Eine sehr überraschende Erkenntnis, die ich hier erworben habe, ist die Tatsache, dass die Zeit auch dann vergeht, wenn man viel Zeit hat. Wenn das ^“Zeit haben“ der Alltag wird, dann ist der Reiz des Neuen ein wenig abgenutzt und die Tage fließen genauso dahin, wie im eigentlichen hektischen Leben. Natürlich genieße ich es nach wie vor, hier die Muße zu finden, die mir sonst fehlt, aber wenn man dann mit einem Mal schon eine Woche hier ist, fühlt es sich zumindest seltsam an. Muße an einem anderen Ort, ohne Patienten wäre mir aber auch recht. Ein Woche also, die ich hier schon verbringe und wenn das ein Außenstehender hört, muss der denken, ich wäre schwer krank und trüge den Kopf schon unterm Arm. Wenn allerdings Besuch zugelassen wäre und man mich sähe, wie ich hier auf meinem Bett liege und mir eigentlich keine körperlichen Auswirkungen in irgendeiner Form zu schaffen machen, relativiert sich die Sorge, die man sich um mich potentiell gemacht haben könnte.
Eine Woche die ich zur Beobachtung bin, weil ich soviel von dem einem Mittel einnehme und man die Nebenwirkungen unter Kontrolle haben möchte. Viel hat sich nicht getan, nur die Belegung des Zimmers hat hier ein bisschen gewechselt. Und es waren einige sehr nette Leute dabei. Da hat es hier schon beinahe Spaß gemacht. Einer allerdings wurde hier hergebracht, der hatte nur einen Fuß und als er eingeliefert wurde, hatte ich freien Blick auf den Fußstumpf und ich war froh, dass hier ein bisschen ein Bettgitter angebracht ist, sonst wäre ich wohl erstmal rausgefallen. Ich musste unweigerlich an die Insel denken, der ja auch nur einen Fuß hatte und diese Lederschiene drumrum hatte. Und ich denke, ist schon komisch, ist hier wohl die Fußamputiertenabteilung. Und dann wälzt sich der Mann ein bisschen hin und her und sein T-Shirt rutscht hoch und legt seinen Bauchnabel frei. Und ich denke, den Nabel kennst Du doch. Aber sonst kenne ich den Mann nicht. Zumindest auf den ersten Blick. Aber es ist die Insel. Nur nicht mehr in blaurot und der Bauch ist auch ein bisschen dünner. Er war wohl für eine Weile auf der Intensivstation, da hat man ihm wieder eine normalere Färbung verpasst.
So in normaler Gesichtsfarbe habe ich ihn gar nicht erkannt. Und er wirkt auch ein bisschen fitter. Er wird es auch von Tag zu Tag. Irgendwann sitzt er auch schonmal auf der Bettkante und erzählt in breitestem Hamburger Dialekt aus seinem Leben. Und darüber, was dazu geführt hat, dass man ihm den Fuß abnehmen musste. Und darüber, dass seine Frau vor ein paar Monaten verstorben ist und dass sein Schwiegersohn schwer verunglückte. Und ich werde ein bisschen kleiner. Man kriegt hier eine Menge mit. Jeder auf dieser Station hat irgendwie eine Geschichte und selten sind sie gut oder gar ungefährlich. Was passiert, wenn das Herz plötzlich nur noch eine Leistung von 20 Prozent hat und was wenn man schon lange an Herzschwäche leidet. Wenn eine Herzklappe nicht mehr ihren Dienst tut und von einem Tag auf den anderen das Leben plötzlich umgekrempelt wird. Und wenn man weiß, dass man auch Glück hatte, dass man noch am Leben ist. Und dann komm ich. Mir geht es doch so gut. Was habe ich denn bitteschön vorzuweisen? Ja ich weiß, Vorhofflimmern, aber nicht so, dass mein Überleben dadurch gefährdet ist Es gibt auch beim Vorhofflimmern anscheinend sehr große Unterschiede in den Auswirkungen. Ich habe da eine ganz andere Symptomatik, als viele der anderen hier. Die ist in ihrer Auswirkung nicht so gravierend, aber man weiß ja nicht, wie sich sowas entwickelt. Deswegen bleibe ich erstens weiter hier und zweitens geduldig.
Eine weitere Kardioversion hatte ich am Dienstag und so langsam gewöhne ich mich daran, dass man mich irgendwie alle paar Tage betäubt. Eigentlich gefällt mir das schon beinahe, denn so tief schlafe ich nicht oft hier im Krankenhaus. Überlege, ob ich nicht ein paar Dosierungen mitnehmen sollte. Aber eigentlich könnte ich hier auch „was zur Nacht“ bekommen. Also anders gesagt, es gäbe hier auch Schlaftabletten. Aber wenn man momentan am Tag schon elf Tabletten, (oder sind es sogar mehr?) einnimmt, dann muss man nicht noch mehr davon haben. Obwohl ich bisher keinerlei Nebenwirkungen oder aber Unverträglichkeiten habe.
Die zweite Kardioversion war wie die erste, nur besser. Dieselbe Schwester wie beim ersten Mal musste mir wieder einen Zugang legen. „Ich kenne Sie doch“, sagte sie. „Ich habe Ihnen das Wochenende versaut mit meinen schlechten Venen“, sage ich. „Ach, der Herr Daus!“ „Ebenjener.“ Es klappt diesmal sofort mit dem Zugang und wir schließen Freundschaft, also die Schwester und ich. Man musste diesmal auch nur einmal Strom durch mich jagen, Deswegen ist der neue Bügeleisenabdruck wesentlich schwächer als die Brandmale von letzter Woche. Nur ein Versuch und schon war der Rhythmus so wie er sein sollte. Das aber nur für 35 Sekunden nach meinem Aufwachen, schätze ich. Bei einem anschließenden EKG war alles wieder beim Alten. Aber auch durch die vermehrte Zugabe von elektrischem Strom habe ich keine Nebenwirkungen, außer dass kleine Blitze aus meinen Fingern kommen, mit denen ich wahlweise den Fahrstuhl steuern, oder aber Toastbrot toasten kann.
Der Weg hin zu dieser Behandlung war etwas holprig. Also metaphorisch betrachtet, war er es. Schlaglöcher in den Fluren gibt es nicht. Am Abend davor kam eine Krankenschwester und sagte: „Hat man Ihnen eigentlich schon gesagt, dass Sie morgen mit dem Eingriff dran sind und deswegen morgen früh nüchtern sein müssen?“ Ja man hatte. Und ich solle dann auch keine Tabletten einnehmen. Am Morgen kommt eine Schwester mit einer Tablette für mich. „Was ist das?“, frage ich. „Das ist Ihre Magentablette“, sagt sie. „Aber ich soll doch nüchtern bleiben und keine Tabletten nehmen“, sage ich. „Hat man Ihnen denn noch nicht gesagt, dass Sie sie trotzdem nehmen sollen?“ „Nein hat man nicht.“ Dass die anderen Tabletten auch noch kommen, überrascht nicht. Dass aber auch mein Frühstück dabei ist, schon.
„Ich denke, ich soll nüchtern bleiben“, sage ich und fühle mich, als würde ich mich wiederholen. „Hat man Ihnen eigentlich noch nicht gesagt, dass es vormittags nichts mehr wird mit dem Eingriff?“, fragt der nette Pfleger. „Nein, hat man nicht“, erwidere ich und freue mich ein bisschen auf das Frühstück. Ich habe den letzten Bissen verschlungen, als ein Arzt ins Zimmer kommt und sagt: „Hat man Ihnen eigentlich schon gesagt, dass sie heute nüchtern bleiben sollen?“ Humpf, ich werde etwas kribbelig. Was hat man mir nicht alles schon gesagt, oder aber auch nicht. Aber die Spannung legt sich, als ich erfahre, dass er mittags meint. Also ab jetzt nichts mehr essen. Das kann ich. Schließlich hatte ich gerade Frühstück und ich weiß, dass das Mittagessen später nachgereicht wird. Pünktlich um halb zwei werde ich abgeholt und nach unten gebracht und geschockt. Da das Ergebnis nicht gut ist, kann ich mir den Gedanken, dass ich morgen rauskomme, also abschminken und ich arrangiere mich damit, dass ich mit den neuen Genossen noch weiter ein bisschen Zeit verbringen werde. Beschließe aber, dass ich auch weiterhin Geduld haben werde. Es nützt ja nichts.
Die Insel, die im Übrigen Günter heißt, ist eigentlich ziemlich nett, aber eben auch vom Schicksal gebeutelt. Sein Zustand in der letzten Woche war so schlecht, weil er zu viel Wasser im Körper hatte. 15 Liter entziehen sie ihm innerhalb weniger Tage. 15 Liter, die sich um seine Lunge gelegt hatten und ihn so weit gebracht hatten, dass er diese gesunde Hautfarbe hatte und er ziemlich verwirrt war. Man kann förmlich zusehen, wie es ihm besser geht und sein Bauch wird flacher, womit ich dann der Zimmerdickste bin, oder besser der Zimmerschwerste, denn Günter sieht doch ein bisschen dicker aus und sein Bauchnabel ragt weiter raus als meiner. Also habe ich im Bauchnabelvergleich vergleichsweise schlecht abgeschnitten. Der andere Zimmergenosse ist in etwa so alt wie ich und ebenfalls nett und hat auch wesentlich schwerere Symptome, mit denen er kämpfen muss. Und wieder preise ich den Herrn, dass ich nicht an Stelle einer der anderen bin. Also lernt man im Krankenhaus neben einer großen Geduld auch eine noch größere Demut. Wir sind erstmal zu dritt im Zimmer, zumindest für einen halben Tag. Aber so sicher wie das Amen in der Kirche wird dieser Umstand nicht lange andauern.
Ich behalte Recht. Zu den Gesetzmäßigkeiten des Lebens gehört, dass von drei Einlieferungen in ein Krankenhaus, mindestens eine in der Nacht erfolgt. Es ist halb drei, als der Vierte im Bunde zu uns stößt. Eine andere Gesetzmäßigkeit der Lebens ist, dass der erste Eindruck der Eindruck ist, der einem viel über den Menschen verrät, den man da kennenlernt. Und dieser Eindruck hier gerade ist eher mal nicht so besonders, wenn ich es nett ausdrücken möchte. Ich mein, dass jemand nachts ins Krankenhaus kommt und dann ebenso nachts sein Zimmer beziehen muss, dafür kann er nichts. Und ich bin mir sicher, dass ich an seiner Stelle, auf Zehenspitzen ins Zimmer gekommen wäre und mich sofort wortlos hingelegt hätte. Unser neues WG Mitglied ist da aber aus einem ganz anderen Holz. Er meckert erstmal den Pfleger an, weil er in der Notaufnahme von einer Schwester angemeckert wurde. „Ich kann mir vorstellen wieso“, denke ich. Natürlich kann der Pfleger nichts dafür, aber der Neue muss seinen Ärger erstmal rauslassen. Nachts um halb drei! Nein, ich denke nicht, dass wir Freunde werden.
Und was macht man sonst so, wenn man nachts um halb drei auf ein Krankenzimmer kommt, in dem drei andere Leute verzweifelt versuchen in den Schlaf zu finden? Genau, man nimmt seine Tasche, geht in die Waschecke, macht Licht an und packt erstmal seelenruhig seine Sachen aus. „Lass Dir Zeit“, denke ich, „ich habe es gern wenn es in der Nacht taghell ist! Dunkelheit beim Schlafen wird einfach überbewertet. Schließlich hat man ja eh schon die Augen zu.“ Und was soll ich sagen, er lässt sich Zeit. So als könne er meine Gedanken lesen und dabei den offensichtliche Sarkasmus und die feine Ironie ignorieren. Ein weiteres Indiz dafür, dass er nicht in mein Herz eingeschlossen werden möchte. Dann legt er sich hin und gibt in unregelmäßigen Abständen merkwürdige Laute von sich. Und als er uns dann wach genug gekriegt hat, schläft er ein. Das war ein Einstand nach Maß, würde ich mal sagen.
Geräusche sind hier nachts ebenso ununterbrochen präsent, wie auch ein gewisses Maß an Licht. Wir ziehen hier abends immer die Vorhänge zu und lassen zusätzlich noch den Sonnenschutz vor den Fenstern runter. Und wenn man vom stets beleuchteten Flur ins Zimmer kommt, denkt man, es wäre dunkel. Das relativiert sich, wenn man erstmal drin ist. Es ist wie in New York, das bekanntlich eine Stadt ist, die niemals schläft. Dies hier ist halt eine Station, die niemals schläft. Nur nicht so glamourös. Das Zimmer ist also trotz der Vorhänge noch hell genug, um die Linien an der eigenen Hand sehen zu können. Aber immerhin dunkler, als wenn Dein neuer Zimmernachbar sein Licht einschaltet. Aber die Resthelligkeit, die daher kommt, dass andere Gebäude in der Nähe volle Möhre beleuchtet sind, und ihr Licht hier rein scheint, sorgt für ein getrübtes, oder erhelltes Nachtgefühl. Also doch wieder ein bisschen wie New York. Den Rest erledigt der Spalt unter der Tür, durch den das Licht des immer beleuchteten Flurs sich seinen Weg bahnt.
Was die Geräuschkulisse angeht, so muss man zwischen permanenten und temporären Geräuschen unterscheiden. So ist zum Beispiel draußen irgendeine enorme Lüftung am Lüften und es klingt dauerhaft so, wie eine weit entfernte Autobahn. Permanent ist auch das Blubbern von der Sauerstoffzufuhr von Günter. Der Sauerstoff wird dabei in eine Kunststofflasche geblasen und blubbert da durch Wasser, oder eine andere klare Flüssigkeit. Ich habe dieses blubbernde Geräusch derart verinnerlicht, dass ich beinahe glaube, wenn ich hier irgendwann mal entlassen werde, nicht ohne das Geräusch schlafen zu können. Wahrscheinlich muss ich mir einen Wasserkocher ans Bett stellen. Und einen Fön im Bad laufen lassen, um eine Lüftung zu simulieren. Temporäre Geräusche sind hingegen überraschend und nicht kalkulierbar. Wie beispielsweise das Schnarchen der Leute von meinem ersten Aufenthalt.
Der Neue hat in dieser Hinsicht einiges mehr zu bieten. Ich hatte mal einen Onkel, der oft so einen nervösen Tick hatte und hin und wieder grundlos seinen Mund seltsam verzog. Das lag an einer Kriegsverletzung, zumindest hatte man mir das so erzählt. Der Neue hier macht Geräusche beim Einschlafen. So schreit er in mittlerer Lautstärke hin und wieder, ohne jeglichen erkennbaren Grund. Manchmal auch, wenn er wach ist. Dann schmettert er ein lautes „Aaahh“ durch die Nacht. So wie mein Onkel ohne erkennbaren Grund, nur ohne Kriegsverletzung, nehme ich an. Und manchmal antwortet Günter im Schlaf mit einem „Hurgh“, das aber leiser ist. Ein Zwiegespräch der besonderen Art und auch ein kleines bisschen mit Posaune. In den folgenden Nächten redet der Neue auch noch zusätzlich. Manches auf Deutsch, was man aber trotzdem nicht versteht. Und manches in Japanisch oder Mandarin, man weiß es nicht. Und wie ich den beiden so lausche, denke ich: „Warum ich? Womit habe ich das verdient, dass mir immer solche Nächte beschert werden?“ Ich kann es mir nicht erklären, aber ich habe anscheinend kein besonders gutes Kharma. Aber woher? War ich mal nicht nett zu irgendeinem Krankenhauspersonal? Nicht dass ich wüsste. Ich bin doch immer freundlich. Warum lässt man mich nicht schlafen?