Gemüse Move

Der nun folgende Text ist frei erfunden, aber er könnte auch real sein……man weiß es nicht…….Ähnlichkeiten mit Personen des tatsächlichen Lebens sind natürlich vollkommen zufällig und vom Autor trotzdem irgendwie auch ein wenig beabsichtigt…….

Die Luft ist stickig und die Ausdünstungen der Unmengen von Leuten, die sich hier eingefunden haben, sammeln sich als Kondensat an den Fensterscheiben, die hoffnungslos beschlagen sind. Die sich ergebende Flüssigkeit perlt ebenso an ihnen herunter, wie auch von der Decke des Saales. Die grölende Masse hat sich in einem großen Kreis versammelt, während aus den Lautsprechern von DJ Hinz oder Kunz oder so, Helene Fischer dröhnt. Nicht gerade meine bevorzugte Musikrichtung, gefolgt von Wolfgang Petry, der noch viel weniger meine Musikrichtung ist. Ich befinde mich tragischerweise in der Mitte dieses Kreises und ich versuche, trotz einer leichten, alkoholbedingten Schlagseite, zu tanzen und das obwohl ich weder Helene Petry noch Wolfgang Fischer auch nur im Entferntesten gut finde. Wo bin ich hier und was mache ich hier nur?

Meine Tanzpartnerin, die mir bis eben völlig fremd gewesen ist, freut sich. „Oh, da kann man prima Discofox zu tanzen!“ Und schon wird die zierliche Person, die offensichtlich Weltmeisterin im Discofox ist, zu einem Derwisch. Einem tanzenden Derwisch, der mich gnadenlos von einer Ecke in die andere katapultiert. Wobei mir während des Katapultiert-werdens auffällt, dass es in einem Kreis eigentlich keine Ecken geben kann.

„Jetzt machen wir mal ein paar Drehungen!“, johlt die Discofoxin in mein Ohr. Wenn ich wollte, dürfte ich auch führen, sagt sie, aber ich denke so bei mir: „Die braucht keinen Führer.“ Wobei eigentlich niemand einen Führer bräuchte, aber das ist eine andere Geschichte. Sie schleudert mich hin und her und ich vermute, dass sie mir gleich einen Arm ausreißen wird. Das macht mir Angst. Ich entschuldige mich unaufhörlich, weil ich meine Füße öfter auf den ihren parke, als dass sie auf der Tanzfläche wären. 

Der nackte, ausgeblichene Unterkieferknochen einer verstorbenen Kuh oder eines Ochsen, der an einer Kette von meinem Hals herunterbaumelt, wippt im Takt und ist dabei mehr im Rhythmus als ich. Das Ganze mutet etwas seltsam an. Man tanzt ja sonst nur bei Urvölkern mit Knochen um den Hals.

Mein tanzendes Gegenüber trägt eine sonderbare Krone auf dem Kopf und ich denke so bei mir: „Heute ein König!“ Und ja, das bin ich. Ich bin Kohlkönig! Eine eher zweifelhafte Ehre, die mir Zuteil wurde, weil ich, wie sollte es auch anders sein, wieder einmal mehr gegessen habe, als der Rest der Truppe, mit der ich hier bin. Wie sie, also die gezündete Mehrstufentanzrakete, zu ihrer Krone gekommen ist, entzieht sich meiner Kenntnis, wie sich auch so vieles meiner Kenntnis entzieht, weil ich als König respektabel einen (Achtung Wortspiel) in der Krone habe.
Es ist der Tanz der Kohlkönige und DJ Hans oder Franz hat sich ausgedacht, dass die Königinnen und Könige der verschiedenen Gesellschaften miteinander tanzen können. Die Drehungen, die mir die Dancing Queen des Satans angedeihen lässt, verändern schleichend mein persönliches Erscheinungsbild. Ich beginne zu singen: „Atemlos beschissen war die Nacht!“ und gehe ab wie Zäpfchen. Sämtliche Kontrollinstanzen, die ansonsten verhindern, dass ich Schlager singe, sind außer Kraft gesetzt und ich befinde mich an der Schwelle zur Peinlichkeit. Kurz davor meinen Oberkörper zu entblößen und mit meinem T-Shirt wild herumzuwedeln. Oh Gott! Was ist nur los mit mir. Dabei hatte doch alles so harmlos begonnen.

Drehen wir die Uhr zurück. Es ist Samstagnachmittag 14 Uhr. Der Monat ist Februar und es ist ein scheußliches Wetter. Eine steife Brise weht ein leichtes Schneeregengemisch durch die Luft und die eineinhalb Grad über Null machen den Gesamteindruck nicht wirklich besser. Was also liegt bei derartigen Bedingungen näher, als sich auf sein Sofa zu verkriechen, während im Hintergrund das leise Knistern des Kaminofens eine Gemütlichkeit erzeugt, die durch nichts zu ersetzen ist. Naja, durch beinahe nichts.

Man kann sich auch schließlich mit einer Horde Unentwegter zusammenfinden und kilometerweise durch abgelegene Bereiche der heimischen Umgebung ziehen, die wahrscheinlich noch kein weißer Mann zuvor betreten hat. Der Norddeutsche nennt so etwas Kohltour und in den Wintermonaten machen sich Heerscharen von kleinen oder größeren oder ganz großen Gruppen auf, um die frühgeschichtliche Völkerwanderung ansatzweise nachzustellen. Es ist egal, wie beschissen das Wetter ist, für die Aussicht auf einen prall gefüllten Teller mit grünem Kohl ist man bereit, sich von Sofa, Kaminfeuer und Gemütlichkeit zu verabschieden.

Man trifft sich an einem mehr oder minder verwunschenen Ort, oder einfach bei demjenigen, der diese Tour organisieren muss (in Fachkreisen auch Kohlkönig genannt) und macht sich auf den kilometerlangen Weg durch das unwegsame Gelände. Immer vor Augen ist das Ziel, das da heißt: Kohlball! Ausgerüstet mit einem Bollerwagen, der zum Bersten mit alkoholischen Getränken und ein paar Knabbereien, wie die zwingend notwendigen Mini Kabanossis gefüllt ist, macht sich unsere Tuppe auf den Weg. Die Zielsetzung ist eindeutig: Nicht zuviel unterwegs trinken, weil man ja auf dem Saal „All inclusive“ hat.

Diese Art der Flatratesauferei hat die Stimmung bei den Kohlbällen nachhaltig gerettet. Vorher, als man noch alle Getränke einzeln bezahlen musste, war es schwierig, mal eine Runde zu schmeißen, weil man immer plötzlich den halben Saal kannte. Besonders wenn man an der Reihe war, einen auszugeben. Dann war das Geld schnell alle und man fuhr nach Hause. Oder aber man klinkte sich von vornherein aus bei den „Rundenwettkämpfen“ und bestellte nur für sich. Dann galt man als Geizhals und niemand wollte mehr mit einem reden, weshalb man ebenfalls verfrüht nach Hause fuhr, allerdings nicht pleite war.  Bei Flatrate war das anders. Da hatte man schon im Vorfeld einen Festbetrag bezahlt und konnte trinken, „bis der Arzt kommt“. Eine seltsame Floskel, denn soviel man auch trank, ein Arzt kam eigentlich nie.

Und wenn man schon im Vorfeld bezahlt hatte, war man sorgsam darauf bedacht, die Kohle auch wieder herauszutrinken. Und um das dann ausschöpfen zu können, war es klar, dass man sich auf der Wanderung mit dem Schnaps zurückhalten würde. Wir waren noch keine zwanzig Meter gegangen, als wir an die erste Kreuzung kamen. Kreuzung = einen Schnaps trinken. Und weil es so schön ist, macht man sich auch gleich ein Bier mit auf, um, wie man den anderen lauthals verkündet, einer eventuell drohenden Dehydrierung entgegenzuwirken. 

Unsere Strecke ist nicht sehr lang. Drei Kilometer und wir haben vier Stunden Zeit. Das sollte passen. Ah, schon wieder eine Kreuzung und nachdem es zunächst einen Pflaumenschnaps gab, nehme ich mir Whisky Sahne. Gereicht wird das Ganze in kleinen Fläschchen, den sogenannten Klopfern und bevor man die öffnet, muss man die Flasche mit dem Deckel nach unten auf irgendwas herumhauen. Man nennt das Klopfen und es gibt Niemanden, der einen plausiblen Grund für diese nutzlose Tätigkeit nennen kann.

„Auf einem Bein kann man nicht stehen“, sagt mein Trinknachbar und bevor ich ihm mühevoll erklärt habe, dass es ja eigentlich schon das zweite Bein ist, das wir da trinken, bin ich auf dem besten Wege, ein Vierbeiner zu werden. Eben noch ein Bier aufreißen und weiter geht´s.

Auf den ersten 750 Metern haben wir allein schon acht Kreuzungen ausgemacht.Wobei es uns mittlerweile ziemlich egal ist, ob sich nun auch wirklich zwei Straßen kreuzen. Zur Not reicht auch mal eine Hofeinfahrt oder eine Bordsteinabsenkung. Die Stimmung ist gelöst und das Scheißwetter ist einem ebenso scheißegal. Wir beschließen nun eines der vorbereiteten Spiele zu machen. Denn zu einer richtigen Kohltour gehören auch Spiele. Dazu wird die Gesellschaft in zwei Mannschaften aufgeteilt. Ich bin in Mannschaft zwei, weshalb es eigentlich jetzt schon feststeht, dass wir verlieren werden. Ich bin nicht gut in solchen Dingen. 

Ein Löffel, der an einem langen, einem sehr langen, einem sehr sehr langen Faden hängt, muss unterhalb der Kleidung der einzelnen Mannschaftsmitglieder durchgezogen werden und dabei von einem Mitglied zum nächsten wandern. Den langen, langen, langen Faden zieht man dann nach, so dass irgendwann alle miteinander verbunden sind, die Mannschaft, bei der der Faden zuerst komplett durchgezogen wurde, hat gewonnen.

Man beginnt mit einem Hosenbein, arbeitet sich hoch bis zur einen Schulter, wandert dann zur anderen Schulter und von dort wieder abwärts, bis man am anderen Hosenbein unten wieder rauskommt. Von dort geht es zum Nebenmann. „Was machst Du da?“, fragt mich mein Nebenmann und blickt etwas angewidert. „Na ich ziehe den Löffel durch“, sage ich. „Aber doch nicht durch die Unterhose“, sagt er. „Habe mich schon gewundert, warum das so schwer geht“, sage ich, während der nachziehende Faden eine unangenehme Hitze erzeugt. Hoffe, dass ich keine Brandblase kriege. „Bleib bloß nirgendwo hängen!“, sagt mein furchtsamer Mitstreiter und ich sehe, wie es in seinem Hirn arbeitet und er sich die Bereiche näher visualisiert, an denen ich möglichst nicht hängen bleiben soll.

Team zwei ist die Verlierermannschaft und muss deswegen zwei Schnäpse klopfern. Weil Team eins sich unterfordert fühlt, trinkt es auch mit. „Mit dem Zweiten trinkt man besser“, sage ich und beginne zu überschlagen, auf wieviel Beinen ich mittlerweile stehe. Ich glaube ich bin Tausendfüßler.

Das Bier ist mir irgendwie zu kalt und außerdem geht da beim Marschieren die Kohlensäure raus, was nicht zwingend zur Geschmacksverbesserung beiträgt. Ich steige auf Cola-Korn, dem Nationalgetränk der norddeutschen Tiefebene, um. „Mach mal nicht so ´ne Mädchenmischung“, raunt mir jemand zu und hilft mir, das richtige Verhältnis zwischen Cola und Strothmann zu finden. Ob die Mische nicht ein wenig zu durchsichtig geworden sei, wage ich anzuzweifeln. „Dat muss so“, sagt er und spricht es in einem Wort aus: „Datmusso“. Naja, denke ich, wenn dat so muss, dann muss dat so und beginne zu trinken. Lecker ist was anderes und von der erhofften Kohlensäure fehlt auch hier jede Spur. 

Jetzt geht es weiter. Wir haben den Ort schon längst verlassen und quälen uns über einen matschigen Feldweg. Wir sind auf Betriebstemperatur und es ist uns völlig gleichgültig, ob wir Wetter haben und wenn ja, welches. Kreuzungen kommen nicht mehr viele, weswegen wir auch schon Bäume, die am Wegesrand stehen, als Kreuzung betrachten. Was eine gewisse Schwierigkeit in sich birgt, weil wir an einem Wald entlang gehen. Viele „Kreuzungen“ also. Zeit für das nächste Spiel.

Jeweils zwei Spieler stehen sich gegenüber und haben entweder eine Spaghetti oder eine Maccaroni im Mund und versuchen diese miteinander zu koppeln. Allerdings ohne die Hände dabei zu Hilfe zu nehmen. Die Stimmung ist ausgelassen und angesichts unserer Tätigkeit, ergibt sich Raum für ein paar anzügliche Witze. „Darf ich meine Nudel in Deine Röhre stecken?“ ist dabei noch die harmlosere Variante. „Man gut, dass die nicht gekocht sind“, sage ich. „Dann wäre das wie bei Dir zu Hause im Schlafzimmer“, sagt ein anderer, dessen Name mir gerade entfallen ist. Ich glaube er heißt Arschloch oder so. Mein Gegenüber stößt einen triumphierenden Schrei aus: „Hurra, ich habe getroffen!“ Nur mühsam kann ich ihn davon überzeugen, dass er mein Nasenloch mit der Maccaroni verwechselt hat und noch mühsamer ist es ihn davon abzuhalten, nach Beendigung des Spieles seine Spaghetti aufzuessen.

Wir trinken drei Klopfer und ich mische mir einen weiteren Cola-Korn, der nur noch Spurenelemente von Cola enthält und trinke angewidert. Plötzlich endet der Weg. Mitten im Nirgendwo! Man kann es nicht leugnen, wir haben uns verlaufen. Einer aus der Gruppe schmeißt die Navigation an seinem Handy an. „Wenn möglich, bitte wenden“, flötet die künstliche Frauenstimme. Wenden also, wär man so jetzt nicht direkt drauf gekommen. Wenn wenigstens einer von uns noch ein wenig bei Sinnen wäre, hätte sich bestimmt eine gewisse Panik breitgemacht. So aber bleiben wir total entspannt und wenden. 

Wie sich herausstellt, sind wir nur wenige hundert Meter entfernt von der Kneipe, zu der wir wollen. Mir kam es auch irgendwie komisch vor, dass alle Gruppen, die wir unterwegs getroffen haben in eine andere Richtung gegangen sind, als wir. Die einbrechende Dunkelheit sorgt dafür, dass wir noch zwei Umwege gehen, bevor wir den Saal erobern können. Und hier wartet der nächste Schock. Dieser fiese Moment, in dem man aus dem Kalten kommend die angegorene Hitze des Saales einatmet und erst mal ein Brett vor den Kopf kriegt. Ein letzter Rest Vernunft sorgt dafür, dass wir uns als erstes Getränk ein Wasser oder eine Cola bestellen. Oder sonstwas, Hauptsache ohne Alkohol. Das macht zwar nicht nüchtern, ist aber als Alibigetränk gut. 

Wir setzen uns an den uns zugedachten Tisch und sind umgeben von Hundertschaften kohlwütiger Spaziergänger und die meisten davon haben leichte Schlagseite oder sind hemmungslos betrunken. Freundeskreise, Kollegen, Vereine, Nachbarschaften und viele weitere Gruppen sitzen nun ungeduldig auf ihren Stühlen und harren der Fütterung der Massen, die in Bälde beginnen wird. Damit die Zeit nicht zu lang wird, sorgt DJ Fritz oder Franz oder so, für Stimmung, indem er die Gesellschaften vorstellt (es gibt bei jeder Namensnennung stürmischen Applaus) und die Leute zum Schunkeln animiert. Was im Grunde nicht schwierig ist, weil die meisten eh nicht mehr gerade sitzen können. 

Und dann ist es so weit. Eine Heerschar von Angestellten rennt sich die Hacken wund, um in kürzester Zeit 258 hungrige Mäuler zu stopfen. Schüsseln mit gekochten, gebratenen und irgendwie anders zubereiteten Kartoffeln werden ebenso durch den Saal getragen, wie auch Fleisch- und Wurstplatten und schließlich auch noch der Grünkohl, der Grund unseres heutigen Daseins hier. Also des Hierseins.

Am Nachbartisch gibt es erste Diskussionen. Ob der Kohl denn auch vegan zubereitet wäre, fragt Frau Perlmutt Schwachmann vom Nebentisch die sichtlich überforderte Servicekraft. „Ja klar“, sagt die Angesprochene, “ und die Kartoffeln haben wir mit Liebe aus dem Boden gesungen!“ Frau Isabella Perlmutt Schwachmann ist mit ihrem Gatten Holger gerade erst auf´s Land gezogen und um mit den Eingeborenen ein wenig in Kontakt zu kommen, hat man sich dazu entschlossen, bei der Dorfkohltour mitzumachen. Ein eher befremdliches Ereignis für die beiden Akademiker, die bisher an höchstens zwei Gläsern Wein pro Jahr genippt hatten.

Während Isabella sich von dem exzessiven Alkoholgenuss fernhalten konnte, geriet ihr Holger schon nach kurzer Zeit ein wenig unter die Räder. Er ist beinahe fertig mit seinem Essen, als er seiner allgemeinen Erschöpfung nachgibt und mit dem Kopf auf seinen halb gefüllten Kohlteller schlägt, während er friedlich schnarcht. Eine Handlungsweise, die seine bessere Hälfte eher abstoßend findet, die aber unter den Einheimischen wohlwollend zur Kenntnis genommen wird. Es gibt wenig, was das Eis der zwischenmenschlichen Beziehungen schneller tauen lässt als ein Kopf, der trunken im Grünkohl schlummert und die Nahrungsreste, die später am Gesicht hängenbleiben sind wie Orden, erworben auf dem Schlachtfeld der Promillegrenzüberschreitung.

Zwei Tische weiter wird der Grundstein für ein Techtelmechtel zwischen Steilhangs Anita und Klötenköhms Herbert gelegt. Anita heißt eigentlich Meyer mit Nachnamen, aber ihre besondere Namensgebung hängt damit zusammen, welchen Namen ihr Hof hat. Also der Name des Bauernhofes, auf den sie lebt, oder von dem sie stammt. So etwas ist in Norddeutschland auf den Dörfern aus früheren Zeiten überliefert und Steilhang heißt der Hof deswegen, weil Anitas Großvater im Krieg bei den Gebirgsjägern war. Er hat da oft mit geprahlt und musste sich immer wieder die Frage gefallen lassen, wie viele Berge er denn erlegt habe, als Gebirgsjäger. Klötenköms Herbert hingegen verdankte seinen Namenszusatz seiner Leidenschaft für Eierlikör. Die beiden sitzen verträumt und angetrunken nebeneinander und die Leidenschaft in seiner Stimme, als er die magischen Worte spricht: „Kannst Du mir mal die Brägenwurst reichen?“, bringt eine Saite in ihr zum Klingen, die schon allzu lange verborgen geblieben war. Ein magischer Moment, auch wenn die Funken noch nicht so richtig sprühen wollen.

Meine Gruppe, die ohne nennenswerte Verluste den Saal erreicht, hat erfolgreich Platz genommen und wartet noch auf das Essen. Zeit für ein paar Grundsatzdiskussionen, wobei nicht jedes Wort mehr schadlos über die Lippen kommt. „Also Geschamdpollidisch hat die Angela Merkel ja einen guten Job gemacht!“, behaupte ich und weiß weder, was ich damit meine, noch was gesamtpolitisch zu bedeuten hat. Ich bin nur froh, dass nicht Annegret Kramp Karrenbauer an der Macht ist. Wer möchte denn in einem solchen Zustand so einen Namen aussprechen. Außerdem auf der Themenliste sind der Brexit, Donald Trump und die Tatsache, dass jeder von uns mehr von Fußball versteht als Jogi Löw und dass wir mit uns als Trainer unbedingt Weltmeister, wenn nicht sogar noch mehr geworden wären. Oberweltmeister vielleicht.

Die Zeit der Abstinenz ist auch wieder vorüber und ich bestelle mir Bier. Gleich zwei auf einmal. Man weiß ja nie, wann man wieder eins kriegt. Dann wird gegessen, bis….ach nee, auch hier kommt der Arzt nicht. Aber weil man ja bezahlt hat, möchte man dem Wirt natürlich nichts schenken. Vor mir entfaltet sich die Herrlichkeit einer Kohlmahlzeit und weil er ja so gesund ist, nehme ich mir auch eine Extraportion. Damit ich nun keinen Vitaminschock erleide, stelle ich das ernährungstechnische Gleichgewicht durch eine übermäßige Aufnahme an allen Sorten der Kohl- und Pinkelwurst und besonders des reichlich vorhandenen Bauchspecks her. Zielsicher bin ich nicht, beim Befüllen meines Tellers und schon nach dreimal Nachnehmen sieht es aus, wie auf einem Schlachtfeld. Ich bin gerade dabei meine vierte Portion unter Wegfall der grundsätzlichen Tischmanieren auf animalische Weise zu verspeisen, als ich bemerke, dass ich der letzte in unserer Gruppe bin, der noch isst.

Und dann geht alles ganz schnell. Meine angeheiterte Gruppe übergibt mir erheitert diesen Kuhknochen und mein Vorgänger stellt in einer kurzen Ansprache, die ihm jenseits eines nachvollziehbaren Satzaufbaus über die Lippen stolpert, mit Freuden fest, dass ich nun fortan der Kohlkönig bin: „König Matzi der Verfressene. Ein König, der sich auch mal durchbeißen kann. Der zum Wohl vom Kohl auch auf eine Nachspeise zu verzichten bereit ist.“ Kurz nach meiner schmucklosen Krönung werde ich auf die Tanzfläche geschubst, die ich nur schemenhaft wahrnehme und dann wirbel ich von Frau Samantha Fox, äh Discofox, getrieben durch den Saal. Drei Lieder lang. Eins grauenvoller als das andere und ich kenne jeden Text. Und ich singe mit. Jenseits von Takt, Rhythmus, Tempo und Melodie. Danach sortiere ich erst einmal meine Knochen und lade die Disco Füchsin auf einen Schnaps an den Tresen ein. Ja, bei Flatrate bin ich besonders großzügig.

Sambucca möchte sie trinken und sie möchte auch, dass ich Sambucca trinke. Und ich möchte zum einen nie wieder mit ihr tanzen müssen und zum anderen auch frei entscheiden, ob ich etwas trinke oder auch nicht. Und wenn ja, was. Natürlich trinke ich Sambucca mit ihr. Aber es ist meine freie Entscheidung, sofern ich überhaupt in der Lage bin, frei zu entscheiden.

Der Gruppenverband meiner Mannschaft ist in Auflösungserscheinung getreten, denn irgendwie kennt man gefühlt 80% der Leute auf dem Saal und jeder spricht mit jedem.
Frau Isabella Perlmutt Schwachmann, die das Elend, das ehemals ihr Gatte gewesen ist, nicht mehr länger ansehen möchte, ist mit dem erstbesten Taxi nach Hause gefahren. Nicht, ohne ihrem Gemahl vorher noch eine Szene zu machen. Er, also Holger, hat das Bewusstsein wiedererlangt und steht an der langen Theke, um dort neue Freundschaften zu knüpfen. Zwei Steinhäger, vier Jägermeister und ein Sekt helfen sehr bei der Kontaktaufnahme. Er verabschiedet sich von seiner flüchtenden Gattin mit den Worten: „Mach´s gut, Du blöde Kuh!“ Während ihm seine neuen Freunde auf die Schulter klopfen. „So ist´s richtig, Du musst einfach mal zeigen, wer der Herr im Haus ist!“ In seinem Innersten weiß Holger, dass er dieser Herr im Haus natürlich nicht im Mindesten ist und er wird sich noch wochenlang bei seiner blöden Kuh entschuldigen, bis sie ihn wieder im Haus schlafen lässt. Aber in diesem einem Moment, in dem er mit seinen gleichgesinnten Trinkkumpanen lauthals singt, ist es ihm egal. „An Tagen wie diesen, wünscht man sich Unnennlichkeiiiith….“

Aber auch bei Steilhangs Anita und Klötenköms Herbert hat sich etwas getan. In einer Mischung aus Gefühlsduselei und Verzweiflung hat er sich zunächst ein Herz und dann sie ins Auge gefasst und ist ihr einen entscheidenden Schritt näher gekommen. Nach einem kurzen aber romantischen Gespräch: „Ganz schön voll hier, wa?“ „Ja.“ Schweigen „Aber der Kohl war lecker, wa?“ „Ja. Aber eigentlich hatte ich Schnitzel.“ „Soso.“ „Jaja.“ „Und wie war das Schnitzel?“ „Ja lecker.“ „Soso.“ „Jaja.“ ….konnte auch ein Blinder erkennen, dass sich hier etwas ganz Besonderes anbahnt. „Ich bin der Herbert.“ „Ich auch.“ Schweigen. „Nee, ich bin natürlich nicht Herbert. Ich wollte sagen, dass ich weiß, dass Du der Herbert bist. Und ich bin die Anita.“ „Anita also.“ „Ja.“ „Soso.“ „Jaja.“ Es folgte ein Bruderschaftstrinken mit einem, nicht ganz zielgerichteten Bruderschaftskuss, der allerdings die lodernde Gefühlswelt der beiden komplett durcheinander wirbelte. Mittlerweile küssen sie sich seit einer viertel Stunde und ihre Zungen erforschen dabei den Mundraum des jeweils anderen. Ob aus Leidenschaft oder einfach nur, weil man hier auf der Suche nach ein paar Speiseresten ist, kann auch ein geübtes Auge auf den ersten Blick nicht erkennen.

Ich befinde mich auch jenseits von Gut und Böse und stehe ebenfalls am Tresen. Wo auch sonst. Ich stelle den Kuhkieferknochen auf die Thekenfläche und bestelle: “ Zwei Irgendwas, Hauptsache das Zeug brennt auch, für mich und meinen Kumpel“, und zeige bei dem Wort Kumpel auf den Knochen. Da mein neuer Freund aber nicht mittrinken kann, muss ich die beiden „Irgendwas, was brennt“ alleine trinken. Und ja, das Zeug brennt und ich glaube, das musste weg. Der Abend vergeht schneller als gedacht und ehe man es richtig begreift, ist es halb eins und das letzte Lied wird gespielt. Das überarbeitete Personal hat nun alle Hände voll zu tun, die Meute aus dem Saal zu fegen. Und sie wissen, wenn sie dabei nicht energisch genug vorgehen, sitzen die ganz Harten noch bis sechs hier und das muss niemand mehr haben.

Meine Ohren rauschen von der lauten Musik als ich nach Hause komme. Vorher habe ich noch auf dem Saal so ziemlich jeden umarmt, den ich kenne, oder meine zu kennen und bin dann mit ein paar Weggefährten in ein Taxi gestiegen. Fatalerweise fuhr es in die falsche Richtung und die Weggefährten waren nicht meine Weggefährten. Muss ich also nochmal in die andere Richtung fahren. Aber nun ist alles gut. Umständlich schließe ich die Haustür auf und habe die Eingebung, dass ich den Hasen mit dem Kieferknochen, meinem neuen Kumpel, doch einfach mal erschrecken könnte. Denn schließlich bin ich ja König, da darf man solche Sachen. Ich schlafe allerdings vorher auf dem Sofa ein und kurz vor dem Einnicken erhascht mich ein Moment der Vorfreude, denn nächste Woche ist wieder Kohltour. Und übernächste Woche auch. Und danach………..usw……..Es ist kein Zuckerschlecken.