Ein weiser Mann hat mal gesagt: Das Leben besteht aus drei Mahlzeiten am Tag und den Zeiten dazwischen. Und wenn Du beides für Dich angenehm gestalten kannst, dann hast Du ein gutes Leben. Der weise Mann bin natürlich ich und ich finde ich habe Recht. Und wenn man es genau betrachtet, dann habe ich ein gutes Leben. Die Mahlzeiten schmecken, was man mir offensichtlich sehr ansieht und wenn ich mal nicht esse, dann lebe ich im Allgemeinen auch nicht schlecht. So wie es sein soll. Ich könnte mir allerdings vorstellen, schon in Rente zu gehen. Oder Privatier zu sein. Ein Privatier, so hat mein Hase mir erklärt, ist jemand der nicht arbeiten muss, weil die Kohle die er hat, für ihn einfach zum Leben reicht. Und es ist egal, wie er an dieses Geld gekommen ist, solange es sich nicht um Drogengeld oder dergleichen handelt. Ein Lottogewinn vielleicht, einen Bestseller veröffentlichen, oder Ähnliches. Mit dem Hasenblog schafft man es jedenfalls nicht.
Als ich so 17 war, also kurz nach Beendigung meiner ersten schulischen Laufbahn, bei der ich mich nicht durch übermäßig gute Noten hervorgetan hatte, da hätte ich Privatier werden können. Nicht dass ich damals wusste, dass es sowas gibt, aber ich wusste, dass ich Talent dafür hatte. Ich war noch jungfräulich was den Arbeitsmarkt angeht, und wenn ich damals nicht auf die blöde Idee gekommen wäre, eine Ausbildung machen zu wollen, dann wäre die Welt in Ordnung gewesen. Alles wäre in Ordnung gewesen, wenn ich damals einfach meine Zeit mit Nichtstun und Pausen vom Nichtstun verbracht hätte. Vielleicht wäre ich auch mal gereist, weil ich das Geld gehabt hätte, aber gelangweilt hätte ich mich nie. Ich hätte nie diese Leere verspürt, die die meisten Menschen umgibt, wenn sie nicht wissen, wie sie den Tag rumkriegen sollen, weil die Arbeit den zentralen Platz eingenommen hat. Ein Leben ohne Arbeit wäre für die meisten undenkbar gewesen. Für mich damals kein Problem, denn es gab so viel Musik, die gehört werden konnte, so viele Bücher, die gelesen werden wollten und so viele Videofilme, für die mir ansonsten immer die Zeit fehlen würde. Und nicht nur die FSK 18. Es hätte so schön sein können, weil mein Alltag noch nicht von regelmäßiger Arbeit versaut worden wäre. Die Schönheit der Dinge hätte mir gereicht.
Aber nun, rund vierzig Jahre später habe ich ein Alter erreicht, von dem ich als 17 jähriger nur gerüchteweise gehört hatte und ich muss gestehen, dass mein Tagesablauf durch jahrzehntelanges Arbeiten korrumpiert wurde. Die Arbeit hat sich in mein Leben gefressen wie ein Parasit und ich bin vielleicht so weit, dass sie und ich in einer gewissen Abhängigkeit zueinander existieren. Ich habe die Befürchtung, dass es sogar bei mir mittlerweile eine gewisse Leere gäbe, wenn ich nicht arbeitete. Und das alles hatte mit meiner Ausbildung begonnen. Der Schritt ins Verderben, wenn man so will. Allerdings muss ich sagen, dass die Idee, damals eine Ausbildung machen zu wollen, in dieser Form nicht auf meinem Mist gewachsen ist. Es war vielmehr so, dass man das so machte. Schule zu Ende, Arbeit suchen und dann arbeiten, bis man alt und grau ist. Alt und grau bin ich ja schon, aber ein Ende der Arbeit und das Tor zu einem Leben als Privatier sind nicht in Sicht. Ein weiterer wichtiger Grund, eine Ausbildung zu beginnen, war, dass man auch Geld verdienen würde und sich von diesem Geld auch mal ein paar Dinge leisten könnte. Zumindest war so die Theorie. Die Wirklichkeit konnte und kann aber nicht immer mit Theorien mithalten.
Als ich so 17 war, das war Anfang/Mitte der 80er, gab es noch Hauptschule, Realschule und Gymnasium und die Aufteilung der Schüler war in etwa gleichmäßig. Ich war ein Realschüler, hätte vom reinen Verstehen her, vielleicht auch Gymnasiast sein können, wurde aber in Punkto Fleiß und Arbeitswillen, locker von jedem Hauptschüler abgehängt. Auch von den Schlechten. Ich war ein fauler Schüler, aber das nicht mit Absicht. Ich hatte das Prinzip mit der Bildung schon verstanden, aber es gab tausend Sachen, die interessanter waren als Schule und Hausaufgaben. Das Leben lockte mich immer mit vielen schönen Dingen. Musik, Bücher, Videofilme und Mädchen. Später kamen noch Alkohol und Zigaretten dazu. Das mit den Mädchen war aber eher so eine Phantasie von mir. Ich fand die hochinteressant, aber das Interesse war mehr eine einseitige Angelegenheit. Was mich aber nie davon abgehalten hat, sie nicht noch interessanter zu finden. Wer zum Henker sollte sich bei all dem noch auf die Schule konzentrieren können? Heute habe ich den leisen Verdacht, dass ich der einzige war, der so dachte.
Das Rauchen hatte ich mir angewöhnt, weil ich es für eine Art der Rebellion hielt und ich dachte, dass ein Rebell bei den Mädchen gut ankäme. Wenn man sonst nichts Beeindruckendes an sich hatte, dann konnte eine verwegene Aktion vielleicht einen anderen aus mir machen. So einen James Dean für ganz Arme, nur nicht so lässig, cool und gut aussehend. Mit dem Rauchen hatte ich mit 14 angefangen und noch mit 13 fand ich, dass alle in meinem Alter, die rauchten, Schwachköpfe wären. Mit 14 stellte ich offensichtlich fest, dass ich gerne ein Schwachkopf sein wollte. Man begann damals im Allgemeinen so mit 14 an zu rauchen, wenn man denn rauchen wollte. Das war dann eine Jungendsünde und somit verzeihlich. Mit 18 anzufangen war hingegen wirklich doof, weil man ja kein Kind mehr war und eine gewissen Reife haben sollte.
Ich war 14 wie gesagt und bis in die Haarspitzen bereit dazu, eine Jugendsünde zu begehen. So als wenn man mich gefragt hätte, was ich denn werden wolle, wenn ich groß bin und ich geantwortet hätte: „Ein Schwachkopf“. Die Anlagen dafür waren offensichtlich gut bei mir. Man wollte halt dazugehören und das funktionierte eigentlich immer dann am Besten, wenn man den gleichen Blödsinn machte, wie alle anderen auch. Ich ging damals mit meinem Cousin, nennen wir ihn mal Martin, der in der gleichen kleinen Straße wohnte und mit dem ich zusammen aufgewachsen bin und der auch Freund und fast Bruder für mich war, ziellos durchs Dorf, in dem wir lebten und ich hatte 3 Mark in der kleinen Hosentasche, vorn an meiner Jeans Hose. Drei Mark mit denen ich meine Leben nachhaltig beeinflussen konnte. Drei Mark, mit denen ich zeigen konnte, dass ich kein Kind mehr war und endlich alt genug dafür, die eigenen dummen Entscheidungen zu treffen. Es war ein erhebendes Gefühl und das Geld glühte förmlich in meiner Hosentasche. Und ich wusste, dafür würde ich am Automaten eine Schachtel Zigaretten kriegen. Und ich sagte zu meinem Cousin: „Martin, heute machen wir mal was ganz Verrücktes.“ Wir standen vor einem Zigarettenautomaten und ich nahm meine drei Mark, steckte sie in den Einwurfschlitz und machte Anstalten, eines dieser Schubfächer, aus denen man die Schachteln kriegen konnte zu öffnen.
Die Automaten hatten damals noch keine Sicherung, die verlangte, dass man sich ausweisen möge (es gab diese technischen Voraussetzungen einfach noch nicht) und so konnte jeder, der drei Mark hatte, einfach hin und sich eine Packung Glimmstengel holen. An fast jeder Ecke stand ein Exemplar und niemand nahm Anstoß daran. Rauchen war damals eine gewisse Selbstverständlichkeit und es war nicht selten, dass Eltern ihre minderjährigen Kinder zum Automaten schickten, Zigaretten zu holen. Die Zeiten waren wirklich anders. Jedenfalls stand ich mit Martin, der das Geschehen mit großen Augen verfolgte, vor diesem Automaten und war erschlagen vom Angebot der Teerprodukte, die allesamt darauf warteten, meine Lunge zu schädigen. Ungefähr zwanzig Sorten waren da und einige von ihnen schieden schon von vornherein aus. Ernte 23 und Reval waren einfach mal so uncool, so viel wusste ich schon. HB rauchte mein Opa, weswegen HB auch raus war. Wer wollte Leute beeindrucken, wenn er Opas Kippen im Hals hat. Lux rauchte mein Vater und war somit auch aus ähnlichen Gründen untendurch. Erst später, als ich wenig Geld hatte und von Vater ein paar Zigaretten schnorren konnte, war Lux urplötzlich nicht mehr so übel. Rothändle war das Stärkste, was im Automaten steckte und gerüchteweise wusste ich, dass man davon Lungenbumsen kriegen würde, was auch immer das sein mochte. Es klang jedenfalls nicht gut.
Nein, die richtige Zigarette für den angesagten Schwachkopf war entweder Camel oder Malboro. Wobei mir der Malboro Mann, der im Kino in der Werbung in den Sonnenuntergang ritt, immer sehr gefallen hatte. Aber meine Wahl für die erste Zigarettenschachtel, die ich mir in meinem Leben kaufte, fiel auf Camel. Und Martin, der, wie ich insgeheim vermutete, auch schon davor seine ersten Erfahrungen mit Zigaretten hatte, war bereit, diesen Schritt mit mir zu gehen. Wobei ich noch erwähnen muss, dass wir irgendwann als Kinder auch mal einen Strohhalm anzündeten und dran saugten, wenn er glühte. Das schmeckte eklig und wir schworen uns, dass wir nie rauchen würden. Hat anscheinend super geklappt mit dem Schwur.
Ich zog die kleine Lade heraus und meine erste Schachtel Zigaretten sprang mir fast entgegen. Ich hatte einen günstigen Zeitpunkt abgewartet, um die Transaktion durchzuführen. Unbeobachtet wollte ich sein, denn schließlich war ich erst 14 und man musste 16 sein, um in der Öffentlichkeit rauchen zu dürfen. Ich stand an der Schwelle zur Kriminalität und wenn das nicht rebellisch war, was sonst sollte rebellischer sein können? Hastig fingerte ich die Schachtel heraus und versteckte sie unruhig in der Seitentasche meiner Jeansjacke. Ich hatte das Gefühl, als würde die Schachtel förmlich leuchten oder als wäre ein großes Schild über mir, auf dem „Raucheralarm“ stand. Die Jeansjacke war damals ein Kleidungsstück, dem auch eine gewisse rebellische Wirkung anhaftete und das mit einigen Buttons verziert war. Es war damals Mode sich bedruckte Metallschildchen in Brusthöhe an die Jacke zu hängen. Entweder mit coolen Sprüchen oder Bandnamen. Je angesagter die Band war, desto lässiger war man. Ich hatte nur Bands mit Namen, die ich selbst nicht mal kannte, also musste ich die fehlende Lässigkeit mit Rauchen kompensieren.
Nun hatten wir Zigaretten und ich hatte eine Packung Streichhölzer organisiert. Es konnte losgehen. Natürlich trauten wir uns nicht, direkt im Dorf zu rauchen. Wir waren 14 und das Dorf zwar groß, aber immer noch klein genug, dass eigentlich jeder jeden kannte. Wir hätten die Zigaretten noch nicht mal angezündet, da hätten unsere Mütter es schon gewusst. Das Dorf hatte viele Augen und die Wände konnten reden, oder so ähnlich. Also gingen wir beide an den Ortsrand, in eigentlich direkter Nähe zu unserem Zuhause. Dort war ein halb zerfallenes Stallgebäude am Rand einer Wiese. Ein paar Mauern, kein Dach und eine Pumpe. Eine dieser Handpumpen, die man vielleicht noch aus alten Filmen kennt, mit deren Schwengel man Grundwasser nach oben transportieren konnte. Diese Pumpe hier war schon sehr alt, aber mit etwas Glück hatten wir als Kinder nach langer Schwengelbetätigung (ein Schelm, wer an dieser Stelle etwas falsches denkt) manchmal ein paar Liter rostigen Wassers herausgezwungen. Für ein Kind auf dem Land zur damaligen Zeit eine Offenbarung und für Martin und mich der ideale Anlass, damit Tage in den Sommerferien zu verbringen. Wasser das aus einer Pumpe kommt. Teufel auch, wie kann das sein? Und wir staunten jedesmal mit Augen, so groß wie Spiegeleier, wenn sich ein Strahl davon ergoss. Ach es waren tolle Zeiten.
Nun gut, wir bauten damals an diesem verfallenen Gebäude auch gerne mal Rauchbomben, die entweder aus Tischtennisbällen, die in Alufolie gewickelt waren, oder einer Mischung aus Salpeter und Zucker bestanden. Salpeter gab es mit etwas Glück im Gewürzregal im Supermarkt und nachdem wir häufiger ein Tütchen davon kauften, wurden wir von der Kassiererin skeptisch beäugt. Ich weiß nicht, wozu man Salpeter im Eigentlichen verwendete, aber sicherlich war es befremdend, wenn zwei Jungs, die gerade mal so den Stimmbruch erreicht hatten, so ein Zeug jeden zweiten Tag kauften. Als Kleinkriminelle, die ihre Spuren verwischen konnten, waren wir absolute Nieten. Wir zündeten das Gemisch an, oder hielten eine Flamme an den Tischtennisball. Das Ergebnis war jedesmal das Gleiche und wir hatten Rauchbomben entfesselt, die meilenweit zu sehen waren. Womit sich die Formel für eine glückliche Kindheit auf dem Lande neben der Komponente Wasser nun auch um Rauch erweiterte.
Aber an diesem Nachmittag war uns die Pumpe egal. Mit 14 war man auch auf dem Land ein bisschen raus aus dem Alter gewesen, dass einem das erpumpte Wasser Glücksmomente bescherte. Und an diesem Tag gab Wichtigeres. Rauch! Und zwar nicht von Salpeter oder in Alufolie gewickelten Tischtennisbällen Ich öffnete umständlich die Packung Zigaretten und steckte mir eine in den Mund und gab die Schachtel an Martin weiter. Früher als Kind, wenn ich meinen Vater beim Rauchen beobachtete, hatte ich immer gedacht, man müsste in die Zigarette reinpusten. Mittlerweile war ich etwas klüger. Ich steckte die Zigarette an und saugte an dem Filter. Solange bis meine gesamte Mundhöhle mit Rauch überquoll. Ich konnte nicht behaupten, dass das in irgendeiner Form schmeckte und pustete den ganzen Rauch hustend raus. „Nicht paffen, rauchen!“, sagte Martin. Paffen war für Kleinkinder und Anfänger. Der richtige Raucher nahm das ganze Zeug auf Lunge.
Also nochmal am Filter gesaugt und dann den ganzen Rauch tief eingeatmet. Das hatte zur Folge, dass ich noch wesentlich mehr husten musste. Ich konnte mich kaum einkriegen vor lauter Husten. Es schmeckte zudem noch fürchterlich und ich konnte beim besten Willen nicht verstehen, was daran so toll sein sollte. Außerdem wurde mir schwummrig. Die Erdachse schien sich verschoben zu haben, alles bewegte sich eigenartig und meine Beine wurden weich. Das war mein erster richtiger Zug an einer Zigarette und ich kann nicht sagen, dass er mir gefallen hatte. Und was macht man als Jugendlicher, wenn etwas nicht schmeckt und es einem irgendwie eklig und schädlich vorkommt? Genau, man macht es nochmal. Es ist die Aufgabe der Jugend, Dinge zu tun, die man selbst doof findet, nur um damit die Eltern irgendwann mal zu ärgern.
Der zweite Zug war ähnlich übel, wie der erste, aber ich fand das mit der verschobenen Erdachse irgendwie toll. Außerdem wollte ich ja auch cool sein. Also rauchten wir tapfer unsere erste gemeinsame Zigarette auf und ich betete, dass ich mir jetzt nicht in die Hose scheißen würde. Davor hatte mich Martin gewarnt. „Alter, das mit dem Rauchen ist so ne Sache“, hatte er gesagt, „Irgendwer hat erzählt, dass der Freund seiner Schwester, sich vor ihren Augen hemmungslos in die Hose gekackt hat, weil er das nicht vertragen hat. Rauchen ist nur was für ganze Kerle.“ Zwar erzählte irgendwer, egal wer, immer viel, wenn der Tag lang war, aber ich hatte trotzdem große Bedenken dass ich dem Ganzen nicht gewachsen sein könnte. Der Schließmuskel tat aber seinen Dienst. Diese Peinlichkeit blieb mir erspart und auch Martin behielt eine saubere Unterhose. Ich vermutete zumindest, dass es so war.
Nach diesem kurzen Intermezzo war mir eigentlich klar, dass ich nie wieder rauchen würde. Lässig hin, oder cool her. Es war ungesund und überflüssig und völlig behämmert, wenn man es machte. Ich unterschätzte aber zwei Dinge. Erstens schien ich Spaß daran zu haben, völlig behämmert zu sein und zweitens war die Schachtel ja noch ziemlich voll. Es widerstrebte mir, diesen horrend hohen Betrag von drei Deutschen Mark investiert zu haben und dann einfach fast eine ganze Schachtel wegzuschmeißen. Also beschlossen wir, diese eine Schachtel in den nächsten Tagen, hier bei unserer Stallruine aufzurauchen. Es ergab sich dabei bloß ein kleines Problem. Wir waren 14 und durften nicht rauchen und unsere Mütter würden uns köpfen, wenn sie es wüssten. „Meine Mutter wird mich köpfen, wenn sie es erfährt“, sagte Martin. „Meine auch“, sagte ich. Was also tun? Schließlich haftete jemandem, der geraucht hatte, auch immer ein starker Rauchgeruch an. Eine Zigarette und man hatte das Gefühl, man würde wie ein ganzes Osterfeuer stinken.
Also wusch ich mir jedesmal die Hände. Was vielleicht nicht erstaunlich ist, denn ich wusch mir immer die Hände. Nur nie über fünf Minuten lang. Die Haut wurde schon dünn, so schruppte ich meine Finger, an denen ich immer wieder roch und mir schwante, dass ich diesen Geruch nie mehr los werden würde. Aber die Hände waren nur ein Teil des Problems. Schlimmer war noch der Atem. Ich wurde den Eindruck nicht los, dass ich permanent immer noch Rauch ausatmete und fürchtete, dass meine Mutter das sehen würde. Optisch war die Sorge unbegründet, der Rauch war verflogen, aber sie hätte den Braten auf jeden Fall gerochen, wenn ich sie hätte anhauchen müssen. Also habe ich mich ins Haus gestohlen, bin sofort nach oben ins Badezimmer und überlegte, was ich machen könnte. Zähne putzen vielleicht? Aber der Rauch hing ja nicht an den Zähnen. Der kam aus dem Rachen. Nun war es so, dass mein großer Bruder zu dieser Zeit auf dem Trip war, Odol Mundwasser benutzen zu müssen. Das stand auf der Ablage vor dem Spiegel und ich gurgelte damit. Auch das war ziemlich eklig. Odol mit Camelgeschmack. Das war so wie Mentholzigaretten und die waren noch uncooler als Ernte 23.
Ich gurgelte die halbe Flasche leer. Ich wollte halt sicher gehen. „Seit wann nimmst Du Mundspülung?“, fragte meine Mutter und ich log verlegen etwas vor, wie dass ich so einen blöden Mundgeruch gehabt hätte. Und mein Bruder, dem der plötzliche Verbrauch an Odol nicht verborgen blieb, gab mir den Tipp, Kaugummi zu kauen oder Tic Tac zu lutschen. In diesen Anfangszeiten hatte ich die saubersten Hände meines Lebens und ich duftete wie der frische Frühling aus dem Hals. Nach der ersten Schachtel war uns klar, dass wir jetzt nicht einfach wieder aufhören wollten. Also zweigten wir uns immer etwas von unserem kargen Taschengeld ab, das wir nicht in Süßigkeiten anlegten, sondern in den Automaten steckten. Und weil wir auch gerne mal ins Klo griffen, wurden die Preise kurz nach dem Start unserer Raucherkarriere um eine Mark pro Schachtel angehoben. Vier Mark für 21 Zigaretten? Wer sollte das nur bezahlen? Vor allem weil sich die gerauchte Menge stets steigerte. War es anfangs nur eine Zigarette in drei Tagen, gingen wir schnell zur täglichen Rauchdosis über. Bevor wir dann bei zwei bis sechs Zigaretten am Tag waren.
Diese konnten wir nicht zur Gänze an unserer Ruine verrauchen, weshalb sich unser Aktionsradius auch erweiterte. Unsere anfängliche Angst erwischt zu werden, wich einem gewissen Wagemut und wir trauten uns Dinge, die wir anfänglich nicht für möglich gehalten hätten. Bei mir zu Hause hatten wir damals ein leerstehendes Zimmer. Da setzten wir uns dann auf den Boden und qualmten um die Wette. Dann öffneten wir die Fenster, aus denen dicke Rauchschwaden kamen und hofften, dass wir solange lüften konnten, dass niemand etwas merke würde. Aber meine Mutter war ja nicht begriffsstutzig und sie roch den Braten förmlich. „Das riecht hier so, habt ihr geraucht?“, fragte sie einmal, als Martin schon nach Hause gegangen war. Und mir war klar, dass sie wusste, hier irgendwas faul war. Es war an der Zeit, Farbe zu bekennen und mit die Wahrheit auf den Tisch zu bringen. „Das war Martin, der hat geraucht“, sagte ich. Immerhin entsprach das zu 50% der Wahrheit und war somit nicht gelogen. Also nicht ganz. Ich war schon ein richtiger Freund. Und weil ich nicht wollte, dass Martin Ärger bekam, ließ ich mir von meiner Mutter versprechen, dass sie seiner Mutter (also ihrer Schwester) nichts sagen würde. Meine Mutter mochte Martin gern und hielt dicht.
Das Rauchen breitete sich ebenso parasitenartig aus in meinem Leben, wie später die Arbeit. Ich verbrachte viel Zeit mit Rauchen. Ich rauchte morgens vor der Schule. Ich rauchte nachmittags nach der Schule. Und mit 16 genoss ich es auch in der Öffentlichkeit rauchen zu dürfen. Manchmal rauchte ich nur, weil ich gerade Zeit hatte und diese mit einer Zigarette verbringen wollte. Manchmal rauchte ich nach dem Essen und später auch gerne mal zu einem Bier. Und so wurden aus anfänglichen 6 Zigaretten am Tag schnell eine halbe bis dreiviertel Schachtel. Und wenn ich im Stress war, rauchte ich noch mehr. Ich hatte immer einen überfüllten Aschenbecher im Zimmer und nahm gar nicht mehr wahr, dass alles, wirklich alles, nach Zigaretten roch.
Dass das Ganze nicht gut für mich war, wurde mir ziemlich schnell klar, aber ich bin ein Genussmensch und wenn man erstmal eine Weile lang raucht, dann schmeckt einem der Kram auch. Und ja, es gab auch unbestritten einen gewissen Suchtfaktor bei der ganzen Sache. Nach rund 7 Jahren hörte ich auf mit dem ganzen Zirkus. Auf die einzig wahre Art und Weise. Einfach aufgehört von heute auf morgen. Es ging mir insgesamt nicht so besonders gut zu der Zeit und ich hatte den Gedanken, dass das Rauchen entweder die Ursache, oder aber ein Hauptgrund dafür sein könnte. Ich habe nie viel davon gehalten, dass man, wenn man mit dem Rauchen aufhören wollte, alles was mit Zigaretten zu tun hatte, aus seinem Leben und seinem Umfeld verbannen müsste. Wenn man damit aufhören wollte, dann sollte man eine volle Schachtel in Griffnähe und ein Feuerzeug und einen Aschenbecher dazu haben. Und wenn man das Ganze dann nicht anrührt, dann ist man auf einem guten Weg.
Natürlich war es nicht zu 100% so einfach mit der Qualmerei aufzuhören und besonders wenn ich Bier getrunken hatte (also damals fast an jedem zweiten Tag) oder gut und viel gegessen hatte (das wiederum täglich, manchmal mehrmals), vermisste ich schon den Geschmack einer Zigarette. Und wenn ich mal auf irgendeiner Party war, schnorrte ich hier und da mal einen Zug einer Zigarette. Solange bis mir jemand sagte, dass sei nur halber Kram. Entweder ich würde sofort mal eine Ganze Kippe rauchen, oder aber endlich mal aufhören mit der Schnorrerei. Und das war dann auch der endgültige Moment. Ich nahm diese Zigarette, ich war schon recht angetrunken, und ich zündete sie an und wartete auf ein wohliges Erinnern daran, dass ich das Rauchen mal ganz toll fand. Der Moment trat nicht ein. Dafür wurde mir aber übel. So richtig übel. So übel, dass ich die Party, die in der Nachbarschaft war, nur wenige Meter von meinem Zuhause stattfand, übereilt verlassen musste. Im Gemüsegarten der Nachbarn übergab ich mich und am nächsten Tag sagte ich bescheid dass man die Erdbeeren vielleicht mit einer gewissen Vorsicht genießen sollte.
Das war der Moment, an dem ich endgültig aufhörte. Aber ich war kein militanter Nichtraucher. Ich war keiner von denen, die, nachdem sie aufgehört hatten, so taten, als hätten sie nie geraucht und die jeden Raucher mit Verachtung straften. Ich hatte eine hohe Toleranzschwelle, aber meine damalige Freundin, die immer John Player Special rauchte, war eine von der Sorte, die den Tag mit einer Zigarette beginnen mussten. Und das in des Wortes Sinne: Wecker klingelt, draufhauen, im Dunkeln nach den Zigaretten suchen, Feuerzeug dazu und dann, die Augen sind noch nicht richtig offen, erstmal eine durchziehen. Begleitet von ein oder zwei Hustenattacken. Das war dann selbst mir zu viel und ich trennte mich von ihr. Zwar nicht wegen der Kippen am Morgen, aber das war mit Sicherheit ein großes Argument.
Ich rauche jetzt seit 34 Jahren nicht mehr und mal abgesehen, davon, dass ich seit jenen Tagen permanent zugenommen habe, denke ich, dass es die richtige Entscheidung war. Ich glaube, wenn ich in Rente gehe, was nach derzeitigem Stand in zehn Jahren so weit ist, werde einfach mal all meine Prinzipen über Bord werfen. Ich werde mir eine dicke Zigarre kaufen und sie dann rauchen. Entweder mit Windel an, oder auf Klo oder in einem Gemüsegarten, dessen Erdbeeren danach auch mit einer gewissen Vorsicht zu genießen sein werden.