Schwalben im Sommer

Ich weiß ja nicht, ob man in seinen Erinnerungen die Dinge manchmal etwas verklärter betrachtet, aber irgendwie kann ich  nicht umhin, einige Veränderungen im Fußball wahrzunehmen und es sind keine Guten.  Es ist doch eigentlich so, dass da 22 sportliche Athleten auf dem Feld stehen und sich in der Hauptsache damit beschäftigen, einen Lederball übers Feld zu bewegen und im günstigsten Fall auch das ein oder andere Tor zu schießen. Das heißt eigentlich stehen die Athleten nicht, sie bewegen sich. Sie laufen, sie dribbeln, sie schießen oder sie sind mit intensiven Zweikämpfen beschäftigt. So war es zumindest früher. Oder so denke ich, dass es in etwa gewesen ist. Heute ist das eher eine theoretische Betrachtungsweise, die  auch gerne mit Statistiken unterstützt wird, die dem Zuschauer erklären, wer da alles wie weit gelaufen ist und wer wie viele Pässe gespielt hat und wer mehr aufs Tor geschossen hat und so weiter.

Was mir bei dieser WM fehlt, ist die Statistik, die aufzeigt, wer da wie lange heulend auf dem Rasen gelegen hat und warum. Mit Tränendrüsenradar und Rasenabriebsanzeige.  Es ist ja nicht so, dass es keine Fouls gibt. Manche davon wahrscheinlich auch etwas schmerzhafter. Das will ich ja gar nicht abstreiten. Aber ich denke mal, dass es den gefoulten Spielern zu 99% möglich wäre, kurz inne zu halten, aufzustehen und vielleicht noch einen Moment lang zu humpeln, bis der Schmerz nachlässt, um dann weiter zu spielen. Man könnte auch boshafter sagen, dass sie einfach das tun sollten, wofür sie so einen Arsch voll Geld für kassieren.

Was aber passiert wirklich? Ein Foul geschieht. Obwohl das auch nicht unbedingt zwingend nötig ist. Der Gefoulte, oder der angeblich gefoulte Spieler landet nach einer spektakulären Flugphase auf dem Rasen, wo er zunächst einmal liegen bleibt. Er wälzt sich und krümmt sich vor Schmerzen, wie man seinem Gesicht  deutlich ansehen kann. Nun, da das Ableben diese Spielers offensichtlich kurz bevor steht, gibt es mehrere Varianten. Ein erster Ausgangspunkt wäre folgende Szenerie.

Der Schiedsrichter ist der Meinung, dass das Lebensende des Dahinsiechenden innerhalb der Spielzeit nicht zu erwarten ist und lässt weiterspielen. Worauf sich für das Häufchen Elend auf dem Rasenboden zwei Möglichkeiten ergeben..

.a) Er erkennt, dass sich keine wichtige Spielsituation für ihn ergibt. Also gibt er sich weiter seinem unfassbar großen Schmerz hin. Solange, bis der Schiedsrichter eine Gelegenheit findet, das Spiel zu unterbrechen und den Mannschaftsarzt auf das Feld zu lassen. Anhand des äußeren Zustandes des Spielers ist Schlimmstes zu erwarten und die ärztliche Abteilung macht sich auf eine Notoperation gefasst, in deren Verlauf das wahrscheinlich abgetrennte Spielerbein wieder angenäht werden kann. Es kann allerdings in dieser Hinsicht Entwarnung gegeben werden, da der Spieler noch über beide Beine verfügt. Da hat man nochmal große Glück gehabt. Mit vereinten Kräften wird das Opfer an den Spielfeldrand gebracht, wo es zu einer spontanen Wunderheilung kommt und der sehr, sehr, sehr tapfere Spieler sich aufrichtet und den bisher ach so offensichtlichen Schmerz unterdrückt und wieder auf das Feld geht, um einer jungen Gazelle gleich, über das Spielfeld zu hüpfen. Hut ab vor soviel Heldenmut.

b) Der vor Schmerz fast wahnsinnig werdende Spieler erkennt, dass er dem Spiel wichtige Impulse setzen kann, oder setzen muss. Ein Angriff auf das gegnerische Tor, oder eine Abwehraktion, bei der er gebraucht wird. In diesem Moment schießt höchstwahrscheinlich Adrenalin in rauen Mengen durch seine Blutbahn und lässt ihn komplett vergessen, wie schlecht es ihm doch eigentlich geht. Er springt auf, ignoriert seine Pein und hüpft, einer jungen Gazelle gleich, über das Spielfeld. Das ist ja noch viel mutiger.

Viel lieber wäre dem Spieler aber, dass der Schiedsrichter sich sofort große Sorgen um ihn macht und er dem Geschundenen einen Freistoß zugesteht. Die Krönung wäre dabei noch eine gelbe oder rote Karte für den Gegner, der ihn zwar eigentlich nicht großartig berührt hat, aber das tut nichts zur Sache. Ein Schelm, wer hier von Unsportlichkeit redet. Und wenn es so ein Superstar wie Ronaldo, oder Neymar macht, dann ist das wahrscheinlich eine Komponente in der Genialität seines Spiels. Ich warte noch auf den Augenblick, in dem mir aufgezeigt wird, was daran so toll ist und warum so eine Tränendrüse mehr Geld wert sein soll, als manch kleines latainamerikanisches Land als Bruttoinlandsprodukt erwirtschaftet. Aber mir fehlt oftmals der rechte intellektuelle Zugang  für derlei Dinge.

Eine weitere Statistik könnte auch noch für das Armwedeln ins Leben gerufen werden. Das Armwedeln ist die dezente Ausdrucksweise eines Spielers darüber, dass er mit einer Schiedsrichterentscheidung nicht ganz konform geht. Begleitet wird das Wedeln oftmals auch mit unterstützenden Maßnahmen, wie dem Rollen der weit aufgerissenen Augen oder einiger Verbalattacken, deren Wortlaut man vielleicht nicht versteht, aber es ersichtlich wird, dass der aufgebrachte Fußballer nicht vom Frieden auf der Welt oder einer schönen Blumenwiese spricht.

Und es wurde häufig gearmwedelt bei dieser Weltmeisterschaft bisher. Eigentlich gab es kaum eine Entscheidung, die nicht irgendwie angezweifelt wurde. Genaugenommen wird nur der Anpfiff des Spiels nicht angezweifelt, aber auch da bin ich mir nicht mehr ganz sicher.  Gerne steigert sich das Ganze zu einer Art Rudelbildung, mit eingehendem Argumentenaustausch der aufgebrachten Spieler mit dem Schieds- oder Linienrichter. Auch ein schmerzverkrümmter Spieler der am Boden liegt, unterbricht hier zuweilen gerne mal seine tränenreiche schauspielerische Glanzleistung, um sich in den Gedankenaustausch einzubringen. Unterstützt wird das Ganze von einem Trainer, der einer Herzattacke nahe ist und ebenfalls schimpft wie ein Rohrspatz. Manchmal kommt noch die gesamte Reservebank dazu, um ihren Trainer beim Schimpfen zu unterstützen. Das alles führt manchmal zu zwei Gedankengängen.

Wenn man soviel Energie aufbringen kann, warum verwendet man sie nicht auf das Spiel? Wäre es nicht wichtiger zu Laufen, als zu lamentieren? Ist das jetzt zu polemisch? Wenn ja, dann sollte es so sein.

Hat es jemals den Fall gegeben, dass ein Schiedsrichter seine Entscheidung zurücknimmt, weil er vom aufgebrachten Mob auf dem Feld bepöbelt und beschimpft wird? Ich glaube nein. Fragt sich nur, warum all diese Aufregung? Natürlich gibt es auf Fehlurteile, aber auch die werden meines Wissens nicht revidiert, wenn ein gewisser Lautstärkepegel erreicht wurde. Von dem neuen Videoassistenen mal ganz abgesehen.

Eine anscheinend sinnvolle Einrichtung, um bei Fehleinschätzungen des Schiedsrichters korrigieren zu können. Komischerweise hat das aber keine Auswirkung auf das immer beliebter werdende Schiedsrichter-Anbrüllen oder auf Nickligkeiten und Unsportlichkeiten der Spieler. Wer das Achtelfinale zwischen England und Kolumbien gesehen hat, wird wissen was ich meine. Es wäre eigentlich schon eine Schande gewesen, wenn Kolumbien gewonnen hätte, die erst in der Verlängerung Fußball gespielt haben. Davor war der Fußballerdreikampf: Hinfallen, Heulen und Pöbeln. Da die Engländer in Teilen auch nicht besser waren, ist es eigentlich auch eine Schande, dass sie weiter gekommen sind. Auch wenn es leicht verklärt klingt, aber früher brauchte man nur einen Schiedsrichter und zwei Linienrichter, um ein Spiel zu leiten. Heute muss da noch der vierte Richter sich von den Trainern und Auswechselspielern beschimpfen lassen und dann sind da noch die Videoassistenten. Also sind beinahe mehr Schiedsrichter tätig, als Spieler auf dem Feld sind.

Wahrscheinlich begründet sich das alles mit dem modernen Fußball, der heutzutage gespielt wird. Und wenn das, was Kolumbien und eigentlich fast alle Mannschaften so treiben, für den modernen Fußball steht, dann hätte ich gerne wieder den altmodischen Fußball zurück. Einer bei dem es weniger wichtig ist, wieviel Tatoos ein Spieler hat und wie oft er in Verlauf eines Turniers sein Hairstyling ändert, oder welche Sonnenbrillenkollektion er vermarktet und am Spielfeldrand auffallend gern zur Schau trägt. Ich hätte lieber ein Fußballspiel  mit Laufen und Kämpfen und Aufstehen anstatt liegen bleiben und vielleicht auch irgendwie hart aber fair gespielt.

Aber das ist wahrscheinlich utopisch. Doch halt, das stimmt nicht ganz. Denn ich habe schon eine Welt- oder Europameisterschaft gesehen, bei der genauso gespielt wurde. Man schenkte sich nichts auf dem Platz und manchmal wurde auch rüde gefoult. Wobei die gefoulte Person sofort wieder aufgestanden ist, sich kurz schüttelte und weiter ging´s. Das fand ich wirklich toll muss ich sagen. Da waren noch richtige Kerle auf dem Platz. Auch wenn das jetzt nicht ganz richtig ausgedrückt ist, denn es war eine Frauen WM. Und wenn es noch einer Erklärung bedurft hätte, warum Frauen die Kinder kriegen und nicht die Männer, hier ist sie. Neymar wäre gestorben. Und das noch neun Monate vor der Entbindung.

Und einen dritten Gedanken möchte ich noch hinzufügen. Wenn die Schiedsrichter im Allgemeinen so schlecht pfeifen würden, wie die Spieler, von denen sie beschimpft werden, spielen, dann hätte man eben diese Schiedsrichter mit Fackeln und Mistforken bewaffnet aus dem Stadion gejagt. Und das ist es auch, was mich an der ganzen Meckerei so extrem stört. Wenn wenigstens schlecht gepfiffen würde. Aber bei dieser WM sind die Schiedsrichter im Allgemeinen die einzigen, die ihre Leistung auf dem Platz bringen. Und wenn so ein Kerl wie der Trainer der Serben im Nachhinein sagt, dass der Schiedsrichter nach Den Haag vor das Kriegsverbrechertribunal gestellt werden müsste und das alles wegen einer strittigen Elfmeterentscheidung, dann müsste so ein Trainer von so einem Turnier in Zukunft ausgeschlossen werden. Aber wahrscheinlich sehe ich das nicht in dem richtigen Zusammenhang.

Und dann war ja da auch noch das Ende der Welt. Deutschland fliegt raus in der Vorrunde. Kann ja auch mal vorkommen. Allerdings wohl nicht in Deutschland. Wir können es als Volk offensichtlich nicht akzeptieren, dass andere Mannschaften auch einfach mal besser sind als wir. Oder dass wir einfach mal schlechter waren. Jeder der länger in einem Mannschaftssport gespielt hat, wird so eine Phase kennen. Eine Zeit in der einfach nichts mehr richtig läuft und in der die Dinge, die sonst immer klappen, einfach nicht mehr hinhauen.

Ein Vorrundenaus ist sicherlich nicht das, was irgendwer jemals erwartet hat. Weder Spieler, noch Fans und Zuschauer und erst recht nicht all die Experten, die aus jeder Ecke gekrochen kommen, wenn eine Weltmeisterschaft ist. Eben jene Leute, die wahrscheinlich selbst schon auf solchen Turnieren gespielt haben und noch wahrscheinlicher auch irgendwann mal so richtig scheiße gespielt haben. Nur haben sie das jetzt vergessen und sind nun mit einer Allwissenheit gesegnet, die dem normalen Menschen den Atem verschlägt. Am liebsten habe ich bei solchen Gelegenheiten die Reporter, die mit so sinnfreien Fragen aufwarten wie:  Sie haben verloren und schlecht gespielt. Woran hat´s gelegen? War der Gegner besser, oder reichte das eigene Vermögen nicht aus? Können Sie auch taktische Fehler ausmachen?

Fragen über Fragen und das alles am Spielfeldrand, wo dem gebeutelten Fußballprofi eine Leere im Kopf erreicht hat, die verhindert, irgendetwas zu denken. Vielleicht ist er auch nur maßlos enttäuscht, man weiß es nicht. Als die deutsche Mannschaft wieder daheim ankam wurden sich naturgemäß auch mit Fragen bombardiert. Eine davon an Manuel Neuer, der gerade gesagt hatte, wie leid es ihm und der Mannschaft tut. „Schämen Sie sich?“ Was für eine bescheuerte Frage. Was soll man darauf antworten? Klar haben die einfach scheiße gespielt und natürlich sind das alles verwöhnte und überbezahlte Weicheier, aber ich glaube nicht, dass einer von ihnen mit dem festen Vorhaben  nach Russland geflogen ist, sich dort derart blamabel nach der Vorrunde zu verabschieden. Es ist halt mal scheiße gelaufen. Nächstes Mal klappt es besser. Und wenn nicht, dann ziehen Mario Basler, Lothar Matthäus und Franz Beckenbauer die Fußballschuhe wieder an und zeigen allen, wie es geht. Moderiert von Waldemar Hartmann, der auch alles irgendwie besser weiß. Obwohl es schon zweimal bei Günter Jauch belegt wurde, dass er wenig Ahnung vom Fußball hat.