noch mehr auffallen und schon gar nicht das Missfallen meiner Schwiegereltern auf mich ziehen. Also ploppten die Bratwürste wieder weg und ich log: „Nee echt, ich komm schon klar. Wir müssen nicht von dieser Feier weg, um mir irgendeine Bratwurst zu holen. Das ist wirklich in Ordnung so.“ „Aber Matthias, wenn Du so einen Hunger hast, dann fahrt doch eben“, sagte meine Schwiegermutter, die sich anscheinend meinen Namen doch merken konnte. Ich wiegelte ab und der Hase sagte: “ Du weißt auch nicht was Du willst.“
Es lag eine gewisse Unruhe im Raum und ich nahm mir erstmal einen Begrüßungssekt, der von ein paar netten Angestellten angeboten wurde. Zwei Schluck davon auf nüchternen Magen und schon leuchtete ich wie eine rote Ampel. Ich nahm noch ein zweites Glas und war schon sofort beschwipst. Das ließ ich mir natürlich nicht anmerken. Zumindest hoffte ich, dass man es mir nicht anmerken würde. Tja, und dann trudelten so langsam die Gäste ein. Nach relativ kurzer Zeit war der Saal, der ein großer Saal war, voll bis unters Dach. Und ich dachte so, mannoman, hier feiert ja das ganze Dorf mit. Da ahnte ich noch nicht, dass es nicht das ganze Dorf war, sondern die Verwandtschaft vom Hasen.
Es war auch schwer für mich dem Ganzen zu folgen. Drei Sekt hatten mich in eine Unaufmerksamkeitsphase gebracht. Deswegen war ich auch nicht ganz bei der Sache, als mir die Gäste, die in kleinen Gruppen eintrafen, alle vorgestellt wurden. Wie Schall und Rauch wurden mir Namen um die Ohren geworfen und ich nickte, sagte guten Tag und wusste gleich danach nicht mehr, ob es gerade Onkel Rudi, Onkel Karl oder Tante Ilse waren, deren Hände ich gerade überschwänglich geschüttelt hatte. Wobei ich natürlich eine grobe Unterscheidung zwischen Onkeln und Tanten machen konnte. Mir wurde nach der zweihundertsten Hand so langsam schwindelig. Und so war ich auch sofort offen für den Vorschlag vom Bruder des Hasen, der meinte, ich sollte doch mal die blöde Plörre (also den Sekt) weglassen und endlich mal Bier trinken. Der Mann spricht meine Sprache dachte ich.
Also gingen wir zum Tresen und bestellten Bier und eine unübersichtliche Anzahl an Onkeln hatte sich hier zusammengefunden, um genau dasselbe zu machen. Grundsympatisch die Männer. Und nach kurzer Zeit war ich irgendwie mittendrin. Jeder Biertrinker wird es kennen, steh an der Theke mit anderen Biertrinkern und Du hast sofort viele neue Bekannte. Und so entwickelte sich gerade hier ein unfassbarer Lärmpegel und ich sprach mit Rudi, Friedel, Karl und ich weiß nicht, mit welchen Onkeln und männlichen Verwandten noch. Und ich merkte, ich verstehe eigentlich nur jedes zweite Wort. Was angesichts des Lärms und meines Alkoholpegels allerdings nicht weiter verwunderlich war.
Und so rettete ich mich mit einer ungewissen Anzahl an Hopfengetränken bis zum Kaffee. Der ersten Mahlzeit an dieser Feier und ich stürzte mich sofort auf den Kuchen, obwohl mir Hackfleisch oder eine Bratwurst von Leinemann viel lieber gewesen wäre. Aber ich hatte unfassbar Hunger und außerdem die Lampen auch schon ganz schön an. Wenn ich nicht bald irgendwas aß, hätte es sich damit erledigt gehabt, hier einen grundsoliden Eindruck zu erwecken. Der Kuchen war lecker und bekämpfte den Hunger und die Bierumnebelung lichtete sich ein bisschen. Der Hase hüpfte vergnügt von einem Verwandten zum nächsten und ich musste mithüpfen. Mein Gedächtnis speicherte weitere Namen wie Inge, Wolfgang, Dieter, Martina, Roswita und viele weitere ab. Am Ende des Nachmittags hatte ich die Verwandten so ziemlich durch und das Gefühl, dass hier beinahe sämtliche existente Vornamen genannt wurden. Ein ganzes Vornamenbuch in einem Saal.
Erst Jahre später erschloss sich für mich, dass meine Schwiegermutter sieben Geschwister hatte und dass diese natürlich auch Kinder hatten, die eventuell damals auch schon Kinder hatten. Wer sollte da bitteschön noch durchsteigen. Die Feier ging nahtlos vom Kaffee in ein weiteres Bierintermezzo über, bis dann das Abendessen aufgetischt wurde. Und das reichhaltig. Hausmannskost, wie es sie damals überall in den Landgasthöfen auf den Dörfern gab. Ein Riesenbuffet mit Suppen, warmen und kalten Platten und das alles in Mengen, die für mindestens eine weitere Feier gereicht hätten. Der Kuchen hatte bei mir nur kurzfristig vorgehalten, weswegen ich austarierte, wie weit man einen Teller mit Schnittchen, Fischfilets und Frikadellen befüllen kann, ohne, dass der ganze Kram umfällt. Dem Hasen war es ein bisschen peinlich. „Pack doch noch mehr drauf“, sagte sie ein bisschen schnippisch. Ich, der ich bei meinem Pegel nicht mehr die feinen Grenzen zwischen Ernst, Ironie und Sarkasmus zu erkennen in der Lage war, packte einfach noch ein paar Kleinigkeiten zusätzlich auf den Teller. Der Hase rollte mit den Augen und so manch ein Onkel, mit dem ich schon eine Bierbruderschaft eingegangen war, nickte anerkennend.
Die Stimmung war insgesamt sehr gelöst und selbst meine Schwiegermutter taute so langsam auf und saß inmitten ihrer Geschwister, deren Kindern und Kindeskinern. Und fühlte sich augenscheinlich wie ein Fisch im Wasser. Es war ein infernalisches Stimmengewirr, dass aufbrandete und jeder musste immer lauter reden, damit sein Nebenmann, seine Nebenfrau ihn überhaupt verstehen konnte. Und so kam es zu den irrsinnigsten Gesprächsfetzen, die sich den Weg bis zu meinen Ohren bahnten. „Echt heißes Wetter.“ sagte der eine. „Nein, meine Frau wird nicht immer fetter“, antwortete der andere, „sie wird nur nicht mehr größer.“ Aber es erging mir genauso. Ich stand mit Karl oder Friedel oder sonstwem (ich kannte sie ja noch nicht) an der Theke und sie sagten irgendwas, das ich nicht verstand. Und ich stand vor dem Problem, dass ich manchmal antworten musste. Antworten auf eine Frage, die ich nicht verstanden hatte. Und das ist ja immer eine Art Lotteriespiel. Soll man mit ja, oder mit nein antworten? Das kann sehr richtig, aber auch genauso sehr falsch sein. Und so rettete ich mich mit einem „vielleicht“ durch den frühen Abend.
Mittlerweile hatte sich Deutschlands wohl älteste D-Jane daran gemacht ihre Turntable aufzubauen und den Abend zu rocken. Die Gute war mindestens so alt wie die Großeltern vom Hasen und, wie ich später erfahren habe, die Vertretung des eigentlich gebuchten DJ. Wahrscheinlich war es seine Urgroßmutter. Ihre Playlist umfasste sämtliche Smashhits aus ihrer längst vergangenen Jugend und wenn es mal moderner werden sollte, dann gab´s aktuelle Schlager. Gänsehautmomente für mich, aber nicht im positiven Sinne. Und weil sie selbst des Höhrens nicht mehr so richtig mächtig war, wurde das Ganze auch gern etwas lauter abgespielt. Und so zerschmetterte mir Roger Whittaker mit dem scharfen Schwert des Abschieds gerade die Gehörgänge, als Friedel mir etwas sagte und ich, bedingt durch meinen soeben erworbenen Tinitus wieder einmal kein Wort verstand. Was ich damals aber nicht ahnte war, dass es nicht am Pfeifen in den Ohren lag. Es ist vielmehr ein grundsätzliches Problem, das nichts mit meinem Gehör zu tun hat.
Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht wusste war, dass es in Deutschland eine zweite Amtssprache gibt: Das Wellhausisch. Wellhausen ist der Geburtsname meiner Schwiegermutter und zumindest die männlichen Mitglieder dieser Familie haben eine eigene Sprache entwickelt. Es ist Deutsch. Also auf den ersten Blick, auf das erste Hören hin, ist es Deutsch. Aber Wellhausisch verzichtet gerne auf komplett ausformulierte Worte. Nicht jeder Vokal und Konsonant muss in seiner ganzen Pracht gesprochen werden, damit sich zwei Vertreter dieser Spezies schon verstehen. Es ist wie gesprochene Stenographie. Für den Ahnungslosen so verständlich wie Mandarin oder Kantonesisch und für die Eingeweihten eine viel direktere Konversationsform. Und wie mir ebenfalls später aufgefallen ist, vererbt sich Wellhausisch auch auf weitere Generationen. Der Hase und ihr Bruder können sich auch mitunter so unterhalten, dass es einem Außenstehenden nicht leicht fällt, dem zu folgen was gesagt wird. Es reichen auch gerne mal ein paar Grunzlaute, um einfache Sachverhalte adäquat darzustellen.
Wellhausisch besticht dadurch, dass es auch immer ein wenig so klingt, als wenn man eine Scheibe Brot im Mund hätte. Im Laufe der Jahre habe ich immer vergeblich gehofft, dass für mich auch mal Untertitel eingeblendet würden, wenn Onkel Karl mir erklärt, dass seine Tochter im Norden, bei uns in der Nähe wohnen würde, oder Onkel Wolfgang mir berichtet, wie er beim Hausbau die Heizungsanlage komplett selbst eingebaut hatte. Aber man lernt. Man entdeckt ein paar wiederkehrende Muster, die man dann auch echten Worten zuordnen kann. Und irgendwann ist man soweit, dass man das Wellhausisch in seiner Grundform soweit versteht, dass man aktiv an Gesprächen teilnehmen kann. An diesem Abend, auf dieser Silberhochzeit war ich jedenfalls noch weit entfernt davon und konnte nur hoffen, dass ich nicht in allzu viele Fettnäpfe getreten bin.
Die Feier ging zu Ende und alle hatten sich köstlich amüsiert. Ich hatte niemanden so weit beleidigt, als dass er mir einen auf die Mütze hätte geben wollen und war darüber sehr erleichtert. Der Grundstein für eine Vielzahl an Feiern, die noch kommen sollten und bei denen ich immer mehr Zugang fand. Diese Zeiten sind aber so ziemlich um. Die Feiern werden seltener und sind nicht mehr so ausschweifend. Der Lauf der Dinge. Trifft man sich sonst immer zu runden Geburtstagen, Hochzeiten, Silber- oder Goldhochzeiten, Jubiläen, so werden es irgendwann nur noch Beerdigungen sein, die die große Verwandtschaft zusammenführen. Aber das war damals noch egal. Und als der Hase und ich uns von ihren Onkeln verabschiedet hatten, fragte Friedel seinen Bruder Wolfgang: „Wi fannsndn?“ (Was im Hochdeutschen soviel heitßt wie: „Wie fandst Du denn den?“ und mit „den“ war natürlich ich gemeint). Und Wolfgang antwortete: „Joa.“ (Was dann hieß: „Eigentlich war er ja ganz nett, aber er hat immer so undeutlich gesprochen).