Ich habe gefühlt zweimal gezwinkert. da ist auch schon wieder eine Woche um. Wie schnell das doch geht, obwohl die Zeit hier eigentlich stillzustehen scheint. Eine Woche und es geht mir unverändert gut, was ja auch unverändert gut ist, aber trotzdem will das Herz noch nicht richtig schlagen. Man hat mich zunächst mit der hohen Dosis des Medikaments auf eine Kardioversion einstimmen wollen. Das sollte das Ergebnis der Behandlung unterstützen. Also musste ich am Montag nüchtern bleiben, damit der Eingreifende mit dem Eingriff eingreifen kann. Die Zeit bis Montag war dann auch ohne große Zwischenfälle und Höhepunkte verlaufen.
Ich lernte meinen Nachbarn ein bisschen kennen. Er ist Baujahr 1931 und ein Russlanddeutscher schwäbischer Abstammung, der erst in einer Art deutschen Kolonie in Russland gelebt hatte, dann nach Sibirien deportiert wurde (17 Tage im Viehwaggon) und da dann solange lebte, bis er nach Deutschland kam. Deswegen hat er ein bewegendes Leben hinter sich und spricht ein undeutliches Deutsch mit starkem russischen Einschlag und ausgeprägtem schwäbischen Akzent. Er spricht auch noch sehr leise, weswegen wir nicht allzu viel miteinander reden. Natürlich könnten wir, aber es ist für beide Seiten etwas anstrengend sich zu verständigen. Man versteht einen Schwaben an sich ja schon nicht, und dann noch mit russischem Akzent versetzt ist so, als würde ich mit vollem Mund bayrisch sprechen.
Also verbringe ich die Zeit in einem Zimmer, mit einem Mann, mit dem ich nicht viel rede und einem ausgeprägten Nichts. Denn es passiert wirklich nichts. Es ist, als ob die Zeit hier ins Zimmer kommt und erschöpft niedersinkt. Im Gefängnis in einer Einzelzelle ist wahrscheinlich mehr Leben. Und ich finde es eigentlich super. Darf man ja gar nicht sagen, aber das Gefühl, sich um nichts kümmern zu müssen und einfach den Moment erleben, rein und unverfälscht, ist schon besonders. Natürlich würde mir ein anderes Ambiente besser gefallen, zu Hause (mit dem Hasen), auf jeden Fall, oder in einem schönen Hotel (natürlich auch mit Hasen), das schön gelegen ist, oder auf einem hohen Berg sitzend (mit dem Hasen nur, wenn eine Seilbahn hochführt), aber zu Hause hat man immer etwas zu tun, das schöne Hotel in der schönen Lage lädt dazu ein, die Schönheit aktiv zu genießen und auf den hohen Berg muss man auch erstmal rauf kommen. Hier im Krankenhaus in diesem Zimmer gibt es nichts Erstrebenswertes, das für irgendeine Abwechslung sorgt. Dafür ist man selbst zuständig.
Und deshalb sehe ich, dass ich nie im Leben so viel Zeit mit mir verbringe, wie hier. Ich könnte in weitaus schlechterer Gesellschaft sein. Natürlich auch in weitaus Besserer, aber für eine Weile ist das schon in Ordnung. Alleinsein macht nur dann Spaß, wenn man weiß, dass man nicht alleine ist. Klingt komisch, ist aber so. Mein Zimmergenosse ist wie gesagt, sehr friedlich und macht eigentlich keinen Unsinn. Aber ein bisschen aufpassen muss ich schon. Er wird in der ersten Zeit hauptsächlich per Tropf ernährt und ist deswegen auch geschwächt. Manchmal steht er auf und möchte zur Toilette. Dann muss ich ihm erstmal erklären, dass da noch ein Schlauch an ihm hängt. Und glücklicherweise hört er dann auf mich und ich rufe eine Schwester, die ihn abkabelt. Manchmal nachts, wenn er an keinem Schlauch hängt, steht er auch auf und tippelt mit kleinen Schritten um sein Bett rum. Im Dunkeln, also in dem hellen Dunkel eines Krankenhauses. Dann mache ich das Licht an und muss ihm auch da ein paar Sachen erklären. Dass meine Schuhe, die an meinem Bett stehen, nicht seine Schuhe sind (wären ihm eh zu groß) und dass das Waschbecken in unserem Zimmer kein Urinal ist. Glücklicherweise ist er jedesmal einsichtig.
Deswegen schlafe ich auch die zweite Nacht nicht besonders ruhig hier. Für die dritte Nacht lasse ich mir etwas geben. Man fragt hier jeden Abend, ob man etwas zur Nacht braucht und in der Regel lehne ich dankend ab. Aber zwei schlechte Nächte haben mich schwach werden lassen. Ich habe mir einen Tagesablauf angewöhnt. Ich lese und schreibe abwechselnd, höre manchmal Musik und eine Serie streamen gibt es erst nach dem Abendessen. Das meiste davon erledige ich am Laptop, außer beim Lesen, da greife ich auch zu einem Buch. Aber ich verbringe halt viel Bildschirmzeit und immer wenn eine Schwester reinkommt, denkt die, ich streame irgendwas, oder ziehe mir Krawall TV rein. Sollen sie es ruhig glauben. Jedenfalls nehme ich zur dritten Nacht mal was zum besseren Schlafen.
Vielleicht verschont mich das auch vor dem schreienden und jammernden Typen aus dem Nachbarzimmer, der anscheinend auch länger hier ist. Wenn er manchmal ein ausgedehntes „Aaaaarrrrggghh“ durch die Nacht ertönen lässt, dann erinnert mich seine Tonart irgendwie an die deutsche Synchronstimme von Stan Laurel, wenn er aufgeregt ist. Das verleiht dem Ganzen eine tragisch komische Stimmung. Tragisch, weil der Gute natürlich nicht so richtig bei sich ist und man nicht weiß, welche fehlenden Hirnwindungen dafür zuständig sind, dass er sich nicht unter Kontrolle hat. Das tut mir leid und ich wünschte ihm, es wäre anders. Aber es klingt trotzdem auch irgendwie lustig, weil immer Stan Laurel vor meinem Auge auftaucht.
Eine halbe Stunde, bevor ich Nachtruhe haben will, soll ich es einnehmen, dieses traumhafte Mittel. Das mach ich auch und lege mich hin und warte. Ich sehe auf die Uhr im Zimmer, die trotz der „Dunkelheit“ gut zu erkennen ist und nach einer halben Stunde ist nichts passiert. Ich bin noch wach. Auch eine viertel Stunde später hat sich noch nichts getan. Wahrscheinlich bin ich resistent dagegen, denke ich um 22.25 Uhr und führe den Gedanken morgens um fünf, als ich erwache, wieder weiter. Okay, es hat geholfen, ich habe geschlafen und Stan Laurel verpasst. Die Tage verschwimmen ein wenig und am Samstag bekomme ich keinen Besuch. Das macht mir nichts. Alle haben mal was vor und ich möchte auch nicht, dass sich irgendwer ein Bein für mich ausreißt. Ich war schonmal zu Corona hier, da gab es keinen Besuch, das ging dann auch mal.
Das Klopfen an der Tür ist die einzige Abwechslung, die man hat. Dann gibt es entweder Essen (was immer ein Höhepunkt ist), oder man nimmt die technischen Daten auf (habe einen hervorragenden Blutdruck, jeden Tag), oder man bringt mich zum EKG (was dann sowas wie ein Ausflug ist), oder aber irgendein Arzt kommt rein und sagt, was gemacht wird (Kardioversion am Montag und ich möge da doch morgens gleich nüchtern bleiben). Entscheidend ist also die Zeit zwischen den einzelnen Klopfen (habe ich da jetzt den Plural richtig gebildet? Bitte notfalls um besserwisserischen Ergänzungen). Das Warten, das unendlich scheinende Warten. Die Zeit die sich zäh wie der Käse beim Fondue hinzieht und einfach nicht vergeht. Glücklicherweise fülle ich jeden Augenblick mit Sachen dir mir Spaß machen. Beim Lesen einschlafen, beim Sudoku fast einschlafen, beim Schreiben andere einschläfern, ach die Palette ist groß und die Gelegenheit wird mir hier genügend gegeben.
„Mein“ Opa wir immer fitter und kann mittlerweile auch schon essen und er redet auch etwas mehr. Aber das hält sich in Grenzen. Wenn seine Decke mal verrutscht, decke ich ihn zu, wenn er sich eine Pulli anzieht, dann ziehe ich dem auf dem Rücken runter und wenn er gegessen hat, bringe ich sein Tablett ebenso weg, wie ich es mit meinem mache. Kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so hilfsbereit war. Auch dafür hat man hier mal Zeit. Opa kriegt zweimal Besuch. Jedesmal vier Leute, Männer und Frauen, wobei sie die ganzen anderthalb Stunden, die sie bleiben, nicht wissen, ob sie sich hinsetzen oder stehenbleiben sollen. Da ich so eine Art Überwachungsgerät für meine Herztätigkeiten trage, ist es nicht so einfach, die Station zu verlassen und der Flur hier ist auch nicht der Burner. Den kenne ich ja schon zur Genüge. Also bleibe ich liegen, während der Besuch da ist und habe meine Kopfhörer, um nicht mithören zu müssen, was die sich alle zu erzählen haben. Das einzige was mir auffällt ist, wie schnell die Luft hier doch verbraucht ist, wenn mal ein paar Leute mehr hier sind. Corona hatte doch auch seine guten Seiten.
Das Ereignis am Sonntag sind zwei Kugeln Malaga Eis, die mir meine drei Lieben bei ihrem Besuch mitbringen. Der Besuch ist natürlich auch ein Ereignis, aber Malaga Eis…das ist doch was. Wir sitzen in einer ungemütlichen Ecke, direkt neben der Station und der Hase überprüft mal wieder meine optische Gesundheit. „Du hast eine blaue Nase!“ Ich glaube das war schon fast die Begrüßung. „Na und?“ „Das solltest Du abklären lassen!“ „Nee, das werde ich nicht!“ „Aber die Nase ist schon blau.“ „Weil sie auch kalt ist. Ich liege am offenen Fenster und draußen ist es kalt geworden, daran wird´s liegen.“ „Ja wahrscheinlich“, sagt der Hase. Ich spreche mit ihr und den Kindern über dies und das und die Stimmung ist gut. „Aber blau ist sie doch.“ „Hase!“ „Ich mein ja nur, nicht dass da noch was Schlimmes hinter steckt.“ Du kannst noch so gesund sein, wenn der Hase meint, die Nase ist blau, dann ist Gefahr im Verzug ob die Gefahr das nun will oder nicht.
Am Sonntag hatte ich noch eine Visite, die die Eigenart aufwies, dass der Arzt schneller wieder draußen war, als er geklopft hatte. Ich weiß nicht einmal, ob er überhaupt die Tür losgelassen hat. Ich konnte noch die kurzen Anweisungen: „Morgen Kardioversion, nüchtern bleiben!“ aufschnappen. Kurze und knappe Befehle eiligst ausgesprochen, ich fühlte mich wie zu Hause. In der Nacht zum Montag schlafe ich wieder etwas schlechter, trotz Pille. Wahrscheinlich macht mich dieses „nüchtern bleiben“ ein bisschen nervös. Aber ich bleibe standhaft und werde wieder früh wach und harre der Dinge, die da kommen mögen.
Frühstück. Frühstück, das ist es was kommt. Es ist gegen 10 Uhr als der Arzt vorbeikommt und mir sagt, dass meine Kardioversion heute nicht stattfinden kann. Das Mittel, das man mir in den letzten Tagen verabreicht hat, hat den Puls gesenkt. Eine normale Nebenwirkung, aber wenn der Pulsschlag zu niedrig ist, dann macht der Arzt die Kardioversion nicht. Er spricht von dem Risiko, das er nicht eingehen möchte und ich habe keinen Anlass ihm widersprechen zu wollen. Risiko im Zusammenhang mit dem Herzen ist eine Sache, die selbst ich nicht auf die leichte Schulter nehme. Also setzt man das Mittel wieder ab und hofft, dass ich am Dienstag rankomme.
Der Hase besucht mich, ignoriert meine blaue Nase (vielleicht ist sie heute ja eher grün) und ich kann ihr aus erster Hand erklären, wie die Fortschritte sind – nämlich gar nicht. Eigentlich ist das alles irgendwie gegensätzlich, wie ich finde, aber es nützt ja nichts. Also bleibe ich noch eine Nacht hier, warte auf meine Kardioversion und auf Opa am Waschbecken mit halb heruntergelassener Hose und auf Stan Laurel, wie er mich in den Schlaf jammert. Ich bemerke kaum, dass ich schon beinahe eine Woche hier bin und irgendwie habe ich den Bezug zur Außenwelt verloren. Das Krankenhaus hat mich assimiliert. Ich bin eins geworden mit dem Gemäuer, mit der Station, mit dem Zimmer und mit dem Bett, dessen Kopfkissen irgendwie zu klein ist.
Dienstag wache ich beinahe spät auf (6.11 Uhr), gehe duschen und warte darauf, das Opa und die Station erwachen. Meine Klimawerte werden genommen und bis auf einen zu hohen CO2 Ausstoß auf Toilette ist alles in Ordnung. Auch der Puls ist hoch genug, um eine Kardioversion durchführen zu können. Das ist gut. Also bleibe ich dem Frühstück fern und warte. Warten ist ja der Volkssport hier. Aber das macht mir immer noch nichts. Der Hase würde hier verrückt werden. Ich werde zum EKG gebracht und man spricht davon, dass man eventuell mein Bett noch gleich runter bringen könnte, damit ich schon drin liege, wenn man mich einmal unter Strom setzt. Aber ich muss wieder nach oben. Ich beantworte pausenlos Whats App Nachrichten, die nach meinen Fortschritten fragen. Ich verspreche der Familie zu schreiben, wenn es los geht.
Stunden vergehen und mein Bart wird langsam länger. Opa wird zu einer Untersuchung gebracht und ich bin nun ganz allein im Zimmer. Weg kann ich nicht, weil keiner weiß, wann man mich abholt. Ich beginne zu denken, daran, dass ich im normalen Arbeitsalltag irgendwo zwischen 8.000 und 12.000 Schritten am Tag mache. Manchmal auch 14.000. Heute habe ich wahrscheinlich 79 gemacht. Ich bin unterbewegt und deswegen gehe ich ein bisschen im Zimmer auf und ab. Das ist aber auch nicht zielführend. Man kommt ja nirgendwo hin. Doch dann, ein Klopfen. Hui, das ging ja beinahe mal schnell. Zwei Schwestern aus dem Kardiologiezentrum im Untergeschoss kommen um mich zu holen. Eigentlich sollte ich schon längst unten sein, aber der Transportdienst ist heute gravierend unterbesetzt. Naja, ist dann halt so, Hauptsache es geht irgendwie los.
Ich verbringe noch eine ganze Weile in meinem Bett im Wartebereich, bevor ich ins Behandlungszimmer komme. Dort muss ich noch eine Einverständniserklärung unterschreiben, deren ungefähren Text ich ja schon kenne, muss man immer. Das ist wie das Akzeptieren von Cookies, kein Schwein liest sich das mehr durch. Ich werde in ein anderes Behandlungszimmer geschoben, weil man in dem, wo ich bisher war, den Ultraschall benötigt. Ich liege und warte und werde verkabelt und warte und werde irgendwie noch beklebt. Man redet mit mir und der Medizinstudent soll mir einen Zugang legen, der arme Teufel. Er scheitert nach einigen Versuchen und ich habe vollstes Verständnis.
Der behandelnde Arzt kommt rein und sieht das Dilemma. Er zögert nicht lange und sucht Ultraschall nach einer Vene. Meine Venen haben sich anscheinend versteckt. Er wird fündig, muss aber auch wieder prökeln, bis er vernünftig drin ist. Man schickt mich wieder mal in einen Kurzschlaf und wieder einmal denke ich ganz fest daran, dass ich gleich, beim Erwachen keinen Müll reden will. Aber so kurz der Schlaf auch ist, man vergisst sofort alles, was man sich direkt davor vorgenommen hat. Bis man dann wieder ein bisschen dämmert, ist schon ein wenig Zeit vergangen und da weiß ich nicht, was ich gesagt habe. So ist das erste, was ich sage: „Habe ich eigentlich irgendeinen Unsinn erzählt, als ich aufgewacht bin?“ „Sie haben sich mehrmals entschuldigt, sonst nichts“, sagt die Schwester. Wenigstens keine flachen Witze gerissen, oder Cola Korn bestellt, denke ich und frage mich, wofür ich mich wohl entschuldigen wollte.
Das Ergebnis ist, wie ich eigentlich schon erwartet habe, nicht positiv. Eher so negativ. Es war also die Haustieredition: alles für die Katz! Glücklicher macht das nicht. Ich werde in den Flur geschoben, wo ich auf eine Abholung in Richtung Station warten muss. Es stehen noch drei Betten neben mir und eine Frau sagt, dass sie schon seit zwei Stunden hier liegt. Das lässt hoffen (Ironiealarm). Es ist jetzt schon weit nach Mittag und ich bin noch nüchtern. Ich habe einen Anflug von Hunger. An der Wand ist ein überdimensionaler Fernseher, auf dem ein Kochshow gezeigt wird. Und so liege ich da, ein bisschen hungrig und sehe mir auf dem überdimensionalen Fernseher an, wie überdimensionale Gerichte gezaubert werden, die alle überdimensional lecker aussehen. Ich finde das überdimensional fies. Mein Kopfkissen wirkt für einen Moment appetitlich auf mich.
Doch schneller als gedacht, kommt die Erlösung. Innerhalb von wenigen Minuten werden die drei anderen Betten abgeholt und kurz darauf schiebt mich eine zierliche junge Dame auf die Station. Wir kommen gerade aus dem Fahrstuhl, da steigt der Hase auch aus einem anderen Fahrstuhl. Das nenne ich Timing. Ich bin mit dem Hasen auf dem Zimmer. Opa, der heute auch seinen 92. (!) Geburtstag hat, wird gerade entlassen und ich bekomme einen Nachfolger, der noch einiges jünger ist als ich. Zusammengefasst, bin ich wieder genau da, wo ich vorher war. Weder die Ablation noch die Kardioversion haben Erfolg gehabt und es bleibt mir nichts weiter übrig als zu warten, wie es weiter geht. Behält man mich hier und gibt mir wieder dieses Mittel? Kann ich nach Hause und muss dann irgendwann nochmal für irgendeine Behandlung hierher? Muss ich mit dem Herzgestolper leben? Kann ich das so einfach? Gibt es noch irgendwelche Methoden, von denen ich keine Ahnung hatte?