Von Inseln, alten Männern und Bügeleisen….oder Home, sweet Home

Was haben Gisela Schlüter, Dieter Thomas Heck und ein Hase, der furchtbar in Eile ist, gemeinsam? Sie sind die am schnellsten sprechenden Menschen, die ich kenne. Bisher zumindest. Denn alle drei wurden nun locker in die Tasche gesteckt. Von einer Frau mit leicht osteuropäischem Akzent. Einer Ärztin, wie ich vielleicht noch erwähnen sollte. Also keine von diesen „Ruf mich an!“ Hotlines. Mit ihr habe ich telefoniert und die Fakten für einen eigentlich zweistündigen Vortrag innerhalb von 7 Minuten und 23 Sekunden präsentiert bekommen. Wobei ich zwischendurch noch ein paar Fragen stellte, die sie obendrein auch noch beantwortete. Es war erstaunlich und beeindruckend zugleich. Und auch ein bisschen beängstigend, weil ich dachte, sie habe keine Zeit zum Atmen. Da eine Ohnmacht am anderen Ende der Leitung ausgeblieben ist, vermute ich, dass sie entweder sowas wie Kiemen hat, oder nicht darauf angewiesen ist, immer Luft zu holen.

Nötig geworden ist dieses denkwürdige Telefonat, weil meine bisherige Vorhofbehandlung leider nicht von Erfolg gekrönt war. Schon ein paar Tage nach der Entlassung kam mir mein Puls seltsam vor und mein Hausarzt bestätigte per EKG die Ahnung. Worauf ich mich wieder beim Krankenhaus gemeldet habe. Und nun liege ich wieder auf derselben Station im selben Zimmer auf demselben Platz. Es ist ein Stück weit wie Heimkommen. Das Zimmer, der Platz, alles ist dasselbe, nur die Bewohner haben gewechselt. Und ich habe jetzt schon, es ist gerade mal 18 Uhr, größte Befürchtungen für die kommende Nacht. Aber eigentlich sollte ich gar nicht hier sein. Oder aber nur für eine Nacht. Oder aber auch nur für ein paar Stunden. Aber nein, ich habe das Premiumabo gebucht und bleibe drei Nächte. Und in meinem Kopf habe ich den Ohrwurm „Drei Tage wach!“ von SDP. Ich habe ein ähnliches Schicksal zu befürchten und dabei nicht einmal einen Bruchteil von Spaß, Musik und Alkohol zu erwarten. Letzteren gibt es nur als Desinfektion und der schmeckt fürchterlich.

Doch zurück zu den Anfängen. Nachdem klar war, dass mein EKG nicht so aussieht, wie ein EKG sonst so aussieht, war ebenso klar, dass man irgendwas machen musste. Die Entscheidung fiel schnell und eine Elektrokardioversion war das nächste Mittel, was man im Köcher hatte. Die hatte ich ja schon vor knapp zwei Jahren bekommen und ist diesmal als ergänzende Therapie gedacht. Also mit einer Art Defibrillator wird das Herz zum Stillstand gebracht und dann wieder in Gang gesetzt. Meine Vorfreude hielt sich zwar in Grenzen, aber watt mutt, datt mutt. Wie man so sagt. Man würde sich noch zwecks eines Termins bei mir melden, was man auch tat. Und da der Termin schon einen Tag später sein sollte, wurde ich gefragt, ob ich damit einverstanden wäre, ein Aufklärungsgespräch über den Eingriff telefonisch zu erhalten. Natürlich war ich einverstanden. Schließlich wusste ich was kommt und war froh, dass man so bald loslegen wollte. Warum sollte ich dem im Wege stehen?

Und dann, gestern, also am Tag vor heute, kam der Anruf. Ich meldete mich und innerhalb von 3 Sekunden hatte die nette Dame am anderen Ende der Leitung, ihren vollen Namen, Dienstgrad und den Namen der Station, auf der sie arbeitete, schon genannt. Aus reinem Reflex schlug mein Herz erstmal schneller, so als wolle es mit dem Gesprächstempo mithalten. Macklemore ist eine Schlaftablette dagegen. Es folgten eine genaue Beschreibung dessen, was man machen wollte und ebenso eine genaue Abfolge des Aufenthaltes von mir. Ich war froh, dass ich im Vorfeld schon ein paar Fragen notiert habe und unterbrach die Gute bei der erstbesten Gelegenheit. War nicht leicht, aber mit dem Mute der Verzweiflung konnte ich sie zum Halten bringen. Wie ein Schülerlotse den Straßenverkehr. Nur dass diese Straße sinnbildlich die A1 in Köln auf einem Freitagnachmittag war. Es war so als würde man einen Finger unter die nähende Nadel in einer Nähmaschine stecken.

Nach diesen 7 Minuten und 23 Sekunden hatte ich das Gefühl, es käme Rauch aus dem Telefon und machte mich sofort gedanklich daran, das Erzählte zu verarbeiten. Die Daten im Überblick: Freitag 9 Uhr in der Kardiologie Ambulanz, davor zum Corona Test und dann wird er Eingriff gemacht und wenn man einen freien Platz für mich findet, bleibe ich eine Nacht zur Beobachtung, damit man sehen kann, wie sich mein Herzschlagfinale entwickelt. Sollte kein Platz sein, würde ich nach einigen Stunden (zwischen 5 und 7 Stunden) nach Hause kommen. Eine Nacht, wenn´s hochkommt, damit konnte ich arbeiten. Der Hase hatte indes eine etwas eigene Art mir Mut zuzusprechen: “ Hauptsache Du wachst auch aus der Narkose wieder auf“, sagte sie. Und ich sag: „Hase, Du sollst mir doch eigentlich Mut zusprechen.“ „Mach ich doch“, sagt der Hase und ich möchte gar nicht wissen, was sie sagt, wenn sie ernsthafte Bedenken hat. Wir fahren also zum Krankenhaus, ich steige aus, eine letzte Umarmung. „Hoffentlich ist das nicht auch wirklich die Letzte“, sagt der Hase. Gegen Zuversicht scheint sie immun zu sein.

Heute morgen, ich bin wie immer sehr pünktlich, melde ich mich im Testzentrum. Mit mulmigen Gefühlen, denn mir ist das Loch im Kleinhirn vom letzten Mal noch bestens, oder schlechtestens, im Gedächtnis geblieben. Hat sich da sozusagen reingebohrt. Dementsprechend war die Vorfreude nicht gerade überschäumend. Aber zu meiner freudigen Überraschung steht diesmal nicht der Sadist auf der anderen Seite, sondern eine Frau. Und was soll ich sagen, Testen geht wirklich ohne dass man das Stäbchen in die Nüstern rammen muss. Es tut nicht weh, mir tränt nur das Auge, aber das macht es auch wenn ich in den Spiegel blicke.

Ich gehe zur Ambulanz, wo man wieder mit dem üblichen Papierkram zu kämpfen hat. Der darin mündet, dass ich trotz gegenteiliger Aussagen noch zur Patientenaufnahme muss, um dort weiteren Papierkrieg zu erzeugen. Vollkommen schuldlos, denn wenn es nach mir ginge, wäre es einfacher. Aber es geht nicht nach mir und ich kann nur leise erahnen, welche Unmengen an bürokratischem Aufwand hier hinter allen Dingen stecken. Was machen die bloß, wenn die richtig komplizierten Fälle kommen. Die gute Dame bei der Patientenaufnahme muss noch mit dem Bettenmagagement telefonieren, um eine Liegestatt für mich zu ergattern. „Da geht niemand ran“, sagt sie, „am besten Sie gehen wieder runter zur Ambulanz, da wird man ihnen später sagen können, wie es weiter geht.“ Dreißig Sekunden später, in der Ambulanz, steht da ein Bett, was nach Aussagen der Schwestern im Besonderen mein Bett ist. Na, das ging ja schnell.

Dann geht es alles erst recht schnell. Ein EKG wird geschrieben und ich kann mich in MEIN Bett legen. Dann kommt eine Schwester und möchte mir einen Zugang legen. „Haben Sie gute Venen?“ „Nein!“ „Doch, Sie haben gute Venen“, sagt sie, „wahrscheinlich ist ihnen das nicht bewusst.“ „Wahrscheinlich“, antworte ich. Nach ein paar glücklosen Versuchen sagt sie: „Ihre Venen sind ja wirklich miserabel.“ „Sag ich ja.“ „Jetzt haben Sie mir das Wochenende versaut, Dankeschön!“, sagt sie, allerdings als Scherz. Hoffe ich jedenfalls. Ein Arzt kommt und spricht auch mit osteuropäischem Akzent. Er findet eine Vene und sagt noch, dass er mir nun die Betäubung gibt. Und ich sage noch, dass mir schwummrig wird und……nix mehr. Ich bin weg.

Ich schlafe im Allgemeinen eher schlecht ein, es sei denn ich mache mittags ein Nickerchen. Aber abends so richtig einschlafen, das geht nicht so einfach. Ich muss immer noch über Gott, die Welt und die aktuellen tagespolitischen Ereignisse nachdenken. Oder wahlweise über Grillfleisch und Fassbier. Das dauert dann eine Weile und danach wälze ich mich noch ein bisschen hin und her und dann, manchmal auch erst nach einer Stunde oder länger, bin ich soweit, dass ich schlafen kann. So ist mein Ablauf. Der Hase schläft innerhalb von drei Sekunden ein. Immer und überall, wenn der Hase schlafen möchte. Eine Superheldeneigenschaft, um die ich sie beneide. Jetzt, wo ich gefühlt jeden zweiten Tag sediert werde, kann ich das auch und es ist mir jedesmal ein bisschen unheimlich.

Bis zu dreimal würde man mich schocken können, bei einem Eingriff. Das hat mir die Telefonärzin so gesagt. Oder ich habe es zumindest so verstanden. Ich erwache und es ist mir, als ob ich irgendwas zwischen zehn Sekunden oder zwei Stunden weg war. Tatsächlich waren es wohl um die 10 bis 15 Minuten. Es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht. Die Gute: Ich bin wieder aufgewacht. Offensichtlich. Die Schlechte: Der Eingriff war nicht erfolgreich. Fünfmal hat man mich geschockt und war geschockt, dass man den Sinusrhythmus nicht herstellen konnte. So bin ich in meiner Wahrnehmung auch sehr zufrieden damit, dass ich wieder erwacht bin, aber trotz der leichten Nachwirkungen der Betäubung, bin ich auch ein wenig enttäuscht, dass es nicht geklappt hat.

Man müsse es jetzt in einer Woche noch einmal versuchen, sagt der Arzt und bis dahin bekomme ich ein relativ starkes Medikament, dass das Herz schon in die richtige Richtung bringen soll. Und weil man ursprünglich dachte, meine Pumpe wäre wieder gerade und weil man diesen Zustand über Nacht beobachten wollte, hätte ich eigentlich eine Nacht hierbleiben müssen. Aber das war nun hinfällig. Also komme ich auf Station, um dort die Betäubungsnachwirkungen in Ruhe abzubauen. Was in etwa vier bis sechs Stunden dauern könnte. Und damit ich mich nicht umgewöhnen muss, komme ich auf dasselbe Zimmer wie letzte Woche und belege dort auch den selben Platz am Fenster.

Ich bin der vierte auf der Bude und schon nach ein paar Sekunden bin ich froh, dass ich heute Nacht nicht hierbleiben muss. Ein Mann scheint sehr nett und ruhig zu sein, aber die anderen beiden sind ein ganz anderes Kaliber. Da haben wir zum einen „die Insel“. Zumindest nenne ich ihn für mich so. Die Insel ist irgendwas zwischen 45 und 108 Jahren alt. Je nachdem, ob das biologische Alter als Maßstab angesehen wird. Ihm fehlt unter anderem ein Fuß (wahrscheinlich schon länger, denn hier liegt keiner rum und er trägt am Beinstumpf eine Art Lederschaft) und ein gewisses Maß an Bezug zur Realität. Er spricht häufig wirr, ist aber manchmal auch klar. Er hat einen dicken Schädel, der in unnatürlich blaurot gefärbt ist und liegt nicht eine Sekunde ruhig. Wenn er schläft, wird er noch unruhiger. Die Insel nenne ich ihn, wegen seines Bauches. Also alles was recht ist, und ich habe ja auch schon eine ganz schöne Kiste, aber dieser Bauch schlägt alles. Er sieht aus, als wenn er einen Basketball verschluckt hat. Es gibt in Cartoons gerne mal Bilder von kleinen Inseln, die als halbrunde Kugeln aus dem Meer ragen. Und genauso sieht sein Profil aus. Und statt einer Palme auf der Oberseite der Insel, ragt unnatürlich weit sein Bauchnabel hervor.

Und weil er nicht eine Sekunde ruhig liegen kann, schiebt er auch immer wieder sein T-Shirt hoch und gibt den Blick auf diesen anatomisch auffälligen Bauchnabel fei. The sexiest Man alive. Neben der Insel liegt der alte Mann. Ein faltiges, sehr altes Männchen, das noch weiter von aller Realität entfernt ist, als sein blaurotköpfiger Nachbar. Er ist über 90, wie ich erfahre und pausenlos am Reden. Ich verstehe so gut wie kein Wort, weil er so undeutlich und wirr redet. Aber die Insel versteht ihn anscheinend wunderbar. Die beiden sind pausenlos am plappern, ohne Sinn und Verstand. Böse Zungen behaupten, es wäre wie immer im Bundestag Der alte Mann redet aber nicht nur, nein er schimpft, beschimpft, nörgelt und weint manchmal. Mal sagt er, alle wären Arschlöcher und dann wieder, dass er so viel falsch gemacht hat. Und dreizehnmal möchte er wissen, wer ich bin.

Die beiden reden und verzweifeln sich in Rage. Wobei die Insel immer wieder einschläft und erbarmungswürdig am Röcheln ist. Ein bizarres Schauspiel, das sich mir da bietet und ich bin so glücklich, dass ich heute wieder nach Hause kann. Nach Hause zum Hasen. Zu großen Portionen und dem Sofa und dem Garten. Ach, wie schön das eigene Heim ist, merkt man in solchen Momenten mit erheblichen Nachdruck. Es vergehen Stunden. Stunden in denen ich mein Mittagessen verschlinge und mich mit meinem Bettnachbarn anfreunde. Ein ruhiger älterer Herr, der zu jeder Zeit zusammenhängende Sätze bilden und sprechen kann. Es macht Spaß mit ihm zu reden und ich erkläre ihn (im Stillen natürlich) zu meinem Anker. Da geh die Tür auf und Doktor Hiob kommt rein.

Natürlich heißt er nicht Hiob. Ich vermute zumindest, dass er nicht so heißt, aber er hat mal im Vorbeigehen eine Hiobsbotschaft für mich. Weil man die Einnahme des Medikaments ein bisschen mehr unter Kontrolle haben soll, muss man erstmal täglich ein EKG machen und ich mit einer Art EKG Überwachung angeschlossen werden. Diese ist ein Kasten, so groß wie früher ein Walkman und hängt in einer Tasche am Hals. Um die Daten liefern zu können, habe ich daher auch permanent vier Kabel am Brustkorb. Das ist aber alles noch nicht wild. Damit das alles funktioniert, darf ich bis Montag hier bleiben. Für satte drei Nächte. Erstmal. Ich weiß gar nicht wohin mit meiner Begeisterung. Drei Nächte? Drei Nächte! Ich blicke rüber zu meinem dynamischen Duo, das sich gerade wieder die Köpfe (einer alt und faltig, einer blaurot) heiß redet, ohne dass einer vom anderen weiß, was der da gerade sagt. Und ich habe zwei Gedanken. Erstens wird mir bewusst, dass ich heute Nacht kein Auge zu kriegen werde. Und zweitens bin ich dem Herrn dankbar dafür, dass nur mein Herz holpert und ich aber noch weiß, wer ich bin, wo ich bin, mit wem ich rede und was ich sage. Ich hoffe inständig, dass das auch ein Leben lang so bleibt. Was nützt ein gesunder Körper, wenn Dein Oberstübchen sich verabschiedet?

Beinahe so, als wenn die Schwestern Mitleid hätten, wird die Insel in ein anderes Zimmer gebracht. Er hat nen Rollstuhl und der nimmt offensichtlich zu viel Platz weg, deshalb der Umzug. Ich glaube, er merkt nicht mal so richtig was mit ihm geschieht, als er samt Bett herausgefahren wird. Innerlich singe ich ein lautloses „Aloah ohe“ und winke ihm unsichtbar hinterher. Und ich denke: „Uff, fünfzig Prozent der potentiellen Unruhe sind weg.“ Was aber kein Anlass zur Freude ist. Denn nun wird der alte Mann noch redseliger. Und schimpft und beschimpft und weint und verzweifelt und das meiste davon kann kein Mensch verstehen. Und er redet eigentlich pausenlos. Mein netter Bettnachbar erklärt ihm zwischendurch ein paarmal, dass er hier im Krankenhaus ist. Das scheint den alten Mann kurzzeitig zu beruhigen. „Wer bist Du?“, fragt er mich und klingt dabei ziemlich böse. Das fragt er allerdings siebenmal die Stunde und immer unfreundlich und böse. Kann mich nicht erinnern, ihm irgendwann mal etwas getan zu haben.

Mein Brustkorb sieht aus, als habe man dort versehentlich ein kleines heißes Bügeleisen stehen lassen. Zumindest sieht der rote Abdruck, der in Höhe des Brustbeins auf der Haut sichtbar ist, danach aus. Eine Folge der Schockstrombehandlung. Die Panels des Gerätes haben sich ein bisschen in die Haut gebrannt. So wie bei einem Sonnenbrand. Und natürlich juckt die Stelle auch häufig. Was nur teilweise schlimm ist. Wesentlich blöder ist dabei das Bügeleisen auf dem Rücken. Es juckt noch mehr als das an der Vorderseite und ist mit meinen Armen und den Händen daran nicht zu erreichen. Und ich wundere mich warum das auf dem Rücken überhaupt ist. Ich dachte man würde den Strom nur vorn Verabreichen. Oder kommen die Abdrücke von großen Klebestreifen, die man an mir angebracht hatte und mit einigen Schmerzen meinerseits wieder abziehen musste? Oder war es soviel Strom, dass der Abdruck von vorn auch bis hinten durchgebrannt ist? Man weiß es nicht und irgendwie möchte ich es auch nicht wissen.

Was mir aber nicht egal ist, ist das elende Jucken. Und da ich mit den Fingern nicht zum Kratzen rankomme, suche ich permanent nach möglichen Ecken und Kanten, wo ich mich schubbern kann. Was schwierig ist, weil eigentlich alle Ecken und Kanten in einem Krankenhaus mit glatten Metallblechen eingefasst sind. Und auch Türdichtungen sind mit der Wirbelsäule irgendwie nicht erreichbar. Versuche es mit dem Deckel auf der Wasserflasche, aber auch ohne Erfolg. Muss ich dann wohl mit leben, dass der Rücken juckt. Es wird Abend und dann kommt die Nacht.

Mein netter Nachbar ist denkbar gut ausgerüstet, mit Schlafmaske und Ohrstöpseln. Er schläft schnell ein und ich bin allein mit dem alten Mann. Der dreht jetzt aber so richtig auf und nennt sich selbst ein Arschloch, weil er so viel falsch gemacht hat. Am liebsten würde ich ihm sagen, dass er jetzt in diesem Moment auch mal etwas total Richtiges machen kann, indem er für ein paar Stunden schweigt. Mach ich natürlich nicht, weil ich weiß, dass er das gar nicht umsetzen kann. Manchmal steht er auch auf und tänzelt ein bisschen halb um sein Bett herum. Dann nimmt er sich seinen Katheterbeutel und macht Anstalten weiter zu marschieren. Erkennt dann aber die Hoffnungslosigkeit seines Unterfangens und legt sich wieder hin. Ich setze meine Kopfhörer auf und lausche der Musik. Die Nachtschwester kommt herein. Sie sieht den alten Mann und geht zu ihm, nimmt ihn in den Arm und redet ein Weilchen mit ihm. Ich bin beeindruckt. Sie macht das mit einer solchen Herzenswärme, dass ich sofort begreife, dass hier jemand bei der Arbeit ist, der seinen Beruf wirklich gerne hat und mit Leidenschaft ausführt. Und ich denke, darum ist es besser für die Welt, dass sie zum Pflegepersonal gehört und nicht ich.

Natürlich kann man Kopfhörer nicht die ganze Nacht auf haben, weil die Dinger im Weg sind, wenn man sich drehen möchte. Also setze ich sie gegen Mitternacht ab. Der alte Mann redet noch immer und steht wieder auf. Er schnappt sich seinen Beutel und steht wankend am Kopfende seines Bettes und ich mache mir schon ein paar Sorgen. Dann geht er los in Richtung Tür. Nun bin ich ja nicht immer schnell von Begriff, aber wenn ein offensichtlich verwirrter Mann mit einem Katheterbeutel unterm Arm nachts das Zimmer verlassen möchte, dann sollte man das möglichst unterbinden. Oder aber unterbinden lassen. Ich drücke auf den Schwesternknopf und ein Pfleger erscheint. Der ist genauso freundlich und herzenswarm wie seine Kollegin und legt den alten Mann wieder ins Bett und gibt ihm etwas Beruhigendes zur Nacht.

Das hat aber nicht den gewünschten Erfolg, denn der medizinisch soeben Beruhigte dreht nun nochmal richtig auf und spricht und schimpft und weint noch mehr. Kopfhörer auf….warten….. Um halb zwei will er wieder auf Wanderschaft. Ich rufe wieder das Personal, der Pfleger kommt und der alte Mann kommt in ein anderes Zimmer, damit wir anderen beiden noch ein bisschen zur Ruhe kommen können. Wohin er kommt, weiß ich nicht. Vielleicht ja zur blauroten Insel. Ich für meinen Teil bin für diese Nacht ziemlich bedient und holpere mich einem unruhigen und kurzen Schlaf entgegen. Wenn nur dieses elende Jucken am Rücken nicht wäre, das mich gerade ein wenig um den Verstand bringt.