Wenn ich mit dem Hasen videotelefoniere und das mache ich gefühlt alle zwanzig Minuten, weil der Hase wissen will, ob es mir gut geht, also wenn wir kommunizieren, dann sieht mein Gesicht recht merkwürdig aus. Mein Gesicht sieht eigentlich immer recht merkwürdig aus. Ich habe eine kubistische Kopfform und mein Gesicht ist wie ein rechteckiger Schuhkartondeckel mit Nase, Augen Mund und Ohren. Und Haaren natürlich, die hätte ich beinahe vergessen. Doch momentan sieht mein Gesicht noch komischer aus, wenn ich in diese Kamera blicke. Es ist signalrot. Wenn ich mal sterbe, kann ich meine Gesichtshaut der Forschung vermachen, die daraus organische Leuchtmittel herstellt. Es ist wirklich unnatürlich leuchtend rot und der Hase macht sich Sorgen. Ich mir auch ein bisschen welche, denn die Farbe würde Fieber im dreistelligen Bereich vermuten lassen. Also messe ich und kann erleichtert feststellen, dass es nur bei 37,9°C liegt.
„Das ist kein Fieber“, sagt der Hase. Fieber ginge erst ab 38°C los. Das habe ich in meiner Kindheit anders gelernt, da sagte man, ab 37°C hat man Fieber. Aber das ist natürlich Haarspalterei. Ich empfinde die Temperatur als zu hoch und der Hase gibt mir Recht. Also doch Fieber? Nein, das wäre immer noch ab 38°C. Wir kommen irgendwie auf keinen gemeinsamen Nenner, können uns aber darauf einigen, dass ich doch irgendwie krank bin. Ich fühle mich schließlich auch so. Aber ich muss mal ganz deutlich sagen, wenn ich daran denke, was bei Corona für Krankheitsverläufe möglich sind, dann ist das was ich habe, Kleinkindergeburtstag mit bunten Ballons und ganz viel Kuchen. Erkältete Grippe könnte man das nennen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und weil ich ja alt bin und mit der Pumpe zu kämpfen habe, ist der Hase beunruhigt und verordnet mir ganz viel Ruhe. Die habe ich mir auch verordnet und wenn man mich fragen würde, wie es mir geht, dann würde ich sagen: „Wenn ich so liege, dann gehts!“
Es ergeben sich für mich zwei existentielle Fragen. Wie wird der Verlauf sein? Ist das erst der milde Anfang, bevor es dann erst richtig zur Sache geht? Werde ich noch echtes Fieber kriegen? Muss ich in Behandlung? Werde ich meine Geschmacksnerven verlieren. Oder, was noch schlimmer ist, werde ich meinen Appetit verlieren? Nun gut, das waren jetzt sechs Fragen, aber man sieht schon, in welche Richtung das geht. Man hört ja immer so viel. Viele Geschichten von Leuten, die gar nichts haben und der dazugehörige Partner halbtot ist. Leute, die erst keine Symptome haben und dann mit Langzeitfolgen zu kämpfen haben. Die weitaus schwierigere Frage ist, ob ich nun immer diesen hochroten Kopf behalten werde.
Aber es ist blinder Alarm. Ich kommuniziere über den Laptop und die Kamera holt dabei ein bisschen mehr Farbe raus, als es eigentlich der Fall ist. Ein Blick in den Spiegel bestätigt meine Annahme: Schuhkartondeckel mit leicht rötlicher Färbung. Das Rot ist so, wie man bei einem milden Krankheitsverlauf ein rotes Gesicht erwartet. Dazu die glasigen Augen und die dicken Tränensäcke, die wie die geschwollenen Hoden eines sexuell unterforderten Kamelmännchens herunterbaumeln, lassen mich aussehen, wie Horst Tappert auf Kriegspfad mit den Apachen. Vielleicht hat man mich deswegen in Quarantäne gesteckt. Damit mein Anblick keine kleinen Kinder erschreckt. Aber sonst geht es mir gut. Naja, fast gut. Ich habe das unbestimmte Gefühl von innen ausgehöhlt zu sein, weswegen ich einen enormen Appetit verspüre. Der Hase macht mir einen kleinen Teller mit geschmierten Broten zurecht. Aber das ist jetzt nicht ganz richtig ausgedrückt, denn es ist eher ein kleines Kunstwerk des Abendessens, was sie mir vor die Tür stellt. Belegte Brote, mit Gurken oder Senf verziert. Dazu noch ein paar kleine Wurstscheibchen schmuckvoll angerichtet. Es sieht echt toll aus. Beschließe häufiger in Quarantäne zu gehen.
Eine Schlappheit, die mich im Rest des Tages nur heimsuchte, wenn ich in Bewegung war, macht sich nun auch im Liegen breit. Ich streame eine Serie, die insgesamt 151 Folgen hat und nach den ersten vier Folgen bin ich nun kaputt. Ich mache den Fernseher aus und begebe mich in Schlafposition. Es folgt eine sehr sehr unruhige Nacht. Ich schlafe nur in kurzen Etappen von höchstens 40 Minuten, was in etwa der Länge einer Serienfolge entspricht. Manchmal im Schlaf erscheint diese Serie mir und ich beginne mir die Handlung neu zu erträumen, bis sie mir dann doch richtig gefällt. Manchmal erwache ich von meiner eigenen Geräuschkulisse. Entweder ich stöhne und ächze, oder aber ich schnarche.
Dass ich schnarche ist eigentlich nicht ungewöhnlich, denn als vollschlanker alter Mann, schnarche ich häufiger. Sehr zum Leidwesen des Hasen, der mich dann immer mit schöner Regelmäßigkeit in die Seite knufft. Sehr zu meinem Leidwesen, weil ich dann immer wach werde und nicht mehr einschlafen kann. Aber dieses Schnarchen hier ist anders. Ich schnarche beim Ausatmen. Und das so laut, dass ich mir selbst in die Seite knuffe (der Hase liegt ja ein Zimmer weiter) und deswegen auch schlecht schlafen kann. Die Temperatur steigt auf 38,4°C gegen zwei Uhr morgens und ich würde am Liebsten den Hasen anrufen und verkünden: „Tadaaa, doch Fieber!“ Mache ich jetzt aber nicht. Irgendwann beginnt es zu dämmern und ich kann einfach nicht mehr schlafen und ich lausche dem Konzert der ersten Vögel, die mir auch mitteilen wollen, dass sie wach sind. Ich stelle mich ans Fenster und mache „Tschiep, tschiep“, um mich ebenfalls anzumelden. Und ich glaube man antwortet mir, aber ich bin nicht in der Lage zu verstehen, was die so sagen. Oder liege ich doch eigentlich im Bett und unterhalte mich nicht mit den Vögeln? Ich weiß nicht, irgendwie verschwimmen hier die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit. Ich wüsste nicht, wann ich das letzte Mal so von der Rolle war. Scheint eine der Covidfolgen zu sein. Oder bin ich immer so?
Mein Appetit ist ungebrochen und ich lechze schon nach dem Frühstück, welches um 5 Uhr morgens dann auch seinen Namen verdient hätte. Aber ich halte mich noch zurück und warte bis der Hase erwacht und mir die Sachen wieder vor meine Tür stellt. Zwei Scheiben Toast und ein Glas Honig, damit ich mir den Toast selbst schmieren kann. Was für eine Art Kurhotel ist das hier eigentlich? Schon bei der zweiten Mahlzeit lässt der Service eklatant nach. Ich sollte mich beim Manager beschweren. Na gut, eigentlich habe ich selbst gesagt, dass ich es so serviert bekommen möchte. Heldenhafterweise habe ich gesagt, dass ich schon groß sei und deswegen durchaus in der Lage, das Brot selbst zu schmieren. Ich möchte damit dem allgemeinen Vorurteil entgegentreten, dass wir Männer bei einer kleinen Grippe schon so tun, als würden wir mit dem Tode ringen. Das Messer in den Honig zu tunken und diesen dann auf das Toastbrot zu schmieren, stellt sich allerdings als weitaus schwerer heraus, als ich es im Vorfeld gedacht habe. Bis auf ein kleines Stöhnen lasse ich es mir aber nicht anmerken.
Natürlich hat der Hase dieses Stöhnen auch vernommen und sie fragt besorgt, ob alles gut bei mir sei. Seit ich vor Jahren meinen Schlaganfall hatte, ist der Hase immer mehr als besorgt um mich und fragt bei jeder Kleinigkeit nach, ob alles gut bei mir ist. Da reicht schon ein kleiner Räusperer, ein falsches Blinzeln oder ein tiefes Einatmen, sofort ist der Hase da und fragt nach mir. Selbst wenn der Hase eigentlich gar nicht da ist, ist er da und fragt. Es ist ein bisschen gruselig, aber natürlich kann ich die Sorgen ein bisschen verstehen. Wenn ich aber für jede besorgte Nachfrage 5€ bekommen hätte, bräuchte ich nicht mehr arbeiten. Nie wieder.
Wir nehmen die Quarantäne im Haus schon sehr Ernst. Vor allem, weil unser Sohn noch eine Prüfung in den nächsten Tagen vor der Brust hat und diese möglichst auch mitschreiben möchte. Also habe ich das eine Zimmer für mich und Niemand kommt hier herein. Einzig das Badezimmer nutze ich noch. Die notwendigsten Verdauungsmaßnahmen und die Grundsätze der einfachen Körperhygiene (früher dachte ich immer Hygiene ist ein lachender Steppenwildhund) kann ich noch aufrecht erhalten. So krank bin ich nun auch wieder nicht. Ansonsten ist der Rest des Hauses erst einmal tabu. Was nicht schlimm ist, denn auf große Entdeckungsreise möchte ich gerade nicht gehen.
Der Hase hat ein wenig Sorge, sich bei mir angesteckt zu haben, aber die Tests sagen, dass sie weiterhin negativ ist. Aber Ihre Arbeitgeber sagen, dass sie erstmal zu Hause bleiben soll, bis sie sich einig sind, wie man es am Besten regelt. Eine Vorsichtsmaßnahme, die zu freien Tagen beim Hasen führt. Und weil ja eine Infizierung ihrerseits immer noch nicht vom Tisch ist, geht sie unserem Sohn auch aus dem Weg und natürlich erst einmal auf Einkaufstour. Vorräte anlegen. Wer weiß, vielleicht sind wir bald alle weggesperrt und können erstmal nicht mehr einkaufen. Kein Hamsterkauf in dem Sinne, eher ein Hasenkauf. Was im Prinzip das Gleicht ist, nur mit einer größeren Produktvielfalt. Ich war aus logischen Gründen nicht dabei und auch beim Ausladen konnte ich nicht helfen, aber ich gehe davon aus, dass die Supermärkte, in denen sie gewesen ist, schon am Montagmorgen den Umsatz für zwei Wochen gemacht haben. Und Mehl und Speiseöl waren noch nicht einmal dabei. Ob es dabei in diesen Läden zu Tumulten gekommen ist, wurde nicht überliefert. Der Hase hat jedenfalls keine Prellungen oder blaue Augen.