Leerjahre…..Wenn der Start holpert, oder man hart stolpert….

Vieles im Leben wäre wahrscheinlich viel einfacher, wenn man die wichtigen Momente dann erkennt, wenn sie da sind. Wie oft habe ich im Nachhinein gedacht, wenn ich mich an der einen oder anderen Stelle anders entschieden hätte, wie wäre wohl mein Leben verlaufen? Aber habe ich wirklich die Wahl gehabt? Beruhen die Entscheidungen nicht darauf, wie die Umstände sind, wenn man diese Wahl trifft? Hätte ich beispielsweise wirklich anfangen müssen zu rauchen? Was war es genau, das mich dazu getrieben hat? Wäre ich noch am Leben, wenn ich nicht mit dem Rauchen aufgehört hätte? Oder wäre ich eigentlich nur schlanker? War es mir gar bestimmt, dass ich mal rauche werde? Besteht das Leben aus lauter Zufällen, oder ist der Lauf der Dinge vorgezeichnet?

Was wäre, wenn ich nie angefangen hätte Handball zu spielen? Hätte ich den Hasen trotzdem kennengelernt? Oder wären wir sowieso füreinander bestimmt gewesen? Wäre es unausweichlich gewesen, dass wir uns begegneten? Wären wir uns einfach nur so über den Weg gelaufen, hätten uns tief in die Augen gesehen und ich hätte gedacht: „Oh, ein Hase, das ist ja toll!“ und gesagt hätte ich: “ Hallo Du. Schönes Wetter heute.“ Und der Hase hätte mich kurz angesehen und gesagt: “ Du hast da einen Mitesser, darf ich den ausdrücken?“ (Der Hase hat einen Blick für sowas und drückt gerne an Mitessern rum). Wären das die ersten zarten Bande gewesen, die wir geknüpft hätten, oder hätte ich meinen Hasen, der noch nicht mein Hase gewesen ist, in der Disco auf der Tanzfläche angesprochen? Viel mehr Konjunktiv ginge ja kaum, es sei denn ich würde es wollen.

Letzteres ist eher unwahrscheinlich. Denn erstens wäre ich nie auf der Tanzfläche gewesen und wenn, dann bestimmt nicht nüchtern. Und zweitens hätte ich niemals eine fremde Frau angesprochen. Wie denn auch? Ein unvermittelter Kontakt zu ihnen ließ meinen Wortschatz, wie bereits angedeutet, auf: „Hallo Du:“ oder: „Schönes Wetter heute.“ zusammenschrumpfen. Nur in Sonderfällen hätte ich meine komplette eloquente Breitseite abgefeuert und beide Bausteine meiner Redegewandtheit rausgehauen. Der Hase wäre unbestritten ein solcher Sonderfall gewesen. Da lässt man sich nicht lumpen und zeigt sich von seiner poetischen Seite. „Hallo Du. Schönes Wetter heute.“

Der Stoff aus dem lange Beziehungen entstehen könnten. Wer weiß, vielleicht wäre es dann auch bei uns so gewesen. Mir gefällt einfach der Gedanke, dass ein Mensch das Schicksla eines anderen Menschen sein kann. Letzten Endes musste aber eine Verkettung von Umständen bemüht werden, bis meine Hase und ich uns kennenlernen durften. So in etwa wie, dass die beste Freundin des Hasen mit jemandem zusammen war, der in derselben Mannschaft Handball spielte wie mein Cousin und ich, und der Hase zunächst ein paar lockere Dates mit eben jenem Cousin hatte, bevor ich ins Spiel kam, meinen natürlichen Charme spielen lassen konnte und des Hasen Herz gewann. Also, wo wären wir, also der Hase und ich, ohne Handball gewesen? Und das obwohl der Hase nie Handball gespielt hat. Naja, ich eigentlich aus nicht so richtig. Ich habe 35 Jahre so getan, als ob. Also war es der eigentliche Grundstein unserer Ehe, dass ich mit rund 13 Jahren auf die Idee gekommen bin, mit einer Handball AG anzufangen. Damit hatte ich die Weichen gestellt, unwissenderweise natürlich. Das war demnach eine sehr wichtige Entscheidung.

Aber, auch wenn es verwundern mag, mein Leben besteht nicht nur aus meinem Leben mit dem Hasen. Es gibt da noch etwas anderes, was mich immer wieder und immer langwierig beschäftigt. Meine Beschäftigung nämlich. Oder anders gesagt, die liebe Arbeit. Und manchmal sitze ich und frage mich, wie hat das alles den irgendwann mal angefangen? Und wenn meine Entscheidung für den Handball und indirekt damals schon für den Hasen bedeutend war, Dan war sie genauso wichtig wie der Tag an dem ich meinen Ausbildungsvertrag unterschrieben hatte. Wobei ich mich gar nicht so genau daran erinnern kann, ihn unterschrieben zu haben. Aber an das Vorstellungsgespräch in dieser Firma, daran kann ich mich zumindest ein bisschen erinnern. Es war zustande gekommen, weil ich damals über 40 Bewerbungen geschrieben hatte, um einen der rar gesäten Ausbildungsplätze zu ergattern.

Und weil mein Bundeskanzler damals jedem arbeitswilligen Jugendlichen eine Lehrstelle versprochen hatte, war man im Umkehrschluss nicht arbeitswillig, wenn man keine bekam. Da es weitaus mehr Bewerber als offene Stellen gab, war das Schreckgespenst, keinen Platz zu bekommen und damit auch irgendwie nutzlos zu sein, allgegenwärtig. Auf die Idee, dass man vielleicht auch mal ein Jahr warten könnte, um dann zu sehen, was sich bis dahin auftut, wäre man nie gekommen. Herumlungern nach Abschluss der Schule gab es nicht. Einen mehrmonatigen Auslandsaufenthalt hatte noch nie irgendjemand gemacht. Arbeitslosigkeit war ein Makel und nur Versager würden keine Arbeit finden. Und wer wollte schon ein Versager sein? Deshalb die vielen Bewerbungen.

Eine Bewerbung schreiben war in diesen analogen Zeiten kein leichtes Unterfangen. Vierzig davon waren ein nie endender Alptraum. Entweder man machte das von Hand, wobei eine schöne Handschrift schon die halbe Miete war, oder mit Schreibmaschine. Und ja, ich hatte eine Handschrift, aber es war besser, wenn ich dieses Wissen lieber für mich behielt. Schön war etwas anderes und bis heute hat sich daran nichts geändert. Ich vermute dass ich kein Einzelfall war. Ich kannte aus meinem näheren Umfeld eigentlich keinen Jungen, oder jungen Mann mit einer ansprechenden Handschrift. Ich befand mich demnach in bester Gesellschaft.

Also musste ich meine Bewerbungen mit einer Schreibmaschine schreiben. Meine Schwester hatte eine und ich hatte in der Schule „Maschinenschreiben“ ein Jahr lang als Fach gehabt. Ein Jahr, in dem ich meine Lehrerin zur Verzweiflung brachte und mich ebenfalls. Blind sollten wir schreiben können, weswegen wir die Tastatur mit einem Blatt abdeckten und dann sollten unsere Finger die richtigen Buchstaben ertasten. Ein Ding der Unmöglichkeit. Es war schon schlimm genug, wenn ich die Tasten sehen konnte. Außerdem sollten wir mit allen zehn Fingern schreiben. Wer hatte sich nur so etwas ausgedacht? Es war außerdem auch anstrengend. Mit dem kleinen Finger das „Ü“ zu bedienen, war schon etwas für Durchtrainierte.

Schreibmaschinen, liebe Kinder, waren Apparate, mit denen man schreiben konnte. Im Prinzip so wie die Tastatur auf dem Laptop, nur viel mühsamer und ohne verschiedene Schriftarten und vor allem ohne Korrekturmöglichkeit. Wenn der Finger die richtige Taste fand, dann musste er sie mit einer gewissen Gewalt niederdrücken. Dadurch wurde ein mechanischer Vorgang gestartet, in dessen Verlauf eine Art Hebel, an dessen oberen Ende ein Buchstabe in Spiegelschrift als eine Art Matrize angebracht ist, in Bewegung gesetzt wurde. Der Hebel schnellte in Richtung eines Blattes Papier, dass in die Maschine eingespannt wurde und über eine gummierte Walze Stück für Stück durchgezogen wurde. Diese Walze befand sich auf einer Art Schlitten, der mit jedem Buchstaben, oder jeder Leertaste ein Stück weiter bewegt wurde. Der Buchstabe am Ende des Hebels war aus Metall. Damit er nun einen farbigen Abdruck auf dem Papier hinterlassen konnte, wurde er mit dem Schwung, den der Finger erzeugte, gegen das Blatt gedrückt, vor dem ein Farbband war. Der Druck des Buchstabens löste Partikel aus dem Farbband, die sich auf dem Papier als Abdruck des Buchstabens niederließen. Das waren Schreibmaschinen und sie hatten nicht einmal einen Bildschirm. Und wenn ich frustriert war (das war ich im übrigen recht häufig beim Maschinenschreiben), dann drückte ich alle Finger auf einmal runter und die Hebel mit den Buchstaben verhakten sich. Sie haben sich oft verhakt.

Eine Schreibmaschine verzeiht keinen Fehler. Wenn der Buchstabe auf dem Papier ist, dann ist er auf dem Papier, weswegen es unerlässlich ist, keine Fehler zu machen. Erst Recht nicht bei einem Bewerbungsschreiben. Es gab zwar Tippex, so eine Art Korrekturmittel, das man über den Fehler pinseln und die Stelle dann neu beschreiben konnte, aber das war auch nur bedingt eine Lösung.. Ein Heidenaufwand und wenn man genau hinsah, erkannte man auch, dass an der Stelle korrigiert wurde. Es entstand ein kleiner weißer Fleck. Und wenn man mal einen davon in seiner Bewerbung hatte, dann ging das noch. War nicht so prickelnd aber noch kein Weltuntergang. Fünf davon waren schon bedenklich und wenn man noch mehr hatte, musste man die Bewerbung neu schreiben.

Da ich jede Bewerbung mindestens fünfmal neu schreiben musste, bin ich letztendlich auf 200 Versuche gekommen. Das ist jetzt aber auch nur eine grobe Annahme. Die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich noch weit darüber. Ich gehe von eher Tausend Versuchen aus. Und abgesehen davon, dass man für mich einen halben Wald fällen musste, war mein Nervenkostüm recht dünn in diesen Zeiten und ich rauchte unfassbar viel, um den Stress zu bewältigen. Was natürlich nicht gelang, aber man konnte sich trotzdem ein Stück weit einreden, dass der blaue Dunst beruhigend wirken würde. Der Text meiner Bewerbung war nach einem Baukastensystem formuliert worden und hatte in etwa so viel Leben in sich, wie ein überfahrener Igel. Ich glaube alle haben so ihre Texte in Bewerbungen geschrieben. Das hatte schon eine gewisse Ähnlichkeit zu den Standardtexten, die man in Poesiealben geschrieben hat. Mit dem Geha Füller auf Bleistiftlinien, die Mutter gezogen hatte und die danach wieder wegradiert wurden.

Wenn man denn nun so viel Arbeit in seine Bewerbungen investiert hatte, dann hatte man auch die Erwartungshaltung, dass dieser Einsatz zumindest so weit honoriert wird, dass die angeschriebenen Firmen, Unternehmen oder Behörden sich zumindest zurückmeldeten, auch wenn es nur eine Absage ist. Naja, hat jetzt nicht jeder gemacht. Manch eine Firma oder Behörde zog es vor, sich einfach mal gar nicht zu melden. Von denen, die es doch taten, waren die meisten Absagen. Man habe einen anderen Bewerber vorgezogen und wünsche mir Glück auf dem weiteren Lebensweg. Sogar für eine Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten, beim Landkreis hatte ich mich beworben. Ausgerechnet ich. Ich glaube, dass es kaum zwei Sachen gibt, die weiter voneinander entfernt waren, als ich und eine Verwaltungstätigkeit. Von morgens bis abends Formulare ausfüllen und Dinge in dicke Ordner abheften. Es gruselte mich schon bei dem Gedanken, aber ich war nicht in der Position großartig wählerisch sein zu können. Dafür war das Zeugnis zu schlecht. Weswegen ich beim Landkreis auch nur bis zu einem ersten Einstellungstest gekommen bin. Über 400 Leute hatten sich für 25 Stellen beworben und rund 200 von ihnen kamen zum Test in mehreren Gruppen.

Es war also kein großes Wunder, dass man mich nicht genommen hatte. Einen weiteren Einstellungstest hatte ich bei Krupp Atlas in Bremen als Feinmechaniker. Was auch immer ein Feinmechaniker so zu tun hatte, ich war bereit es zu tun. Auch hier gab es wenige Stellen und überbordend viele Bewerber. Da war es schon ein sehr gutes Zeichen, dass ich überhaupt in die Runde der Testkandidaten gekommen war. An viele Dinge, die mit diesem Test zusammenhingen, kann ich mich nicht mehr erinnern. Nur dass wir Testlinge aus einem Draht ein Gebilde biegen sollten, das in etwa einem Kleiderbügel ähnelte, das habe ich behalten. Und ich hatte auch verstanden, was man damit erkennen wollte. So etwas wie Fingerfertigkeit könnte ja wichtig sein für einen Feinmechaniker.

Aber dass wir vier Bilder zeichnen sollten, das wollte mir nicht ganz in den Kopf. Wir sollten einen Menschen, ein Fahrrad, eine Streichholzschachtel und noch irgendwas völlig Abstruses, das ich allerdings auch wieder vergessen habe, zeichnen. Und ich war damals ganz gewiss kein rebellischer Mensch oder jemand, der an der Theke im Saloon zu viele Fragen stellte, aber hier konnte ich mal nicht anders. Es brannte mir unter den Nägeln. Ich musste unbedingt wissen, warum meine Zeichenkünste entscheidend für diesen Job sind. Der Prüfer war auch nicht begeistert davon, dass hier überhaupt irgendwer irgendwas fragt. Er wollte eigentlich nur schnell durch sein mit dem ganzen Kram. Ich glaube er mochte mich vom Augenblick meiner Frage an, nicht mehr so richtig. Es hätte etwas damit zu tun, dass man anhand der Zeichnungen sehen könne, wie weit die Persönlichkeit eines Bewerbers ausgeprägt sei. Es ginge nicht darum, wie gut die Zeichnungen seien, sondern was sie ausdrückten. Ich denke meine Exponate drückten eine gewisse Verzweiflung aus und wundersamerweise kam ich nicht mehr ins weitere Bewerbungsverfahren.

Von den vielen vielen Bewerbungen bekam ich also entweder keine Rückmeldungen oder Absagen oder Einladungen zu Tests und dann Absagen. In seltenen Fällen durfte ich mich sogar persönlich vorstellen. Die potentiellen Berufe waren dabei breit gefächert. Ich hatte keine Ahnung, was ich gerne machen würde. Nun gut, vielleicht Musik auf Partys auflegen, was aber kein anerkannter Lehrberuf und somit sofort aus dem Rennen war. Ich verspürte auch eine gewisse Neigung zu schreiben. Aber das einzige was dem nahe gekommen wäre, war Journalist oder Redakteur und dafür hätte ich studieren müssen und dafür hätte ich ein Abitur haben müssen. Von dem war ich allerdings mehr als weit entfernt. Ich hatte mit Ach und Krach eine höchst durchschnittliche Realschulkarriere hingelegt. Also waren meine beiden geheimen Wünsche nichts weiter als Phantastereien. Besonders weil ich damals ein paar Sachen geschrieben hatte, die nüchtern betrachtet fürchterlich waren und das war schon das Beste, was ich hinbekam. Bis auf ein paar wenige Ausnahmen. Der Wille allein ist noch kein Talent und für den Lebensunterhalt würde es nie reichen, soviel war sicher.

Ich hatte aber auch immer eine gewisse Affinität zum Handwerk, auch wenn ich zwei linke Hände hatte und ziemlich ungeschickt in diesen Dingen war. Mein Vater war Zimmermann und konnte so ziemlich alles bauen, was man aus Holz bauen konnte und das habe ich immer an ihm bewundert. Es musste toll sein, so etwas zu können. Also bewarb ich mich auch in diese Richtung. Jetzt nicht gerade Zimmermann, weil die ja immer auf Dächern rumturnten und das war mir ein bisschen suspekt. Man hätte ja schließlich runterfallen können. Aber das Handwerk im Allgemeinen war ein gewisser Schwerpunkt in Meinen Bewerbungen. Dass ich in diesem Bereich von Tuten und Blasen keinen Schimmer hatte und auch während meiner Schulzeit im Werkunterricht nicht gerade durch Talent geglänzt hatte, hielt mich nicht davon ab, hier einen Fuß in die Tür kriegen zu wollen. Es waren schließlich ein paar Handwerksfirmen, bei denen ich zum Einstellungsgespräch geladen wurde. Eine ziemlich aufregende Sache, weil man da direkt auf die Fragen antworten musste. So Zeug wie: Was interessiert Dich an diesem Beruf? Hast Du schon ein paar Erfahrungen? Kennst Du grundsätzlich ein paar Werkzeuge?

Und wenn ich ehrlich bin, dann hat mich nichts wirklich besonders interessiert. Ich wollte nur nicht auf der Straße sitzen und möglichst mein eigenes Geld verdienen. Und Handwerk fand ich zwar toll, aber ich hätte auch auf Arbeit grundsätzlich verzichten können. Wie dem auch sei, ich hatte viel Arbeit in meine Bewerbungen investiert. Widerwillig und manchmal bestimmt auch nicht besonders schön, aber der Aufwand war groß. Und das Ergebnis, dass am Ende all dieser Bemühungen stand, war…..Nichts…das rein gar Nichts…..das sowas von überhaupt Nichts…..Ich hatte das Los gezogen. Das Arbeitslos. Keine Lehrstelle und keine Möglichkeit weiter zur Schule zu gehen. Ich war das Kassengift, war nicht erwünscht auf dem Arbeitsmarkt und ich glaube es war keine leichte Zeit für meine Eltern. Für mich jedenfalls war sie auch nicht gerade einfach. Eigentlich hatte irgendwie jeder noch die Kurve gekriegt und irgendeinen Job ergattert. Selbst die größten Deppen hatten einen Vertrag in der Tasche. Genaugenommen hatte ich meinen Berufswunsch erfüllt, denn ich hatte ja eigentlich keinen, aber ich würde kein Geld haben, das nervte dann doch.