Räuber*in Hotzenplotz hat auch nur einen Damenbart, oder die gendergerechte Welt der Märchen.

Folge 1:

Hänselin und Greteler

Es waren einst zwei Geschwister, deren geschlechtlicher Status nicht eindeutig geklärt war, weshalb hier eine offensichtlich gestrige Einteilung in Bruder und Schwester unbedingt vermieden werden soll. Da ihre eigentlichen Namen, Hänsel und Gretel, die ihnen von ihren Elternteilen, also dem gebärenden Elternteil und dem befruchtenden Elternteil, verliehen worden, eine solche Offenheit nicht zulassen, wurden die Silben „in“ bzw. „er“ hinzugefügt. Das gebärende Elternteil der beiden geschlechtlich keiner Kategorisierung unterworfenen Kinder hatte das Ende des Lebens erreicht und verstarb. Weshalb die Kinder nun Halbwaisen*innen waren. Das verbliebene Elternteil, also das Befruchtende, erkannte eine große Lücke im Leben und im Alltag, die es zu schließen galt. Weswegen es sich, zwecks Erweiterung der persönlichen Lebenssituation, mit einem weiteren potentiell gebärendem Menschenwesen zu einer archaischen Personenbindung zusammenfand.

Da es sich bei dem neu gewählten Teil innerhalb der Partnerschaft nicht um das gebärende Elternteil von Greteler und Hänselin, sondern lediglich um eine Art Ersatz handelte, mussten die Kinder das Ersatzteil auch nicht mit gebärender Elternteil ansprechen, sondern mit Ersatz für den gebärenden Elternteil (im Folgenden als Ersatzteil bezeichnet). Wobei die von Hänselin hinzugefügte Umschreibung; „unzureichender Ersatz“, schon von Anfang an für eine unterschwellige Aggression im Hause sorgte. Das Ersatzteil war allerdings auch nicht darauf aus, den schwelenden Konflikt aus der Welt zu schaffen. Es hasste vielmehr die Kinder, die von einem anderen gebärenden Teil gebärt, äh geboren wurden, man merkt, die Gebärensprache ist voller Tücken. Und deshalb schmiedete das Ersatzteil einen perfiden Plan, dessen Ziel es war, die Kinder in den Wald zu locken und dort sich ihrem Schicksal zu überlassen. Die große Hoffnung war, dass sie sich dort verlaufen würden und nie wieder zurückkämen.

Also veranlasste das Ersatzteil den befruchtenden Elternteil dazu, die Kinder in den Wald mitzunehmen und dort auszusetzen. Der moralische Kompass vom befruchtenden Elternteil war nach dem Tod des originalen gebärenden Elternteils ein wenig aus der Richtung geraten, weswegen das befruchtende Elternteil dieses Ansinnen des Ersatzteils nicht weiter in Frage stellte. Die Kinder befanden sich also im Wald. Sehr tief im Wald, wenn man genau sein möchte. So tief im Wald, dass man dort nur herausfinden würde, wenn man sich auskennt, was den geschlechtlich nicht näher zugeordneten Kindern aber nicht vergönnt war. Das befruchtende Elternteil ließ die beiden dort allein und ging zurück zum Ersatzteil. Allerdings begleitet von einigen Gewissensbissen.

Die Zurückgelassenen erkannten die besondere Schwere ihrer Lage und gingen ziellos weiter. Wodurch sie sich erst recht verirrten. Und mitten im tiefsten Wald, oh Verzeihung, müsste es nicht eventuell die Wäldin heißen? Also mitten im tiefsten Wald*innen sahen die beiden ein seltsames Haus, dessen Wände und Dach bestanden aus leckersten glutenfreien Gebäcken, deren Zutaten aus nachhaltigem Anbau stammten und die komplett ohne Zucker hergestellt wurden. Hänselin verspürte einen Testosteronschub, weswegen seine männlich Seite für einen Augenblick die Oberhand erhielt. Was wiederum dazu führte, dass es, oder, in diesem Falle, er nur an das eine dachte: „Ich glaub ich hab Hunger!“ Also sagte er: „Ich glaub ich hab Hunger“, und knackte sich eines der Gebäcke von der Hauswand und begann zu essen. Und er brach sich ein Stück vom Dachgebäck ab. Und als er das Stück Gebäck in den Händen hielt, fragte er sich, ob er nun ein Dachgebäckträger sei. Aber das nur am Rande.

Greteler hingegen neigte zur Vorsicht und beschwor das Geschwisterkind die Essattacke einzustellen. Ein mulmiges Gefühl machte sie in ihm breit, denn, so die Erfahrung des Greteler, nichts im Leben ist umsonst. Und wenn mitten in einem Baumbestand*innen, fern von jeglicher Zivilisation, sich ein Haus befand, das man essen konnte, dann hatte diese Sache gewiss einen Haken. Und Greteler sollte recht behalten, denn in diesem Moment blickte ein hässliches Gesicht, mit einer krummen Nase auf der ein leuchtender Pickel war, aus dem Fenster. Dem Verfasser dieser Zeilen nicht ganz unähnlich. Und mit einer krächzenden Stimme sagte das hässliche Gesicht: “ Knusper knusper, ach Du heiliger Schreck, wer knabbert an meinem glutenfreien Gebäck?“

Die Beweislage war eindeutig, denn außer den beiden Geschwistern war niemand da, der oder die sich des Knabberns hätte schuldig machen können. Das hässliche Gesicht bat die beiden einzutreten und die Geschwister, die eine für sie angedachte Geschlechterrolle als unzumutbar bezeichneten, folgten der Aufforderung und traten ein. Drinnen stellte sich das hässliche Gesicht, zu dem auch ein schrumpeliger und gebeugter Körper gehörte, als die Hexe vor. Die Kinder erschraken, Nein, nicht wegen des hässlichen Wesens, sondern wegen der Nennung eines Artikels „die“ vor dem Namen, der diese Person in eine eindeutig feminine Rolle presste und somit den Schock der jahrtausendalten Vorherrschaft des Maskulinum auf die beiden Kinder übertrug. Es folgte eine Grundsatzdiskussion der Kinder mit der Hexe, deren Inhalt es war, die Grenzen abzustecken, wie weit das Klischee einer weiblichen Hexe mit dem modernen Frauenbild vereinbar sei.

„Wer von Euch ist denn der Bruder und wer die Schwester?“ fragte die Hexe. Es sei ein archaischer Brauch Menschen in derart stigmatisierende Kategorien einzuteilen, sagte Hänselin. Eine derartige Einteilung sei für die beiden deshalb fremd, fügte es hinzu. „Warum willst Du das wissen?“, fragte Greteler. „Nun“, sagte die Hexe, “ das Mädchen würde ich versklaven und es müsste mir immer und ewig den Haushalt machen.“ Eine Aussicht, die den jahrzehntelangen Geschlechterkampf mit einem Schlag zunichte machen würde. Nein, es war einfach undenkbar, dass sich einer von beiden diesem Diktat beugen würde. „Und was passiert mit dem Jungen?“, fragte Greteler. „Den werde ich im Ofen backen, bis er braun wie Brot ist“, sagte die Hexe.

„Ich heiße Gretel und bin die Schwester!“, sagte Greteler, die offensichtlich eine Silbe verloren hatte, “ Und der da“, sagte sie und zeigte auf Hänslin, “ der ist mein Bruder und heißt Hänsel!“. „Du falsche Schlange“, sagte Hänsel, der ebenfalls einer Silbe beraubt war und dem geflügelten Wort „gehänselt worden sein“ eine weitere Definition hinzufügen konnte. An dieser Stelle sei erwähnt, dass sich auf einer späteren Zeitebene der Schlangenbeauftragte, der Gemeinde sich Gedanken darüber machte, ob die Schlange in dieser Metapher nicht diskriminierend dargestellt wurde und ob es zeitgemäß sei, eine Schlange weiblich zu benennen. Vielleicht sollte man lieber das Schlängelnde sagen. Ja, das würde gehen. Der Schlangenbeauftragte hatte wieder ganze Arbeit geleistet. Aber sollte ein Schlangenbeauftragter nicht auch eine Frau sein können? Es wurde kurz darauf eine Kommission gebildet, die einen 59 seitigen Leitfaden erstellen sollte, in dem die Feminisierung einzelner Berufsgruppen vorangetrieben werden und der Sprachgebrauch auf behördlicher Ebene dem Rechnung tragen solle. Gesellschaftliche Veränderungen beginnen mit der Sprache. Der Rest wird folgen.

Aber der Plan von Gretel, die eigentlich immer noch geschlechtsneutral geblieben ist, war, dass Verwirrung gestiftet werden sollte. Ein Plan der komplett aufging, weil das Hänselin außer sich war und einige beleidigende Schimpfwörter für Gretel verwendete „Du Mädchen!“, sagte es. Bäm, das hatte gesessen. Worauf Greteler ebenfalls schimpfte. „Du Vertreter einer ewig gestrigen Gesinnung“, antwortete es. Es entstand eine leidenschaftliche Diskussion über veraltete Geschlechterrollen und darüber, dass es eigentlich keine Geschlechter geben solle. Denn, wie der Name schon sagte, ist ein Geschlecht auch irgendwie schlecht. Wenn es Gegut heißen würde, könne das eventuell anders zu bewerten sein. Das trieben die beiden derart leidenschaftlich, dass sich die Hexe zunächst die Augen verdrehte. Dann hallten die Argumente der beiden Strähthähn*innen im Hexenkopf hin und her. „Ihr Satanskinder macht mich total verrückt“, sagte die Hexe, als sie sich selbst in den Ofen steckte und die Temperaturregelung auf „Braunes Brot“ stellte. Die Hexe bruzzelte vor sich hin und die Kinder erkannten ihre Chance und flüchteten. Doch wohin sollten sie flüchten und wie sollten sie wieder nach Hause kommen. Und vor allem, wollten sie da wieder hin? Hin in einen Haushalt, in dem Menschen wohnten, die sie offensichtlich nicht bei sich haben wollten. Da die beiden immer an das Gute im Menschen glaubten, entschlossen sie sich, den Angehörigen noch eine Chance zu geben. Blieb nur das ungelöste Problem, wie sie dort hinfinden sollten.

Es ergab sich der günstige Umstand, dass Hänselin auf dem Hinweg immer wieder Brotkrumen auf dem Boden geworfen hatte und somit den Weg markiert hatte. Und wenn es schlau gewesen wäre, hätte es daran gedacht, bevor man in das Hexenhaus gegangen wäre. Dann wären die beiden einfach der Spur gefolgt und wieder zurückgekommen. Aber sei´s drum. besser spät als nie, dachte sich Hänselin und so folgten sie dem gekennzeichneten Pfad und aßen die Brotkrumen unterwegs dabei immer auf. Google Maps zum Essen, wenn man so will. Frisch gesättigt kam man dann an dem Ort an, der ihnen als „Zuhause“ in fester Erinnerung geblieben war. Und erst als sie für sich ohne Zweifel erschließen konnten, dass „Zuhause“ in keinster Weise diskriminierend zu verstehen sein könne, nahmen sie es als Begriff an und traten durch die Tür.

Drinnen saß ihr befruchendes Elternteil und blickte verzweifelt drein, Denn das potentiell gebärende Elternteil, das es als Ersatz für das verstorbene Original gebärende Elternteil geheiratet hatte, war kürzlich verhungert, weil kein Brot mehr im Hause war. „Hallo befruchtendes Elternteil, wir sind wieder zurück“, sagten die Kinder. „Wer seid Ihr“, fragte das befruchtende Elternteil, weil es gegen das einfallende Sonnenlicht nicht richtig sehen konnte, wer in der Tür stand. „Na wir, Deine geschlechtlich nicht differenzierte Nachkommenschaft“, sagte Greteler. Worauf das befruchtende Elternteil von einem Gefühlschaos, bestehend aus Schuld und Freude, übermannt wurde. „Ach, liebe Kinder, es ist so schön, dass Ihr wieder hier seid und dass es Euch gut geht. Es tut mir leid, was ich Euch angetan habe“, sagte das befruchtende Elternteil. „Ach, es ist ja gut, wir sind ja großherzig erzogen worden und verzeihen Dir“, sagte Hänselin. Gerührt von dieser einmaligen Geste, wurde dem befruchtenden Elternteil warm ums Herz und es sagte: „Es wird mir übel, wenn ich daran denke, wie wir uns immer anreden. Sagt doch einfach Vater zu mir und ich nenne Euch Tochter und Sohn!“

Hier hörte der Spaß für die beiden Kinder allerdings auf. Ihre Welt wurde mit einem Schlag auf den Kopf gestellt. Nichts war mehr so wie vorher. Das würden sie diesem Elternteil, dass sich Vater nannte, niemals verzeihen. Und sie wussten schon seit jenem legendären Satz von Darth Vader an Luke Skywalker: „Ich bin Dein Vater!“, dass die Sache mit diesem Vater niemals ein gutes Ende nehmen würde. Weshalb sie sich entschlossen, den Ihren (Vater, man mochte das Wort nicht einmal denken ) zu erschlagen. Und wenn er nicht gestorben ist, erschlagen sie ihn noch heute.