Ein Happy End ist immer der Teil an einem Film oder Roman, der mir persönlich am besten gefällt. Die Probleme und Widrigkeiten, die es in einer Geschichte gab, lösen sich in Luft auf. Paare finden zueinander, ein Mord wird aufgeklärt, bittere Armut schlägt um in Reichtum, ein bitterarmes Paar findet bei der Aufklärung eines Mordes zusammen und wird deswegen furchtbar reich, lauter solche Sachen kennzeichnen ein Happy End. Mein Happy End ist ein gleichmäßiger Sinusrhythmus. Die Erfüllung meiner Wünsche und der Grund dafür, dass ich meine Leiste habe rasieren lassen und dass ich mein Herz zweimal per Stromschock habe anhalten und wieder anfahren lassen und dass ich mich mit diesem einen Medikament vollgepumpt habe. Das alles diente nur diesem einen Zweck und am Himmelfahrtsabend ist es soweit, ich spüre ihn. Ihn, diesen gleichmäßigen Pulsschlag. Natürlich traue ich dem Braten nicht und möchte lieber die Bestätigung durch ein EKG am nächsten Morgen abwarten.
Doch so verhalten meine Freude auch ist, ich male mir schon aus, wie das Leben fortan sein wird. Ich werde ein anderer sein. Erwacht aus einer jahrelangen Lethargie. Keine Anstrengung wird mir zu schwer sein, kein Weg zu weit und kein Berg zu hoch. Ich werde nur so schwitzen wie es ein normaler Mensch tut. Bei der Arbeit werde ich Höchstleistungen vollbringen und für den Rest des Jahres werde ich Mitarbeiter des Monats sein. Ich werde schneller sein als mein Schatten und weiter laufen und höher springen. Alles wird besser. Das Leben wird toll und ich werde „Ja“ zu ihm sagen. Denn wenn Du „Ja“ zu Deinem Leben sagst, dann sagt es auch „Ja“ zu Dir. Man sieht, meine Erwartungen sind eher gering, aber ich behalte sie noch für mich, denn schließlich habe ich das EKG noch nicht gesehen. Und aus Erfahrung weiß ich, dass bei mir nicht immer alles glatt geht.
Das Happy End ist mir am liebsten, aber ich habe mich nie gefragt, was kommt danach? Was passiert, nachdem sich alles in Wohlgefallen und Sonnenschein aufgelöst hat? Ich vermute mal, nichts Gutes. Denn besser als jetzt kann es doch eigentlich nicht kommen. Die Aufklärung des Mordes war fehlerhaft, weswegen das Paar wieder pleite ist und sich in der Folge in einem langwierigen Ehestreit wieder trennt. So wird es sein nach dem Happy End. Bei mir ist das EKG sehr gut und zeigt einen lupenreinen Sinusrhythmus an, auch wenn der Puls dabei mit 45 Bpm ein wenig langsam ist. Das macht mich stutzig, weil das eigentlich der Puls von einem Leistungssportler ist. Nicht dass ich jetzt in Frage stellen möchte, dass ich im Kern eigentlich ein Leistungssportler bin. Ich habe ihn anscheinend nur gut unter einem Speckmantel versteckt. Mir war auch beinahe klar, dass der gute Rhythmus das wieder zum Vorschein bringen würde, aber dass es dann so schnell geht, überrascht mich schon.
Es könnte also auch etwas anderes hinter diesem niedrigen Puls stecken. Denn sowas kann auch mal überhaupt nicht gesund sein. Also frage ich nach und man beruhigt mich. Das Medikament, das diesen Sinusrhythmus erzeugt, hat unter anderem die Nebenwirkung, dass es auch den Pulsschlag senkt. Ich solle mir da keine Sorgen machen, das sei normal, sagen sie mir. Also ist das EKG gut und der Puls im Rahmen. Geil! Das klingt doch gut und meine Entlassung steht bevor. Es ist Freitag und ich nehme mal an, dass ich noch eine Nacht zu Überwachung mit einem abschließenden EKG bleiben werde. Aber wie sollte ich ahnen, dass mit der Erfüllung meiner Erwartungen es jetzt anfängt, scheiße zu werden. Das erste Anzeichen, dass ich beinahe übersehe, oder besser, dem ich nicht sehr große Bedeutung zukommen lasse, ist mein Blutdruck. Nun muss man wissen, ich habe schon seit einigen Jahren Probleme mit ihm und nehme deswegen auch seit dieser Zeit ein Medikament ein. Zwei Tabletten am Tag und damit ist er eigentlich in guten Bahnen. Ein bisschen erhöht vielleicht, aber alles noch im Rahmen.
Bei der morgentlichen Bestandsaufnahme wird jedenfalls auch immer der Blutdruck gemessen. Und heute ist er mit 180/98 nicht gerade so prickelnd. Ich glaube normal ist er mit 120 oder 130 zu 80 in etwa. Ein bisschen mehr oder weniger ist dabei nicht weiter tragisch. 180/98 ist in dem Zusammenhang jedenfalls eine Hausnummer und treibt dem netten Pfleger ein bisschen die Sorgenfalten auf die Stirn. Am Abend kommt der Stationsarzt und sagt mir, dass ich morgen, also am Samstag, entlassen werden könne, wenn ein letztes EKG auch weiterhin gute Werte anzeige. Ich freue mich und habe den Blutdruck eigentlich schon wieder ausgeblendet und vergessen. Allerdings vergisst der Blutdruck mich nicht. Denn da er heute morgen erhöht war, misst man zur Nacht noch einmal. Wieder so hoch. Der zweite Wert sogar noch höher. Knapp über hundert. Man beginnt zu rotieren und ich bekomme ein Mittel, das flüssig in einer Art Ampulle ist, unter die Zunge verabreicht. Es schmeckt eklig. Nach einer dreiviertel Stunde, wird erneut gemessen, denn dieses Mittel wirkt schnell und senkt den Blutdruck spürbar.
Normalerweise tut es das, aber mein Blutdruck lässt sich von derlei Dingen anscheinend nicht beeindrucken und steigt sogar ein bisschen. Was das Personal noch weiter zu beschäftigen scheint. Und mich auch. Ich schminke mir gerade meine Entlassung für morgen ab und stehe ehrlich gesagt vor einem Rätsel. Denn bei dem Medikament, mit dem man mich hier so gefüttert hat, steht als Nebenwirkung, dass es die Wirkung eines Blutdrucksenkers verstärken kann. Und weil ich nur teilweise auf den Kopf gefallen bin, habe ich daraus errechnet, dass der Druck nun eigentlich niedriger sein müsste. Ich bin weder Schwarzseher, noch besonders ängstlich, was meine Behandlung hier betrifft, aber ein wenig nachdenklich bin ich schon. Woher kommt der Mist denn nun auf einmal? Habe ich irgendwas falsch gemacht? Was wollen die jetzt noch machen? Letzte Frage beantwortet sich von selbst, als eine Schwester mir ein Spray (Nitroglycerin) ebenfalls unter die Zunge sprüht. Zwei Stöße und dann wird wieder gewartet, ob man mich so in die Nacht lassen kann. Nach einer weiteren dreiviertel Stunde wird gemessen: 165/94. Für einen beschissenen Blutdruck noch erträglich und für einen normalen eher scheiße. Ich versuche zu schlafen und auch wenn ich keine Auswirkungen spüre, werde ich langsam ein wenig nachdenklich. Wer will es mir verübeln.
Um es abzukürzen, in den nächsten zwei Tagen wird die Lage nicht besser. Am Samstag habe ich sogar Höchstwerte. Ich bin dann so weit, dass ich an den letzten zwei Abenden jeweils eine Schlaftablette nehme, weil mich die ganze Sache ein bisschen mehr beschäftig, als mir lieb ist und ich dann wenigstens hoffe, ein bisschen schlafen zu können. Außerdem hat man meine Medikation umgestellt. Was im Eigentlichen bedeutet, dass man mir mittlerweile drei Tabletten am Tag mehr gibt. Noch am Samstag hätte man mich am liebsten nach Hause geschickt, das konnte man merken, aber meine Werte waren jenseits von Gut und am Abend sogar am Schlechtesten. Jetzt, am Montag, sind sie das erste Mal nicht ganz beschissen und man möchte mich deswegen auch sofort entlassen. Ich bin mir aber unsicher, möchte noch mal Rücksprache mit einem der Oberärzte haben. Nicht dass ich zu Hause bin, und die Sache gerät wieder aus dem Ruder. Was macht der Hase, wenn meine Drücke wieder durch die Decke gehen? Panik haben! Berechtigterweise.
Der leitende Oberarzt kommt sogar und muss ein bisschen lächeln unter seiner Maske, weil ich mir ein paar Fragen aufgeschrieben habe und sie der Reihe nach stelle. Ich habe mir das jetzt so angewöhnt, weil ich weiß, wie schwer es ist einen solchen Arzt zu Gesicht zu bekommen und nichts wäre blöder, als wenn man im Nachhinein noch feststellt, dass man ein paar Dinge vergessen hat zu fragen. Erst nachdem er alle meine Fragen beantwortet hat, wäge ich ab, ob ich nach Hause gehe, oder noch eine Nacht bleibe. Die Entscheidung ist nicht leicht, aber ich habe so langsam auch den Eindruck, hier lange genug gewesen zu sein. Auch wenn ich das Gefühl nicht ganz loswerde, man wolle mich hier mit einem Fußtritt nach Hause schicken, willige ich ein zu gehen. Ich freue mich schon auf Zuhause, auf mein eigenes Bett. Darauf, dass nur der Hase und keine weiteren drei Männer im Schlafzimmer sind. Darauf, dass ich nicht Rechenschaft darüber ablegen muss, ob ich Stuhlgang hatte. Darauf, dass es wirklich dunkel ist, wenn es dunkel ist. Darauf, dass ich mein Zuhause, meine Familie und alles andere wiedersehen werde.
Komischerweise bekomme ich meine Entlassungsunterlagen in Windeseile ausgehändigt. Sowas kann sonst auch schonmal gerne eine ganze Zeit dauern, das habe ich in den letzten Zehn Tagen häufig erlebt. Bei mir ist es so, als wenn schon alles fertig geschrieben wäre und man nur darauf gewartet hat, das ich gehe. Das Gefühl mit dem Fußtritt bleibt ein bisschen im Hinterkopf. Aber insgesamt muss ich sagen, dass ich hier bestens versorgt war und gerade das Pflegepersonal war wirklich immer nett. Aber selbst die Nettesten hier sind natürlich kein Ersatz für einen Hasen. Ich packe meine Sachen und schiebe ab. Ein Koffer, ein Rucksack und noch eine Stofftasche habe ich dabei. Man könnte meinen, ich hätte einen ganzen Sommerurlaub hier verbracht. Ich verabschiede mich von meinen Mitbewohnern und gehe zum Fahrstuhl, fahre drei Etagen runter, gehe durch die Eingangshalle und dann ins Parkhaus. Ein Hauch von Freiheit weht über allem und ich bin froh, dass es soweit ist. Von nun an wird alles besser. Da bin ich mir sicher.