Unendliche Geschichten haben viele Kapitel…..

Unendlich viele, genaugenommen…….

Ich bin nüchtern. Eigentlich nicht überraschend auf einem Mittwochmorgen. Aber ich bin nicht nüchtern in dem Sinne, dass ich jetzt nicht mit ein paar Promille durch die Gegend wanke, sondern mehr dergestalt, dass ich weder gegessen, noch getrunken habe. Und das schon seit gestern Abend. Die halbe Nacht konnte ich nicht schlafen, weil ich schonmal präventiv hungrig und durstig für den nächsten Tag geworden bin. Man muss nicht lange darüber nachdenken, ich mache so etwas ganz bestimmt nicht freiwillig. Meine Abstinenz für Speis und Trank ist mir sozusagen medizinisch verordnet worden, denn heute habe ich einen Eingriff vor mir. Eine sogenannte Ablation, weil mein Herzrhythmus seit ein paar Monaten wieder aus dem Takt ist und ich schon bei alltäglichen Dingen wie Rasenmähen an meine körperlichen Grenzen stoße. Es ist einfach kein erstrebenswerter Zustand, wenn man einen Antrieb hat, wie ein Auto mit vier Zylindern, bei dem nur drei davon richtig funktionieren. So in etwa hat es mal mein Kardiologe beschrieben und es stimmt.

Also bin ich nun nüchtern und muss um 9 Uhr im Krankenhaus sein. Ich bin natürlich schon um 8.45 Uhr vor Ort, denn wenn es zu Verzögerungen käme, läge es wenigstens nicht an mir. Und da es nicht meine erste Ablation ist, sondern genaugenommen die dritte, weiß ich natürlich, was mich erwartet. Eigentlich bin ich jetzt kein besonders mutiger Mensch, aber richtig ängstlich bin ich auch nicht und heute erst recht nicht. Eine Ablation also. Man wird mal wieder über die Leiste mit einem langen Schlauch durch meine Innereien gehen, um dann, etwas weiter oben, am Herzvorhof rumzulöten. Beinahe Alltagsgeschäft für mich. Und wenn ich ehrlich sein soll, glaube ich nicht, dass der Eingriff Erfolg haben wird. Zumindest nicht langfristig. Aber ich bin kein Arzt und habe auch nur beschränkt Ahnung und eine gewisse Hoffnung gibt es ja auch. Also mach ich das jetzt wieder mit.

Wie gesagt, ich habe die Nacht eher schlecht geschlafen, habe mich bei der Arbeit für zwei Wochen abgemeldet, mir von meiner Familie und allen möglichen Leuten alles Gute wünschen lassen und dem Hasen versprochen, dass ich auch unbedingt wieder aus der Narkose aufwachen werde. Sie braucht mich ja noch für die Gartenarbeit. Und schließlich ist sie auch sonst sehr besorgt um mich, wenn so eine Behandlung ansteht. In unheilvollen Dunkelgrautönen malt sie mir unentwegt aus, was so alles schief gehen könnte. Aber trotzdem habe ich keine Angst. Ich bin nur ein bisschen angespannt und muss gestehen, dass ich es gern hinter mich bringen möchte und das Ergebnis erfahren will, egal wie es ausgeht. Ich mag keine Ungewissheiten.

Ich hatte ein paar Tage davor eine Voruntersuchung und bin dann auch schon den Verwaltungskram für die Patientenaufnahme angegangen. Habe mich also angemeldet. Ich erscheine auf der Station mit der Bestätigung der Aufnahme, meiner Krankenversichertenkarte und einem ausgedruckten Medikamentenplan. Alles was Recht ist, aber ich denke, ich bin wirklich gut vorbereitet. Die Krankenschwester, bei der ich mich melde, nickt wohlwollend. Ich glaube ich bin ein Musterpatient und man freut sich, dass man nicht hinter irgendwelchen Dingen herlaufen muss. Keine Ahnung, wie sehr man von mir begeistert ist, ich bin es jedenfalls. „Setzen Sie sich bitte hinten am Ende des Flures auf einen der Stühle, man wird sich bald um sie kümmern“, sagt die Schwester und ich tue, wie mir geheißen.

Ebenfalls am Ende des Ganges sitzt eine Frau, die in etwa meine Altersklasse ist und sie sieht ein bisschen schlapp und kaputt aus. Das Gesicht ist leicht gräulich und sie wirkt sehr müde. Und ich denke, dass sie bestimmt ein schlimmeres Schicksal hat als ich. Denn schließlich ist hier die Kardiologie Station. Da wimmelt es nur so von schweren Fällen, von Dramen und Menschen, die dem Tod ins Auge gesehen haben und nun vielleicht auf eine Operation warten, die ihnen das Leben rettet. Da ich komme mir dann immer ein bisschen lächerlich vor, weil ich kein krankes Herz habe, sondern nur ein schadhaftes Steuergerät. Lächerlich ist es natürlich nicht und man kann davon auch ne Menge Probleme bekommen, die auch nicht zwingend auf die leichte Schulter zu nehmen sind, aber mein komisches Gefühl bleibt. Nach einer Weile komme ich mit der Frau ins Gespräch und stelle fest, dass sie an Herzrhythmusstörungen leidet und für eine Ablation hergekommen ist. Ach, schau an.

Ich kann aus dem Nähkästchen plaudern, weil ich ja schon Erfahrung mit dem Thema habe und ich glaube sie ist einigermaßen dankbar zu wissen, dass das eigentlich nicht besonders schlimm ist. Nach einer dreiviertel Stunde kommt ein Arzt vorbei. Er ist recht jung und möchte mir unbedingt einen Zugang legen. Und er fragt: “ Na, wo haben sie denn gute Venen?“ Ich hatte die Frage erwartet und sage wahrheitsgemäß: „Nirgends!“ Und er blickt so…..hmh, ich muss jetzt mal ein bisschen Filmwissen voraussetzen…. wie George Mc Fly in „Zurück in die Zukunft“, als er das Auto aufmacht und erkennen muss, dass statt Marty wirklich Biff im Auto sitzt und Georges Angebetete belästigt. Genauso blickt der Arzt und man kann es stationsangemessen so sagen, ihm rutscht das Herz in die Hose. Ich glaube er denkt, dass ihm so ein Fall wie meiner noch unbedingt zu seinem Glück gefehlt hat. Er scheint sich vor schlechten Venen zu fürchten. Energie und Selbstsicherheit weichen sichtbar von ihm und er macht sich etwas zögerlich ans Werk.

Er bindet meinen Arm ab und ich soll mal eine Faust ballen und dann wieder öffnen. Das mache ich ein paarmal. während er verzweifelt meinen Unterarm nach einer geeigneten Vene absucht. Er klopft mit den Fingern auf der Haut herum, um die Venen anzulocken. Vielleicht reagieren sie ja auf Klopfsignale, wer weiß. Aber irgendwie ist das Ganze nicht von Erfolg gekrönt. Meine Venen scheinen taub zu sein. Er sucht und klopft und sucht und der Schweiß tritt ihm auf die Stirn. Dann fasst er sich ein Herz (Kardiologie man merkt es immer wieder), packt eine Zugangsnadel (ich nenne sie mal so) aus und setzt an und…..“Nee“, murmelt er, nimmt die Nadel wieder zurück und sucht nach einer anderen Stelle. Auch hier kann er nicht den nötigen Mut aufbringen und zustechen. Er scheint irgendwie Zeit zu schinden und ich bin beinahe bereit, es selbst in die Hand zu nehmen, als er auf die Uhr blickt. „Ah, Besprechung“, murmelt er, knickt die Nadel ab, wirft sie in den Müll und verschwindet hinter einer Tür, in der es anscheinend die Besprechung gibt. Er kann also auch schnell sein.

Ich weiß, die Zeit im Krankenhaus vergeht anders als woanders und man muss einfach eine gehörige Portion Geduld mitbringen, wenn man hier herkommt. Ich denke dann immer, und ganz besonders auf dieser Station, dass ich manchmal lange warten muss, weil irgendwer gerade wesentlich schlechter dran ist, als ich und deswegen mir Vorrang behandelt werden muss. Und weil ich es auch manchmal genieße, Zeit zu haben, stelle ich mir einfach vor, ich säße zu Hause in meinem Ohrensessel und müsste einfach mal Nichts tun. Heute habe ich sogar Gesellschaft und die Stühle im Flur von dieser Station sind wirklich gemütlich. Ich glaube ich könnte hier ewig sitzen. Und offen gestanden habe ich auch ein bisschen das Gefühl, als müsste ich hier ewig sitzen. Zumindest dauert die Besprechung erheblich länger als erwartet. Irgendwann, es ist noch Vormittags, erscheint dann wieder unser junger Mediziner und kommt mit einem traurig-ängstlichen Blick auf uns zu.

Er steht da etwas unsicher und weiß offensichtlich nicht so recht, was er mit uns anfangen soll. Eine Kollegin, im grünen OP Dress, kommt vorbei und fragt, was denn so los ist. Er erklärt kurz, dass er gerade Schwierigkeiten hat, Zugänge zu legen. Ich nehme es ihm nicht übel, denn ich hätte auch Schwierigkeiten mit sowas und außerdem haben meine Venen und ich schon manch eine andere Person, die auf dem medizinischen Sektor tätig ist, vor große Probleme gestellt. Ich glaube mir eilt dementsprechend ein dahingehender Ruf voraus. Die Kollegin sagt, dass sie sich gleich darum kümmern wird und der junge Arzt ist erleichtert. Gefühlt einen halben Meter größer geworden, geht er aufrecht gehend von Dannen. Die nette Mitpatientin und ich warten nun auf seine Kollegin, auf das sie zugänglich tätig wird.

Aus der Ferne (es ist ein sehr sehr langer Flur) sehen wir eine weißbekittelte Ärztin mit einem Stethoskop um den Hals auf uns zukommen. Und ich denke mir, wie will die denn damit einen Zugang legen? Wahrscheinlich kann sie hören, wo die Venen sind. Andere versuchen es ja schließlich auch mit Klopfzeichen. Sie kommt zu uns und spricht mit einem freundlichen osteuropäischen Akzent. Eigentlich ist ihr Deutsch aber sehr gut, doch ganz verstehen kann ich jetzt nicht, was sie meint. Irgendwie redet sie davon, dass der Gerät kaputt ist. „Gerät?“, denke ich, „Welches Gerät? Ein Faxgerät vielleicht? Macht es Faxen?“ Aber nach sehr kurzer Zeit dämmert es mir, worum es sich bei diesem Gerät handelt. Es ist anscheinend die Maschine, die für die Ablation zuständig ist und ich vermute, sie heißt „Der Ablator“ oder so ähnlich. Wahrscheinlich heißt es aber nur „Der Gerät“.

Dadurch das das Gerät kaputt ist, gerät mein eigentlicher Zeitrahmen schonmal ins Wanken. „Und wann wir der Apparat wieder repariert?“, frage ich und habe im Innersten die leise Ahnung, dass das nicht gerade heute über die Bühne gehen wird. Sie kann es mir nicht sagen, denn man ist gerade hochtourig dabei, jemanden zu finden, der sich damit auskennt und den Schaden beheben kann. Wo sind die guten alten „Gelben Seiten“, wenn man sie mal braucht? Klar ist jedenfalls, dass da heute niemand mehr herkommen kann und wird. Also müssen die Frau und ich uns damit vertraut machen, dass wir nicht mehr drankommen.

Also für mich ist das schon blöde. Einerseits habe ich von tausend Leuten die gedrückten Daumen sinnbildlich mitgenommen und bei meiner Arbeit habe ich mich auch abgemeldet und auch die nächsten zwei Wochen habe ich danach ausgerichtet, dass ich nicht schwer heben soll. Andererseits ist man, auch wenn man keine Angst hat, vor so einem Eingriff dann doch angespannt und je länger man im Krankenhaus wartet, desto größer ist die Anspannung. Und wenn man nach stundelangem Warten dann diese Botschaft erhält, ist das schon ein komisches Gefühl. Aber es kann ja keiner irgendwas dafür, nehme ich jedenfalls an, und ich bin irgendwie natürlich nicht gerade schwer begeistert, aber ich nehme die Sache recht sportlich, wie ich meine. Für meine Mitpatientin ist das Ganze ungleich komplizierter, denn sie hat zu Hause Landwirtschaft und eine pflegebedürftige Mutter. Dafür musste sie für die nächsten zwei Wochen Ersatz organisieren. Das ist nun alles wieder hinfällig und sie ist nicht begeistert, schimpft aber auch nicht. Sie ist eher etwas niedergeschlagen.

Wir verlassen die Station und weil ich auch mal meine lichten Momente habe, bin ich mal ganz Kavalier und trage ihre Tasche. Die ist schwer und das, obwohl sie ja auch nur eine Nacht bleiben muss. Was zum Henker hat die Gute denn da alles drin? Ich kümmere mich um meine Fahrt nach Hause, verlasse das Krankenhaus und nehme die Gewissheit mit, dass man sich bei mir melden wird, zwecks eines neuen Termins. Das ist erstmal grundsätzlich nett, aber ich bin lebenserfahren genug, um zu wissen, das die Verwaltungsmühlen in so einem Krankenhaus langsam arbeiten und ich da nun schon eine ganze Weile warten werde, bis ich einen neuen Termin bekomme. Aber das ist egal, dieser Tag ist eh im Arsch, da fallen solche Details nicht weiter ins Gewicht.

Aber ich sollte mich täuschen. Schon am nächsten Morgen, ruft man mich an, um mir mitzuteilen, dass ich genau eine Woche später erneut auf der Agenda stehe. Donnerwetter, denke ich, da haben die sich aber mal Mühe gegeben. Ich bin erfreut und warte die paar Tage ab. Ich lasse mir wieder ein paar Daumen drücken, verabschiede mich von Kollegen und Chef für zwei Wochen und verspreche dem Hasen, wieder aus der Narkose aufzuwachen. Der Garten ist ja schließlich noch lange nicht fertig.

Am Mittwochmorgen ist es dann soweit, ich stehe auf, habe schlecht geschlafen, esse und trinke mal wieder nichts und springe noch mal eben unter die Dusche. Man will ja schließlich so sauber wie möglich sein, wenn man im Adamskostüm auf dem OP Tisch liegt und tausend Hände an einem rumhantieren müssen. Nichts wäre schlimmer als ein bewusstloser Operateur. Letzteres Szenario ist Gegenstand von einigen Scherzen meinerseits gewesen, wenn ich in der letzten Woche auf meinen Termin angesprochen wurde. „Wenn jetzt kein Operateur ohnmächtig wird, sollte eigentlich alles glatt gehen“, habe ich immer wieder gesagt.

Nun, ohnmächtig ist er nicht, aber krank. Ich fahre hin zur Klinik, gehe auf die Station und man empfängt mich gleich mit den Worten, dass der Eingriff nicht stattfinden könne, weil eben jeder Operateur sich krank gemeldet habe und auch kein adäquater Ersatz im Hause wäre. Hmmpf! Das Herz pocht ein paarmal unrhythmisch, wie es nun mal pocht, aber wesentlich intensiver und schneller. Ich versuche das Ganze wieder einmal sportlich zu sehen. Immerhin habe ich nicht wieder Stunden warten müssen. Es war wie eine Abfuhr beim Speeddating, wo die Anzubetende nach zwei Sekunden sagt, sie müsse mal eben auf Klo und fluchtartig den Platz verlässt. Man hat auch parallel versucht mich telefonisch zu erreichen, aber ich war schon weg. Für einen neuen Termin wird man sich so schnell wie möglich melden.

Ich bin diesmal selbst zum Krankenhaus gefahren, hatte beinahe schon eine Vorahnung, also kann ich auch selbst wieder zurückfahren. Meine Laune ist ein bisschen angekratzt. Wieder einmal muss ich allen Daumendrückern sagen, dass sie mit dem Drücken aufhören sollen und wieder einmal muss ich meinem Chef sagen, dass ich doch zur Verfügung stehe. Und wieder einmal muss ich dem Hasen die Umstände schildern und der Hase ist aufgebrachter als ich. Ich muss sie schon mehr beruhigen, als ich mich beruhigen muss. Denn, ich muss zugeben, dass ich diesmal schon etwas mehr angespannt war und deswegen bin ich doch ein wenig unzufrieden. Ich telefoniere noch mit der Dame vom Krankenhaus, die mich angerufen hatte und deute an, dass ich doch etwas ungehalten bin und bitte gleichzeitig um Entschuldigung für meine Ungeduld.

Sie beteuert mehrfach, wie leid ihr das Ganze tut und verspricht, sich dahinter zu klemmen, dass ich möglichst schnell drankommen werde. Allerdings, ist für diese Art von Eingriff nur der Mittwoch vorgesehen und weil nun zweimal hintereinander so ein Mittwoch ins Wasser gefallen ist, herrscht natürlich großes Chaos und sie hofft, dass sich bald etwas ergibt. Nun bin ich kein Idiot. Also kein besonders großer Idiot und deshalb kann ich mir lebhaft vorstellen, was da jetzt los ist und mir ist sofort klar, dass ich jetzt in der Warteschleife hänge. Es ist Ende September und ich hoffe, dass ich bis Weihnachten durch bin.

Doch da, nach anderthalb Wochen, ein Anruf! Das Krankenhaus, man möchte mich am kommenden Mittwoch, 4. Oktober gerne behandeln. Diesmal noch eine Stunde früher als sonst. Der Gerät ist heile, der Operateur gesund und sogar ein Ersatz für ihn wäre notfalls vorhanden. Alle Achtung, man gibt sich wirklich Mühe. Ich bin beeindruckt und fast begeistert. Und ich lasse mir wieder (diesmal aber endgültig) ein paar Daumen drücken, melde mich (nun aber wirklich) bei der Arbeit für zwei Wochen ab und beruhige den Hasen und verspreche ihr, dass ich aus der Narkose erwachen werde, irgendwas ist ja immer im Garten zu tun. Und auch wenn ich noch immer keine Angst habe, bin ich doch mittlerweile etwas angespannter als beim ersten Mal.

Natürlich bin ich wieder sehr zeitig da. Ich weiß ja nicht, ob ich meine ursprüngliche Patientenaufnahme diesmal noch verwenden kann. Wenn ich deswegen also noch einmal zur Verwaltung müsste, wäre ich wenigstens früh genug dran, damit sich keine Verzögerungen ergeben. Ansonsten haben die ja alles von mir. Ich gehe zur Station und melde mich beim Schwesternzimmer. Allein die Nennung meines Namens reicht, um zu wissen, wer ich bin und was ich gerne hinter mich gebracht haben möchte. Die sehr freundliche Schwester sagt:“ Gehen Sie schon mal zum Ende des Flurs und setzen sich hin. Es wird gleich jemand kommen und sich um sie kümmern.“ Ich habe irgendwie ein Deja Vu. Mir kommt das alles so seltsam bekannt vor. Ich gehe zum Ende des Ganges (nein, nicht der Fluss in Indien) und setze mich hin auf diesen gemütlichen Stuhl.

Neben mir sitzt nicht die Frau von neulich. Wer weiß, ob die irgendwie drangekommen ist. Aber dafür sitzt ein älterer Herr, also noch älter als ich, dort auf dem Stuhl und er ist ein klein wenig merkwürdig. Er scheint mir südländischer Abstammung zu sein, türkisch vielleicht, und beginnt sofort zu reden. Jetzt aber nicht direkt mit mir und vor allem auch nicht so, dass man irgendein Wort verstehen müsste, oder könnte. Ich weiß also nicht, mit wem er redet und was er, von wem auch immer, eigentlich will. Ich glaube er weiß es selbst nicht einmal. Irgendwann dreht er sich zu mir uns sagt: „Hwoschungwürozangdelög!“ Ah ja. Ich verstehe, oder auch nicht. Er ist auch ein bisschen ungepflegt und seine graue Jogginghose ist ziemlich fleckig. Manchmal steht er auf und schleicht über den Flur. Immer dabei so ein rollendes Stativ, an dem eine Infusion hängt, die regelmäßig tropfend in seinen Arm geleitet wird. Manchmal bleibt das Stativ hängen, an einem Stuhl oder was auch immer und er geht unbeirrt weiter, solange bis der kleine durchsichtige Schlauch straff gespannt ist und die Nadel daran beinahe aus seinem Arm gerissen wird. Und ich will ihm das dann jedesmal sagen, aber irgendwie kommt er doch von alleine drauf.

Die Zeit verrinnt und ich sitze nahezu unbeweglich auf meinem bequemen Stuhl am Ende des Ganges und sehe meinem verwirrten Sitznachbarn zu, wie er super langsam über den Gang schleicht und dem Personal, das eher flitzend unterwegs ist, immer im Weg steht. Ich bin irgendwie froh, dass er geht. Aber er kommt immer wieder, setzt sich hin, redet wirr und geht dann wieder. Einmal geht er in irgendein Zimmer und ich kann nicht erkennen, ob es sein Zimmer ist. Aber irgendwie scheint er da Mist zu bauen. Eine Schwester muss mit Entsetzen feststellen, dass alles nass ist. Was auch immer nass sein sollte, es macht ihr viel Arbeit (zu all der Arbeit, die sie eigentlich schon hat) und ich glaube sie sagt ihm hundertmal, dass alles nass ist und dass es überhaupt nicht in Ordnung ist, was er da macht. Und er antwortet irgendwas, jedes einzelne Mal und keiner kann verstehen, was er sagt.

Es ist schon gruselig mit ihm. Hin und wieder, wo er so bei mir sitzt, schläft er auch ein bisschen. Uff! Nach rund anderthalb Stunden kommt ein weiterer Patient zu uns ans Ende des Ganges. Er sieht nicht viel älter aus als ich, redet erstmal nicht, was mich erleichtert. Wir knibbeln am Handy rum und warten. Irgendwann beginnt er dann doch zu sprechen. In ganzen verständlichen Sätzen, wie schön. Er ist übrigens 70 Jahre alt, wie alt zum Henker sehe ich bloß aus? Er ist hier für eine, na ich ahnte es natürlich schon, Ablation. Er hat um 10 Uhr Termin und ich eigentlich um 8 Uhr. Es ist sein erster Eingriff dieser Art und er war schon dreimal da und ist nicht drangekommen. Ach, denke ich, ein schlimmerer Fall als der meine. Was aber nicht ganz zutrifft, denn eine Terminverschiebung hat er wohl selbst zu verantworten.

Da es sein erster Eingriff ist, bekommt er die einfachere Behandlung, die nicht so viel Personal und Technik benötigt. Eine Ärztin kommt vorbei und möchte mir einen Zugang legen. Schon wieder ein Deja Vu. Sie findet auch keine Vene, die Deja Vus sind dicht gestaffelt. Aber sie klopft nicht lange herum, sondern sticht einfach mal zielstrebig zu. Und weil irgendwie nichts läuft, prökelt sie mit der Nadel unter meiner Haut. Einmal am Unterarm und einmal auf dem Handrücken. Mit der Nadel geprökelt kriegen ist nicht zwingend meine Lieblingsbeschäftigung, aber es nützt ja nichts. Ein Kollege im grünen OP Dress kommt hinzu (auch das hatte ich schonmal in ähnlicher Form). Er fragt kurz was los ist und hilft ihr und prökelt noch einmal durch die letzte Einstichstelle. Ich kenne den Arzt, der hat mich im Laufe der Jahre schon ein paarmal behandelt und er hat auch vor ein paar Wochen die Voruntersuchung bei mir durchgeführt. Ich erkenne ihn, aber für ihn bin ich einer von, keiner weiß wie vielen, Patienten und ich glaube er erkennt mich nicht, oder will mich nicht erkennen.

Er lässt die Nadel im Handrücken, die dort erfolglos eingestochen worden ist, stecken und versucht es noch einmal in der Armbeuge. Was erstaunlicherweise zu einem Erfolg führt. Er spült den Zugang durch und seine Kollegin fixiert die Nadel und das was so an Zugang an ihr hängt. Dabei lässt auch sie die andere Nadel noch im Handrücken baumeln. Vielleicht so als Sicherheit, wenn es doch irgendwie nicht klappen sollte, oder was weiß ich weswegen. Nach ein paar Minuten wird sie dann doch entfernt und ich habe einen Zugang, womit ich faktisch so weit bin, wie noch an keinem der anderen beiden Termine. Das beruhigt mich.

Die Stunden gehen ins Land und gegen 11 Uhr wird mein Sitznachbar abgeholt. Dass ich eigentlich um 8 Uhr und er eigentlich um 10 Uhr einen Termin hatte und dass er trotzdem vor mir drangenommen wird, versuche ich erst gar nicht mir zu erklären. Nach einer Weile kommt eine wieder einmal nette Dame (sie sind in der Regel wirklich sehr nett hier), und möchte meine Speisewünsche für das Abendbrot, das Frühstück morgen und auch für ein morgiges Mittagessen aufnehmen. Na, wenn das mal kein gutes Zeichen ist.

Nach fast vier Stunden auf dem Flur, ich habe meinen Sitz nicht verlassen, um ja nicht irgendeinen Arzt zu verpassen, der mich abholen wird, regt sich dann doch wirklich eine erste Ungeduld in mir. Wie gesagt, ich kann lange warten und es dauert viel länger, bis ich mich mal langweile, aber die kleine Unruhe wegen des anstehenden Eingriffs bringt mein Blut doch ein wenig in Wallung. Seit Stunden beobachte ich die Bewegungen der Beschäftigten auf dem langen Flur und ich nehme mir vor, dass ich irgendwann mal jemanden vom Pflegepersonal ansprechen werden. Und nun, nach diesen fast vier Stunden ist es so weit, ich frage einen Pfleger: “ Entschuldigung, können Sie mir vielleicht verraten, wann und wie es mit mir weiter gehen soll?“ Er fragt nicht einmal nach meinem Namen, was ich für kein schlechtes Zeichen halte und antwortet prompt, dass der Chefarzt vor dem Eingriff noch mal mit mir reden möchte.

Hui, was kann der denn wollen? Ist da irgendwas unklar mit meinen Ergebnissen aus der Voruntersuchung? Oder wollen sie heute doch eine ganz andere Methode, die brandneu ist, bei mir anwenden? Oder geht es darum, was man macht, wenn der Eingriff nicht von Erfolg gekrönt ist? Oder möchte er mich einfach mal persönlich kennenlernen? Es vergeht viel Zeit und ich höre und sehe keinen Chefarzt. Vielleicht kommt er doch nicht. Hat vielleicht eine wichtige Chefarztbesprechung oder dergleichen. Ich frage die Ärztin, die meine Venen nicht gefunden hat, ob sie mir eventuell sagen kann, wann ich endlich mal an der Reihe bin. Mit wenig Tränen in den Augen erkläre ich ihr, dass ich ja eigentlich schon um 8 Uhr bestellt war und dass mir mittlerweile schon Bart gewachsen ist. Sie hört mir gar nicht bis zum Ende zu und erläutert mir kurz und sachlich (nicht übertrieben freundlich), dass „die vom Op sich melden“ und dass man hier keinen Einfluss darauf hat, wann das sein wird. Ich denke an die schlimmen Fälle, die es wahrscheinlich geben wird, und gehe wortlos zu meinem Stuhl am Ende des Ganges, um meinem südländischen Sitznachbarn beim Verwesen zuzusehen.

Doch da, es ist noch derselbe Tag (glaube ich zumindest) erscheint gottgleich der Chefarzt am Horizont dieses langen Flurs. Ich vermute zumindest, dass er es ist, so weit kann ich nicht sehen. Er geht kurz ins Schwesternzimmer, kommt nach einer halben Minute wieder raus. Er blickt zielstrebig in meine Richtung und kommt mit wehendem Kittel auf mich zugeschwebt. „Herr Daus?“ ruft er fragend durch den Flur. Na, das ist doch mal gut, der erste, der sich direkt an mich wendet, seit einigen Stunden und dann noch der Chef vom Ganzen. Fühle mich gebauchpinselt. Er setzt sich zu mir und beginnt zu reden.

Er klärt mich über die anstehende Untersuchung (bei dem Eingriff redet man hier immer von einer Untersuchung) und die ganzen Gerätschaften, die dazu notwendig sind, um ein bestmögliches Ergebnis zu erhalten. Das finde ich sehr nett, dass er mir das noch einmal erklärt, aber ich hatte schon so eine Behandlung und weiß im Groben, was auf mich zukommt. Mir schwant in diesem Moment etwas. „Und weil wir eben diese bestmögliche Versorgung garantieren können, benötigen wir auch einen erhöhten Personalaufwand. Sie kennen das und sind beim letzten Mal ja nicht drangekommen, weil ein notweniger Operateur krank war.“ Ja, ich erinnere mich bestens. Aber, was will er mir sagen? „Komm endlich auf den Punkt!“, denke ich und das was mir schwant ist ein riesengroßes Schwanendes geworden. Sollte es wirklich wahr sein? Kann sowas angehen? Gibt es das echt?

Ja, es gibt sowas in Wirklichkeit. „Leider muss ich ihnen mitteilen……“, sagt er und ich klinke mich kurz aus….., “ dass der Techniker, der die Gerätschaften überwacht und bedient, uns heute versetzt hat. Er hat sich krankgemeldet.“ Es folgt eine großangelegte Ungläubigkeit meinerseits und mein Puls ist erhöht. Ist das vielleicht die Taktik, dass man meine Pumpe auf Höchstleistung bringt, um den Rhythmus auf natürlichem Wege wieder herzustellen? Oder ist hier irgendwo eine versteckte Kamera? Kommt gleich die Auflösung, dass ich zum Opfer bei „Verstehen sie Spaß“ geworden bin? Wer moderiert das eigentlich aktuell? Ist das wichtig? Warum stelle ich mir überhaupt diese Frage? Ist es eine Art Schock?

Ich gebe dem Chefarzt zu verstehen, dass ich doch eine gewisse Enttäuschung, irgendwo in meinem Inneren, verspüre und äußere ein gewisses Unverständnis. Dieses hat er nicht. Er versteht mich sehr gut und sagt: „Ich bin ja schon froh, dass Sie mir keine reinhauen wollen.“ Ein Gedankengang, den ich noch nicht gehabt habe. Noch nicht. Aber was hätte ich davon, wenn ich ihn niederschlagen würde? Klar, dann wäre er wenigstens genauso niedergeschlagen wie ich im Moment, aber es würde unsere Vertrauensbasis doch wirklich etwas belasten. Angesichts der Tatsache, dass er mich, wann auch immer das sein wird, operiert, lässt mich ruhiger erscheinen, als ich es in Wirklichkeit bin. Er entschuldigt sich tausendmal und bietet mir an, am nächsten Mittwoch an die Reihe zu kommen. Als allererster Patient und er persönlich habe mich in den Plan eingetragen.

Ich bin perplex und auch die Information, dass ich mit drei Absagen hintereinander einsamer Rekordhalter bin, hilft mir nicht so richtig weiter. Wir plaudern noch ein bisschen und ich erkläre ihm, warum das jetzt scheiße für mich ist und er versteht und erklärt, warum das für ihn auch scheiße ist. Wir sind kurz davor uns weinend in den Armen zu liegen. Ich werde den angebotenen Termin wahrnehmen, was bleibt mir genaugenommen auch anderes übrig? „Ich komme dann rum und bleib solange sitzen, bis ich behandelt wurde!“, sage ich und wir beide wissen, dass ich das nicht tun werde. Er geht seinen Pflichten nachkommend wieder an die Arbeit und ich mache mich von dannen. Angetan davon, wie gemütlich der Stuhl doch ist und ziemlich erregt, weil ich mal wieder allen sagen muss, was los ist.

Als erstes rufe ich den Hasen an. Sie ist tausendmal aufgeregter als ich und wird laut am Telefon. So laut, dass sich meine Ohren durchgeblasen anfühlen. Auch der Rest der Leute, denen ich es erzähle, ist irgendwie noch aufgebrachter als ich. Aber immerhin, kann ich einen neuen Termin bekanntgeben und lasse mir die Daumen (aber sowas von endgültig) drücken, bereite meinen Arbeitgeber (zu hundert Prozent sicher) darauf vor, dass dann für zwei Wochen ausfallen werde. Und ich garantiere dem Hasen, dass ich aus der Narkose erwachen werde. Es wartet ja schließlich ein Garten auf mich.