Ich werde wach. Mein traumloser Schlaf ist nicht gerade sehr tief. Es ist taghell im Zelt. Aber es ist noch Nacht. Hell ist es deswegen, weil wir das seltene Kunststück geschafft haben, im direkten Lichtkegel einer Art Flutlichtmast unser Zeltlager aufzuschlagen. Es ist aber nicht die Helligkeit, die mich weckt. Draußen ist es realtiv laut. Über irgendein größenwahnsinniges Soudsystem läuft in Dauerschleife ein Lied. Vereinzelt sind sprechende Stimmen oder aber betrunkenes Grölen zu hören. Aber auch das hat mich nicht geweckt. Nein, der Grund meiner Erweckung ist wesentlich gewöhnlicher. Ich muss mal.
Ich muss mal. Drei Worte, die auf einem Festival mitunter einen komplizierten Beigeschmack haben können. Sofern es statthaft ist, in diesem Zusammenhang von Geschmack zu sprechen. Es ist halt nicht wie zu Hause. Es ist sogar nicht annähernd wie zu Hause. Man muss da nicht lange drumrum reden, auf einem Festival mal zu müssen, ist selbst unter günstigsten Umständen eine Prüfung. Gerade in der Nacht ist es kompliziert.
Zu Hause wirst Du wach. Du liegst in Deinem Bett, dessen Liegefläche idealerweise rund einen halben Meter über dem Boden ist. Du drehst Dich zur Seite, stellst Deine Füße auf den Boden, stehst auf und gehst barfuß die paar Meter rüber zum Bad, wo eine vor Sauberkeit strahlende Kloschüssel auf Dich wartet. Du meinst, sogar in der Dunkelheit ein Leuchten dieser Sauberkeit sehen zu können und eine Art Engelschor stimmt ein himmlisches „Hallaluja“ an, während Du Dich dorthin begibst. Zu Hause heißt „Müssen“ nicht „Müssen“, sondern „Dürfen“.
Auf einem Festival ist das anders. Ganz anders. Wer hier mal auf die Toilette gehen musste, weiß wo der Begriff Notdurft seinen Ursprung hat. Man kann die Möglichkeiten sich zu erleichtern zumindest für die männlichen Festivalbesucher in drei Kategorien einteilen. Entweder man stellt sich an einen der kilometerweise aufgestellten Bauzäune. Das ist nicht immer jedermanns Sache und setzt zwei Dinge voraus. Erstens muss man sich schon über gewisses Schamgefühl hinweg getrunken haben, oder keines besitzen. Und zweitens sollte man nicht groß müssen. Ich habe eigentlich schon alles gesehen, was es auf einem Festival zu sehen gibt, aber an den Zaun hat noch keiner gekackt. Zumindest habe ich das noch nicht beobachten können. Doch genug davon. Man will ja keine schlummernden Geister wecken.
Also die erste Kategorie ist der Bauzaun. Aber eigentlich nicht für mich. Die zweite und am häufigsten anzutreffende Möglichkeit ist das Dixi, oder besser die Einpersonenmobiltoilette. Ja genau, diese kleinen Plastikzellen, die blau sind und ein weißes Dach haben. Eine Farbgebung, die dem Benutzer das unbestimmte Gefühl gibt, man befände sich im Inneren von einem Schlumpf. Diese Dinger sind eigentlich alle gleich. Sie unterscheiden sich eher durch ihre Standorte auf dem Gelände.
Und hier stellen sich die Fragen: Sind sie häufig frequentiert? Werden sich häufig gereinigt? Wenn ja, gab es Überlebende? Und wann war die letzte Reinigung. Ein häufig frequentiertes Dixi, das nur selten abgepumpt wird, ist kein schöner Ort. Wobei ein Dixi grundsätzlich kein schöner Ort ist. Es soll eigentlich auch kein schöner Ort sein. Sonst würde man da ja nur drin rumhängen wollen. Und wenn man die Begriffe Dixi und Pyramide miteinander in Verbindung bringen kann, ergibt das eher keinen schönen Anblick. Ein Dixi ist mitunter mit großer Vorsicht zu genießen. Wobei auch das Wort genießen in diesem Zusammenhang nicht gerade angebracht ist. Am saubersten sind die Dixis auf dem eigentlichen Veranstaltungsgelände, dort wo die Bands spielen. Aber nur dann, wenn das Gelände gerade seine Pforten geöffnet hat und noch keiner drauf war, auf den Dixis. Aber hier leuchtet nix und Halleluja singt auch keiner.
Und dann gibt es noch die dritte Notdurftkategorie. Die Sanitärstationen auf dem Campinggelände. Die de Luxe Klasse für das Geschäftliche, wenn man so will. Mit angegliederten Waschmöglichketen, Duschzelten, echten wassergespülten Toiletten und einer Art Dachrinne für das kleine Geschäft der männlichen Festivalgänger. Letztere sind durch Bauzäune, die mit Planen behängt wurden, blickdicht gemacht worden, damit Mann in Ruhe seiner Tätigkeit nachgehen kann. Eigentlich eine super Erfindung, denn ohne großen Aufwand kann man so Heerscharen von Männern mit Überdruck auf der Leitung eine schnelle Möglichkeit der Erleichterung bieten. Allerdings ergeben sich dabei mit zunehmenden Alkoholgehalt der Nutzer auch einige Probleme.
Entweder ist es Selbstüberschätzung, was die eigentliche Größe des ausscheidenden Organs (in Fachkreisen in diesem Zusammenhang auch gern mal Piephahn genannt) angeht, oder aber manch einer ist des Zielen nicht immer mächtig. Und so entsteht auch hin und wieder die ein oder andere Pfütze, deren Inhaltsstoffe lieber nicht näher definiert werden sollten. Manch einer kommt aber auch auf die lustige Idee, einfach mal was in die Rinne zu stellen. Wobei wiederum andere in eine Art inneren Konflikt geraten, wenn in der Rinne entweder ein Bierbecher oder etwas Hartgeld liegt. „Soll ich das nehmen, oder soll ich nicht?“ ist dann die große Frage. Ich persönlich habe bisher der Versuchung immer widerstehen können und es fiel mir nicht mal schwer…..Meistens jedenfalls. Das weitere Bestandteil dieser Sanitärstationen sind die WCs. Also echte wassergspülte Toiletten, auf denen wegen dieser Spülung keine Pyramide entstehen kann, weil die alten Bekannten ja durch den Wasserstrahl weggespült werden.
Und, ich muss da jetzt mal eine Lanze brechen, die Dinger sind im Normalfall so ziemlich immer in einem guten Zustand. So gut wie der Zustand angesichts der Massen an Notdurft nun mal sein kann. Die Leute, die die Dinger sauber machen, haben keinen leichten Job, aber in der Regel machen sie ihn echt hervorragend. Zumindest dort, wo ich es so sehen konnte. Diese Toiletten stehen dann in Reihen a ca. 15 Stück und sind dermaßen eng, dass es ein Kunststück ist, hier seine Hose runter zu ziehen, ohne dass man dabei von den Seitenwänden eingeklemmt wird. Hin und wieder überkam mich dort auch schon die Angst, ich würde da eingeklemmt bleiben und die Feuerwehr müsste mich befreien……Ein Alptraum……
Das sind also die Gelegenheiten auf einem Festival, dem Druck und Drang nachgeben zu können und wann immer es irgendwie möglich ist, zelten wir in erreichbarer Nähe zu einer Sanitärstation. Wobei die erreichbare Nähe auch gern mal ein paar hundert Meter sein können. Diesmal sind es rund 150 Meter, wenn ich es mal schätzen sollte und ich bin gerade wach geworden, weil ich diese 150 Meter hinter mich bringen möchte. Und es ist natürlich nicht annähernd wie zu Hause. Ich liege im Prinzip flach auf dem Boden. Wobei es sich wie bergab liegen anfühlt und der Kopf ist dabei die niedrigste Stelle. Ungemütlicher geht es eigentlich nicht.
Was zum Geier hatte ich mir nur dabei gedacht? Warum bin ich hier? Ja, weil Zelten einfach so geil ist. Ist es auch. Wenn man zwanzig ist, oder so. Wenn man einfach so aufspringen kann, weil man so begeistert davon ist, wie energiegeladen und beweglich der eigene Körper doch ist. Scheiß was, nix isses mit beweglich und energiegeladen! Und Aufspringen geht schonmal gar nicht. Leute wie ich sollten der Tatsache ins Auge sehen, dass sie hier nicht hingehören. Leute wie ich sollten zum Tanztee gehen, oder Bingo spielen. Oder den Enkelkindern einen Schal stricken. Was bei mir allerdings daran scheitert, dass ich nicht stricken kann und außerdem noch keine Enkelkinder habe. Aber sowas sollten Leute wie ich machen. Aber nee, ich bin ja so schlau und so cool, dass ich nun hier bin. Ich Depp.
Ich kriege drei Krämpfe im Oberschenkel als ich aufstehe. Und einen weiteren in der Schulter, als ich meine Schuhe anziehe. Das muss ich irgendwie im Stehen machen und weil ich meinen Schuhanzieher vergessen habe, oder besser nicht finden kann, betreibe ich ein wenig Yoga, unfreiwillig, um das Problem der Schnürsenkelbindung zu lösen. Barfuß oder auf Socken zum Rinnenbereich zu gehen ist keine Option. Ich glaube man könnte gar nicht alle Bakterien benennen, die auf dem Boden wuchern. Da gammeln einem die Füße ab. Obwohl es unter den jungen Menschen immer wieder ein paar verstrahlte Exemplare gibt, die hier wirklich immer barfuß rumlaufen. Überall hin. Und dann wahrscheinlich noch einfach nachts mit den besudelten Füßen in den Schlafsack. Aber das soll jeder so machen, wie er mag. Meins ist das nicht.
Ungeschickt öffne ich den Reißverschluss vom Zelt. Es hat am Abend noch geregnet, also ist draußen alles irgendwie klamm. Und so richtig warm ist es auch nicht. Es ist irgendwas um die zwei Uhr rum und ich bin so ziemlich allein. Meine Mannschaft schläft und auch der Swingerclub von nebenan und meine Freunde, die Teenager in ihren gestapelten Zelten haben sich zur Ruhe begeben. Mir drückt die Blase und ich gehe los. Ein bisschen schwindelig ist mir auch dabei.
An der nächsten Ecke sitzt einer von den vielen Beschäftigten der Festivalcrew. Aber keiner von der Security. Das sind ja die großen, breitschultrigen Kleiderschränke, die gerne mal mit Quads über das Gelände heizen und den Eindruck erwecken, als ernährten sie sich nur von rohem Fleisch, das zur Not auch direkt vom Tier abgebissen wird. Nee, die Security ist schon ein Haufen cooler Männer. Das muss man schon neidlos anerkennen. Der Typ, der da an der nächsten Ecke sitzt, ist so eine Art Ordner und hat die ehrenvolle Aufgabe, einen Eingang für die Kackepumpwagen (dazu ein andermal mehr) rein- und rauszulassen. Er ist noch jung. Sehr jung. So jung, dass er wahrscheinlich begeistert davon ist, in welchem Zustand sein Körper noch ist.
Obwohl man ihm diese Begeisterung gerade nicht ansieht. Es hat ein bisschen etwas Trostloses, ihn da gelangweilt und halb durchgefroren zu sitzen. Es gibt eigentlich nur noch einen Anblick, der in diesem Moment trostloser ist. Wesentlich trostloser! Und das ist der grauhaarige alte Mann, der aus einem Zelt torkelt und auf ihn zu wankt. Und der sehr junge Ordner denkt sich: „Boah ey, was´n das? Der ist ja scheintot! Schlimm wenn die Leute nicht wissen, wann es Zeit ist, den Absprung zu schaffen! Sollte der nicht lieber Bingo spielen? Oder zum Tanztee gehen? Oder vielleicht seinen Enkelkindern einen Schal stricken?“ All das denkt er, als er mich sieht. Zumindest meine ich, dass er das denkt.
Und ich gehe auf ihn zu, blicke ihm in seine, vor lauter Jugend leuchtenden, Augen und sage: „Ich kann gar nicht stricken!“ Und in diesem Augenblick weiß er, dass ich nicht nur alt und ein trostloser Anblick, sondern auch irgendwie komplett bescheuert bin. „Ja nee, is klar“, sagt er und wirkt irgendwie ängstlich. Ich gehe weiter. Er blickt mir noch eine Weile hinterher. Ich wanke ein bisschen und grunze hin und wieder. Mir ist beinahe kalt. Menschengruppen kommen mir entgegen, von denen mindestens beinahe drei Personen zusammen so alt sind, wie ich allein. Und ich bin allein. Ich bin der Letzte der Generation Wählscheibentelefon in einer Welt voller Smartphones. Ich könnte ein Lagerfeuer machen und den Leuten erzählen, wie es war als ich jung gewesen bin. So kurz nach dem zweiten Weltkrieg. Aber will ich das? Ich weiß nicht. Im Moment will ich nur müssen und dann werde ich hier in den Sack hauen. Da bin ich mir sicher!
Soviel sei verraten. Ich mache es nicht. Ich haue nicht in den Sack. Ich bleibe hier und ich werde auch Spaß haben. Warum das so ist und wo es keine Probleme gibt, dazu demnächst mehr in der nächsten Folge von „Mit Kukident und Dosenbier“………..