Menschen im Hotel

Es gibt 699 Zimmer in unserem Hotel. Ungefähr 692 mehr als in unserem Haus, aber daran kann man ja noch arbeiten. Lasst mich erst einmal reich und berühmt sein. Ach, reich reicht eigentlich auch schon. Jedenfalls habe ich mal hochgerechnet. Und wenn man fast 700 immer hat, von denen die meisten mindestens zwei Schlafplätze haben, dann macht das zuzüglich einiger Familienzimmer und eingeklappten Betten, wie in unserem Zimmer, bei einer guten Belegung rund 1500 Leute, die hier untergebracht sind. Fast doppelt so viel, wie in dem Dorf in dem ich wohne und immer noch ein Drittel mehr als in der ganzen Gemeinde. Und die sind hier alle in diesem überdimensionalen Schuhkarton untergebracht? Der Wahnsinn. Komischerweise begegnen wir in dem Flur auf unserer Etage so gut wie nie irgendjemandem. Wahrscheinlich hechten die alle zurück ins Zimmer, wenn sie mich sehen.

1500 Leute aus aller Herren Länder und mit Manieren, oder auch ohne. Manchmal ist es einfach so, dass man in einem 5 Sterne Haus ist und die Gäste sind aber nur zwei Sterne. Mich möchte ich dabei aber auf mindestens drei Sterne verorten. Auch wenn der Dritte etwas blass ausfällt. Nehmen wir mal den Speisesaal als Beispiel. Hier tummeln sich die Hungrigen und Verdurstenden. Und es wird einem alles geboten, was man sich als Otto Normalverbraucher auch nur ansatzweise wünschen kann. Es ist wie im Schlaraffenland, wo einem die gebratenen Tauben in den Mund fliegen. Der Hase und ich sind bis in den letzten Winkel zufrieden und beeindruckt von dem, was uns hier geboten wird. Aber das geht ja nicht jedem so. Ich habe im Vorfeld ein paar Bewertungen vom Hotel gelesen und es gab doch tatsächlich Leute, die das Essen nicht gut und den Service nicht ausreichend gefunden haben.

Ja ich weiß, man sollte keine Bewertungen kritiklos lesen, aber wir waren hier noch nie und wollten ein bisschen erfahren. Und wie es so ist mit den Bewertungen, kann hier jeder Hans und Franz irgendeinen Scheiß reinschreiben, ohne dass er dafür Konsequenzen fürchten muss. Es ist so anonym, wie im Auto, wenn man sich über all die Heckenpenner aufregt, die die Straßen bevölkern. Schließlich ist man selbst doch der beste Fahrer der Welt, oder? Was die schlechten Bewertungen angeht, so kann man natürlich auch nicht wissen, welchen Hintergrund die Leute haben Wer laufend in den besten Luxushotels nächtigt und nicht unter drei Michelin Sternen essen geht, der wird hier bestimmt die fehlenden Wachteleier oder manch einen anderen kurzgebratenen Anlass zur Unzufriedenheit beanstanden. Und wenn man so einem Menschen sagen würde: „Ist das nicht toll hier, so viel Auswahl!“ Dann würde er antworten: „Mag sein, aber Blattgold ist da nirgends drauf und außerdem, wo sind die gebratenen Tauben, mein Mund ist offen.“

Der Hase und ich haben jedenfalls immer große Augen, weil alles so toll angerichtet ist und so lecker duftet und noch besser schmeckt. Aber wir sind nie im Stande, auch nur annähernd alles zu probieren, was einem besonders abends hier geboten wird. Wir sind satt bevor wir uns durcharbeiten konnten. Man kann es aber auch anders machen. Es ist nicht selten, dass die Leute sich hier die Teller so voll füllen, dass ihnen nur noch übrig bleibt, den Nachbau der Cheops Pyramide mit gegrillten Putenschnitzeln, einer Auswahl an Kartoffelspeisen und dem Gemüse der Region im Maßstab 1:25 zu kreieren. Man möchte gar nicht wissen, was so ein Teller wiegt. Nach rund zehn Minuten, in denen sie essen, oder das tun, was sie dafür halten, sieht das alles aus wie ein explodierter Fasan und nicht einmal 12 Prozent der erlesenen Speisen haben den Weg zum Mund des Speisenden gefunden. Dafür lässt man sich dann lieber dieses Schlachtfeld von einem Teller abräumen, um sich noch einmal mit mindestens derselben Menge an anderen Gerichten einzudecken. Natürlich schafft man auch diesmal nur einen geringen Teil des Erbeuteten und lässt auch diesen Rest wieder abräumen und fachgerecht im Müll entsorgen.

Zur Krönung gibt es noch drei kleine Desserts von denen man jeweils ein Löffelchen herunterkriegt. Schließlich hat man ja auch nur einen Magen. Wer soll das bloß alles essen? Und man möchte sie schütteln und ihnen sagen: „Alter, Du musst das nicht alles mitnehmen. Keiner verlangt das von Dir!“ „Aber ich habe doch dafür bezahlt!“, wird die Antwort sein. Und das ist der grundlegende Nachteil vom Prinzip „All Inclusive“. Alles ist hier unbegrenzt zur Verfügung und es kostet nicht mehr, wenn man mehr davon nimmt, als es einem gut täte. Was dazu führt, das hier so ziemlich jedes zweite Glas noch mindestens halbvoll stehengelassen wird und auf den Tellern genug übrig bleibt, um ein mittelgroßes Dorf zu einem Festessen einzuladen. Und das jeden Abend. Man verliert offensichtlich den Bezug zu den realen Dingen und sieht den Wert hinter all dem nicht und auch nicht, dass es moralisch verwerflich ist, das alles in den Müll jagen zu lassen.

Wir waren ja mal in der Türkei. Ein ähnliches Hotel und auch All In und eines Abends saßen wir noch länger im Speisesaal und sahen, was am Ende des Abends so passiert. Es waren, mal so als Beispiel, furchterregend viele Desserts aufgebaut. Jedes einzelne ein kleines Kunstwerk. Das Motiv für viele Fotos, die man an die Lieben zu Hause sendete. Und wenn es, ich sag mal ungefähr 12 Sorten gab, dann auch immer in der Menge so viel, dass für jeden Gast mindestens eines zur Verfügung stand. Wenn man wollte, konnte man also 12 Desserts essen. Aber wer will das schon? Am Ende des Abends waren eine Unzahl davon übrig und die sind…….einfach so stumpf in den Müll gewandert. Da fragt man sich natürlich, warum ein Hotel dieses Überangebot überhaupt macht. Ich denke, wenn die falschen Leute nicht das kriegen, was sie wollen, dann gibt es schlechte Bewertungen im Internet. Und schlimmstenfalls wird man um einen Stern zurückgestuft und dann bleiben die Gäste aus und man kriegt den Laden nicht mehr voll und der Ruf leidet weiter und man entlässt die Mitarbeiter und am Ende bleibt eine Bauruine, die mal ein 5 Sterne Hotel gewesen ist. Dann doch lieber tonnenweise Lebensmittel wegwerfen. Sowas nennt man Ökonomie glaube ich.

Im Speisesaal sieht man im Laufe der Tage ziemlich viele Menschen und schnell merke ich, dass dies ein sehr familienfreundliches Hotel ist. Eine Erkenntnis, die mich überkommt, weil hier so sehr viele Familien sind. Manchmal bin ich ein wenig verliebt in mich und meine Auffassungsgabe. Es sind auch auffallend viele kleine Kinder hier. Und noch kleinere Kinder. Manche sind noch so klein, dass die Entbindung höchstwahrscheinlich direkt nach der Landung auf dem Flughafen gewesen ist. Da hängt bestimmt noch Nabelschnur dran und ich vermute, dass sie noch Plazenta essen. Und augenscheinlich fühlen sie sich hier inmitten all dieser vielen Menschen in diesem Speisesaal total wohl. Wie sonst sollte man deuten, dass diese Blagen ununterbrochen quengeln, jaulen oder nach Leibeskräften schreien. Unser Zimmer ist acht Etagen über diesem Außenbereich des Speisesaals und an einem Abend wollen wir mal etwas später zum Essen gehen. Und ich sitze auf dem Balkon und höre das Stimmgewirr der Leute unten. Und ein Kleinstkind das schreit, als ob es versehentlich auf dem Grill gelandet ist. Was in aller Welt bewegt die Eltern dazu, sich mit diesem frischen Erdenbürger in dieses Getümmel zu werfen? Hören sie die Schreie nicht? Oder gibt es Verständnisprobleme? Denken sie, wenn der winzige Nachwuchs nur noch aus einem kreischenden Mund zu bestehen scheint und ansonsten schon beinahe blau anläuft, das es sagen möchte: „Danke Mutter, Danke Vater, dass Ihr mich hierher geschleppt habt!“ Was für eine Art Urlaub soll das denn bitteschön sein?

Wir gehen runter, nachdem wir das Kind haben rund eine Stunde bölken hören und hoffen, dass es entweder von selbst aufhört, oder die Eltern ein Einsehen haben und die Heimreise antreten. Wenn möglich mit dem Kind. Aber das Hoffen war umsonst, denn das, sein Lungenvolumen lautstark austestende, Bündel ist noch nicht ganz fertig. Aber eine Viertel Stunde später ist es dann doch endlich so weit. Es geht ein Aufatmen durch den Saal, als sie das Feld verlassen. Ein Aufatmen, dem ich mich nur zu gern anschließe. Dann betritt eine weitere ADHS Familie das Szenario. Ich sehe sie nicht, weil sie hinter meinem Rücken ein paar Tische entfernt sitzen. Aber der Hase hat alles genau im Blick. Zunächst hört man wieder die Stimme eines verzweifelten Babys, das gerne flüchten möchte, aber noch rund 12 Monate warten muss, bis es selbst laufen kann. „Jetzt stillt sie das Kind“, sagt der Hase. Und ich so: „Waaas?“ „Ja, sie stillt“, sagt der Hase. Für mich ein bisschen unvorstellbar.

Bevor nun alle auf mich einprügeln, weil sie mich für einen rückständigen alten Reaktionär halten, der mit einer gewissen Doppelmoral etwas gegen den entblößten Busen einer Frau hat, die einem Kind das Grundrecht auf Nahrung näher bringt, muss ich mich kurz erklären. Mir ist es persönlich ziemlich egal, ob die Gute da nun ein oder drei Kinder säugt. Meinetwegen könnten hier alle sowas machen. Aber ich verstehe die Motivation nicht. Stillen hat für mein Verständnis auch immer etwas mit Stille mit Ruhe und Geborgenheit zu tun. Stillen in diesem hektischen Wirrwarr ist, als ob man sich auf einen Ameisenhaufen setzt, um zu meditieren. Es ist ja nicht so, dass es keine Hotelzimmer gibt, wo man, äh Frau die Ruhe hat, die man dafür braucht. Aber es passt in das gesamte Familienbild, es lieber hier zu tun, wo Betriebsamkeit herrscht wie auf der A1 in Köln an einem Freitagnachmittag. Denn Vater und das zweite Kind, eine Tochter von ungefähr vier Jahren, haben auch noch so ein paar Probleme. Niemand sitzt richtig auf irgendeinem Stuhl, keiner kann richtig essen, das Mädchen möchte lieber auf dem Stuhl stehen und Vati steht hilflos davor und hat keinen Einfluss auf seinen militanten Nachwuchs. Nur mit Mühe kann er sie davon abbringen sich auch noch auf den Tisch zu stellen. Stillen klappt auch nicht und Mutti ist genervt und das Baby weint und das Mädchen jetzt auch. Niemand kriegt einen Bissen herunter, dafür verteil das Mädchen Essen und Getränke lieber rund um die Sitzplätze. Ja, ich denke so möchte ich auch meinen Urlaub verbringen.

Und am Ende ist der Tisch und der Bereich darunter, in der Hitparade für das schlimmste Schlachtfeld unangefochten ganz weit vorne. Und die Leute vom Service, die hier überall herumschwirren und ständig präsent sind, müssen den ganzen Scheiß wieder aufräumen. Und sie tun dies ohne Murren und sind nebenbei noch in der Lage auch zu den größten Schreihälsen freundlich zu sein. Auch zu den Kindern unter diesen. Manchmal frage ich mich, was die in einer Saison so alles mitkriegen, ertragen müssen und erleben. Und was sie wohl von uns, den Gästen im Allgemeinen so halten. Und ich frage mich, wie man da immer so nett und freundlich bleiben kann. Und ich frage mich wie man den Service hier auch nur ansatzweise schlecht bewerten kann. Was für Snobs mögen sowas machen. Ob der Hase und ich auch so werden, wenn wir nur oft genug unterwegs waren und beginnen, die Hotels miteinander zu vergleichen? Ich hoffe nicht.

Die Belegung des Hotels ist sehr international und wenn man ein paar Tage hier ist, hört man die verschiedensten Sprachen. Englisch, Russisch, Skandinavisch (ich kann die Länder nicht auseinander halten, klingt für mich alles gleich), Holländisch, Sächsisch und Bayrisch. Wobei die Engländer immer ein bisschen versnobt klingen. Die russische Sprache hat einen extrem unfreundlichen Klang und besteht zu 76% aus dem Buchstaben „R“. Wenn man einen Russen sprechen hört, dann klingt das immer so nach Hbrrigsa, Vrrruskrrranko und Hrrgah. Wahrscheinlich gibt es diese Worte wirklich und sie bedeuten: „Dein fetter Bauch stielt mir die Sonne, dreh Dich um, du Penner.“ Französisch ist weich und Italienisch eher hektisch. „Wie wohl Deutsch klingt wenn man das so hört?“ fragt der Hase. „So als wollten wir einmarschieren“, antworte ich.

Mit ein paar von den anderen Einmarschierern beginnen wir auch Gespräche. Das heißt, der Hase beginnt Gespräche. So wie mit dem Mann, den wir bei unserer Badepremiere im Mittelmeer in diesem Urlaub sehen. Er ist groß, in etwas so alt wie ich und hat einen recht großen Bart am Unterkiefer hängen. Und es fasziniert mich, dass dieser Bart sofort, nach einem Tauchgang, wieder fast trocken wirkt. Es dauert keine fünf Minuten und der Hase hat ihm die wichtigsten Informationen über Herkunft, Beruf, bisher erreichte Urlaubsziele und andere Vorlieben entlockt. Im Gegenzug weiß der Gute dafür auch meine komplette Krankheitsgeschichte. Das reicht mir. Ich möchte nicht mehr der Gegenstand eines verbalen Informationsaustauschs sein und schwimme los. Vor allem nicht, mit einem Mann, der wie ich später herausfinde, auch einer dieser „Handtuchaufdieliegeleger“ ist. Woher ich das weiß? Nun ich habe ihn auf frischer Tat ertappt, als er eines morgens seine Handtücher niederlegte während mir zufälligerweise auch die Handtücher vom Hasen und mir auf zwei Liegen gefallen sind. So ein Missgeschick. Und damit es nicht so unordentlich aussieht, habe ich sie akkurat auf den Liegen platziert und mit einer Art Wäscheklammern befestigt. Man ist ja ordentlich.

Die Leute sind insgesamt sonnenhungrig und ich habe das Gefühl, dass ich der Einzige bin, der auf seiner Strandliege immer den Schatten des Sonnenschirms, der kaum größer als eine Briefmarke ist, sucht. Der Hase und all die anderen lassen sich braten und sie sehen dabei auch glücklich und zufrieden aus. Nur für ein Bad im Mittelmeer verlasse ich meinen Schattenbereich und werde trotzdem einigermaßen braun. Also meine Haut wird braun, nicht meine politische Gesinnung. Und wenn wir da so liegen, in der ersten Reihe am Strand, auf den Liegen, auf die früh morgens zufällig unsere Handtücher gefallen sind, dann freut sich der Hase, dass sie niemandem auf den Nacken gucken muss, wenn sie aufs Meer blicken möchte. Mir ist es eher egal, Hauptsache wir liegen in direkter Nähe zur Strandbar und ich kann uns immer schnell was zu trinken holen und mir ein freundliches „You´re welcome“ sagen lassen. Es ist schön.

Eines Tages wird diese Schönheit ein bisschen getrübt, weil eine Familie aus den hintern Reihen, mit den billigen Plätzen, sich ihre Liegen schnappt und einfach mal sich vor uns niederlässt. Keine 70cm entfernt vom Hasen. Den Sonnenschirm wollten sie auch noch mitnehmen, aber der ist zu fest im Boden verankert. Dem Hasen ist diese unerwartete Invasion mal so gar nicht recht und sie spricht das Familienoberhaupt an und erklärt ihm ein paar Dinge. „Und, was hat er gesagt?“ frage ich. „Keine Ahnung, er spricht russisch“, sagt der Hase. Aber mit ein paar international gültigen Handzeichen hat sie ihn wohl davon überzeugen können, dass es sich hier um eine Grenzüberschreitung handelt. Woraufhin er seine Liege schnappt und sie weiter weg rückt. Um weitere 30cm und das ist wirklich so und kein Witz. Der Hase ist eben immer darauf bedacht, dass wir weitestgehend alleine liegen können. „Wenn Du könntest, dann würdest Du noch ne Hecke pflanzen“, sage ich und füge den berühmten Satz von Walter Ulbricht hinzu: „Niemand hat die Absicht, hier eine Mauer zu bauen. Niemand außer dem Hasen.“ Wahrscheinlich nehmen wir im nächsten Urlaub ein bisschen Natodraht mit.

Es herrscht auch immer ein riesiges Stimmwirrwar am Strand und ich merke, dass es in der Hauptsache Frauen sind, die viel reden. Das ist genetisch bedingt. Und als eine weitere russische Kommune in unserer Nähe liegt, gibt es eine Frau, die wirklich pausenlos redet. Die holt nicht mal Luft. Wahrscheinlich läuft sie auch blau an. Ich kann es nicht erkennen. Und dann spricht sie noch so dermaßen laut und dann noch auf russisch und vor allem schnell und hektisch. Ich glaube die würde auch noch weiter reden, wenn sie allein am Strand wäre. Sie würde nach ihrem Ableben auch die eigene Grabrede halten, vermute ich. Und in meinem Kopf ist ein Widerhall mit vielen „Rs“ und ich werde langsam kribbelig. Da fällt mir ein, ich habe ja einen Kopfhörer mit Geräuschunterdrückung dabei. Und ich setze ihn auf, schalte ihn ein und merke, wie alles leiser wird. Und dann höre ich mir das neue Album von Iron Maiden an. In voller Lautstärke und ich denke: „Ruhe, endlich Ruhe!“