Labsdaus und Reichsgurken Teil 1: Ein Hündchen namens Rosi

Zu den vielen Gerichten auf der Welt, die ich noch nie gegessen habe, gehört neben Kaviar und Steak mit Blattgold, in erster Linie auch Labskaus. Wobei mich das Steak mit Blattgold ebenso wenig interessiert wie auch Kaviar. Aber Labskaus war schon immer eine Bildungslücke, die ich schließen wollte. Allein die Gelegenheit fehlte mir bisher. Was auch daran liegt, dass man sich bei mir zu Hause kulinarischen Experimenten gegenüber eher vorsichtig ablehnend zeigt. Zumindest wenn die Chance besteht, dass es irgendwas mit rohem Fisch, roter Beete oder geraspeltem Pökelfleisch zu tun haben könnte.

Ich habe mich offen gestanden aber auch nie großartig mit einer gewissen Hintergrundrecherche beschäftigt, um mir ein genaues Bild davon zu machen, was Labskaus eigentlich ist. Mein Halbwissen sagte mir, dass es sich im Prinzip darum handelt, dass man traditionell in norddeutschen Fischerhaushalten alles, was irgendwie übrig war und weg musste, zusammen durch den Wolf gedreht hatte, ein Spiegelei drüber legte und fertig war die Laube. Das Ganze sah in meiner Phantasie aus wie Hundewürg mit Rote-Beete-Saft und würde mir mit hoher Wahrscheinlichkeit mehr als gut schmecken. Ich liebe Resteverwertung (aber keinen Hundewürg), Matjes (in roh), rote Beete, Kartoffelstampf, kleine Fleischbrocken und Spiegeleier. Was also könnte schief gehen, wenn ich es irgendwann mal probierte? Genau, nichts! Was mir allerdings fehlte, waren Leute, die mich in meinem Vorhaben begleiten würden. Denn genau wie beim Bier trinken macht das Entdecken einer neuen Speise wesentlich mehr Spaß, wenn man diese einschneidende Erfahrung mit anderen teilen könnte. Woher sonst sollte man hinterher wissen, ob es einem geschmeckt hat und wenn ja, wie gut?

An dieser Stelle trifft es sich sehr gut, dass mein Hase die „Fintelstürmer“ hat. Wie bereits in einem viel früheren Eintrag in diesem Blog berichtet, handelt es sich dabei um vier Musketier:innen, die zum Teil aus gemeinsamer beruflicher Vergangenheit oder aber auch durch geografische Nähe zu einer verschworenen Gemeinschaft geworden sind, die auch immer wieder für beschwingte Freizeitaktivitäten zusammenkommt. Was in der Regel dazu führt, dass die jeweiligen männlichen Vervollkommener ihres Lebens zu Chauffeuren degradiert werden und im Gegenzug dafür die Herrschaft über die Fernbedienung des Fernsehers für einen Abend, ein Wochenende oder auch hin und wieder ein paar Tage am Stück erlangen. Und wenn das Sofa und das Fernsehprogramm mir gehören, fahre ich sie auch gerne dahin, wo immer sie wollen. Ich glaube meinen (Leidens-) Genossen geht es ähnlich.

Fakt ist, die vier verstehen sich blendend und freuen sich immer auf gemeinsame Aktivitäten. Geografischerweise kennen sich die Männer der anderen drei Mädels ebenfalls sehr gut und sind einander wohlgesonnen. Irgendwann war es nun an der Zeit, dass ich, der Hasenbändiger, auch auf meine Gesellschaftsfähigkeit überprüft werden könnte und zu diesem Zweck mit der Sturmtruppe inklusive der Sturmmänner ein Wochenende verbringen dürfte. Damit ich dabei nicht in das ganz kalte Wasser geschubst würde, gab es vorab eine Einladung zu einem runden Geburtstag und eine Fahrradtour mit dieser Mannschaft. Mein Hase hoffte, dass ich mich unter ihnen wohl fühlen würde. Und schon bei der Fahrradtour wurde schnell klar, dass ich unter Gleichgesinnten bin. So wie Hunde es mit der Nase erkennen, ob ein anderer Hund rein menschlich (oder sollte es hundlich heißen) kompatibel ist, erkennen sich potentielle Biergenießer indem sie sozusagen die Witterung aufnehmen. Dafür müssen sie aber nicht am Hintern des Anderen schnuppern. Kann man machen, ist aber grundsätzlich eher nicht nötig.

Und auf dieser Radtour habe ich geschnuppert (sinnbildlich natürlich) und eigentlich sofort erkannt, dass wir alle dieselbe Sprache sprechen. Wir mögen Bier, gern mal einen Wein, guten Schnaps, lecker Essen und frische Luft. Letztere ist aber eher im Zusammenhang mit dem Weg zu Bier und Essen von Bedeutung. Zur Not ginge es auch ohne Luft. Also war es keine Frage mehr, zumindest von meiner Seite – ich würde mich unter ihnen sehr wohl fühlen. Die Mädels kannte ich schon ein bisschen länger und besser und auch hier war der Wohlfühlfaktor von Anfang an ganz weit oben. Das Wochenende mit dieser Truppe konnte also kommen.

Nach Timmendorf sollte es gehen. Oder heißt der Ort eigentlich Timmendorfer Strand? Wenn ja, sagt man dann auch: es sollte „nach“ Timmendorfer Strand gehen? Oder müsste man „zum“ Timmendorfer Strand sagen? Aber eigentlich müsste man nur dann „zum“ sagen, wenn man explizit den Strand selbst meint. Würde man von Timmendorfer Strand als Ortschaft sprechen, wäre es dann doch wieder „nach“. Ein Rätsel, dass ich für mich noch nicht endgültig gelöst habe. Ich wäre aber dankbar für Anregungen. Manchmal denke ich einfach zu viel.

Die Mannschaft besteht aus Claudia und John, Silke und Kai, Anja und Jens und dem Hasen und mir. Und ich musste mich im Vorfeld dieses Wochenendtrips nur darum kümmern, ob ich zum Wunschtermin Zeit haben würde. Diese Anfänge verleiteten mich zu der Hoffnung, man würde mir einen roten Teppich ausrollen, oder mit einer Sänfte vor Ort an den Strand tragen. Komischerweise hat sich diese Hoffnung nicht erfüllt. Aber sollte ich das monieren? Man muss auch mal zurückstecken können.

Da die Mädels schon einmal in Timmendorf waren, sind wir nicht komplett unbedarft, was die Örtlichkeiten angeht und Timmendorf weiß auch in etwa, was kommen wird. Jens war auch schon mal mit Anja da. Also würden wir uns nicht verirren. Da John und Claudia später kommen wollen, sind wir zu sechst mit dem Kleinbus von Kai und Silke unterwegs. Der Hase braucht für die zwei Übernachtungen einen mittelgroßen Koffer und einen Anteil von dem kleinen Koffer, den ich benötige und mit meinem Zeug nicht mal zur Hälfte fülle. Da wir alle auch irgendwelche Getränke und Knabbersachen und weiß der Schinder was noch mitnehmen, wird es im Kofferraum auch ein bisschen eng und wir merken, dass wir mit John und Claudia an Bord vielleicht die schicksalhafte Frage: „Klamotten oder Bier“ hätten beantworten müssen. Man kann ja auch mal drei Tage lang dasselbe anziehen. Aber so wie die Dinge sind, passt alles.

Auf der Hinfahrt halten wir in Sittensen an und frühstücken bei einem Bäcker. Dreimal das Schlemmerfrühstück für zwei Personen mit jeweils vier Brötchen, zwei Scheiben Brot, Aufschnitt, Lachs, gekochtem Ei, Saft, Sekt, Käse und Marmelade und so weiter. Wir sind gegen 10 Uhr da und die Bäckereimannschaft kämpft verbissen mit einem Kundenansturm. Und weil das so ist und weil es viele Frühstücker vor uns gab, sind die gekochten Eier aus und an den Sekt kommt die Belegschaft nicht ran, weil die Chefin nicht da ist, die den Schlüssel zum Lager hat. Vielleicht trinkt sie ihn ja auch selbst. Man weiß es nicht.

Das Frühstück ist aber trotzdem sehr gut und nahrhaft (es gibt zur Deko sogar ein paar Scheiben gekochte Eier) und als Grundlage für den weiteren Tag sehr geeignet. Wenn wir geahnt hätten, dass es bis zum Abendessen unsere einzige Grundlage ist…wir hätten noch ein zweites Schlemmerfrühstück gegessen. Aber keiner kann in die Zukunft sehen, weswegen wir also mit einem einfachen Sättigungsgrad weiter fahren. Kai fährt, Jens sitzt neben Kai und trinkt kein Bier (wegen der Beifahrersolidarität), die Mädels sitzen auf der Rückbank und trinken Sekt aus der Dose. Oder irgendwas, das wie Sekt zu sein scheint. Und ich sitze allein auf der Mittelbank. Im Fußraum eine Tasche voller Bier, von dem ich mir jetzt auch mal eine Dose genehmige. Nur aus reiner Mitfahrersolidarität zu den Sekt trinkenden Amazonen hinter mir. Die Dose ist recht schnell leer und das monotone Motorengeräusch und das aufgeregte Geschnatter hinter mir, machen mich müde und ich schlafe ein. Mein Kopf pendelt dabei hin und her und ich werde beim Schlafen noch müder, als im Wachsein.

Ich bin also schon gleich als Stimmungskanone auffällig geworden und mit den Schlupflidern über den Augäpfeln hängend, erlebe ich nebulös die Einfahrt auf den Hotelparkplatz. Gott, bin ich erschöpft. Jetzt schon. Das kann ja heiter werden. Wir steigen aus, melden uns an der Rezeption an und erfahren, dass wir die Zimmer nicht vor 15 Uhr beziehen können. Um die Zeit bis dahin sinnvoll zu verbringen, gehen wir in Richtung Strand. Das ist ein Fußmarsch von ungefähr anderthalb Minuten, wenn man langsam und rückwärts geht. Will sagen, der Strand ist nur einen Steinwurf entfernt. Die Lage des Hotels ist also ideal. Ich bin immer noch nicht richtig munter als wir losgehen, aber das ist nicht der Grund, dass wir am „Reet-Eck“ einkehren. Eine fatale Entscheidung.

Alle haben Durst und wir schmeißen Geld zusammen, damit nicht jeder immer selbst seine Zeche zahlen muss. Wir machen den Bock zum Gärtner und vertrauen mir die Kasse an. Das hätte leicht die zweite fatale Entscheidung werden können, aber ich bin (bis zum Ende) ein verantwortungsvoller Kassenwart. Manchmal überrasche ich mich selbst. Ach ja, ich vergaß, das Reet-Eck ist so eine Art Imbiss mit Getränkekarte und Softeis. Ein kleiner Kiosk mit Reetdach. Daher auch der Name. Wir könnten theoretisch auch mal eben ne Portion Pommes essen, oder ne Currywurst oder Flammkuchen. Aber wir könnten auch erstmal ein bisschen was trinken. Aperol für die Damen und Bier (Flensburger für mich und Weizen für die anderen beiden) für uns Männer. Das Wetter ist schön und der Durst groß.

Augenscheinlich verdunsten die Getränke hier sehr schnell. Was höchstwahrscheinlich an der Sonne und den sommerlichen Temperaturen liegt. Es ist so ein schöner Tag und weil das mit Sicherheit Ende Oktober eine Auswirkung des Klimawandels ist, freue ich mich lieber im Stillen darüber. Die Getränke sind leer und ich hole Nachschub. Auf Claudia und John zu warten, hat wenig Sinn, denn die kommen erst in anderthalb Stunden. Anderthalb Stunden, in denen wir uns flüssig ernähren. Die Stimmung wird immer gelöster und ich trinke mittlerweile auch Weizenbier, weil es einfach einfacher zu bestellen ist. Viel sagen muss ich am Tresen eh nicht, weil man uns recht schnell kennt. „Wie immer?“, ertönt die Frage der Bedienung und ich antworte zunächst mit: „Jupp, wie immer.“ Später nicke ich einfach nur noch. Ist leichter als reden.

Irgendwann sind Claudia und John auch angekommen. Wir begrüßen einander herzlich und ich will sogleich die Getränke für die beiden besorgen. Bei Claudia ist es eindeutig, denn sie wird auch Aperol trinken. Bleibt also John und ich sprechen ihn an (meine Zunge hängt schon ein wenig): „John“, sage ich und bin froh über die Einsilbigkeit seines Vornamens, „John…an dieser Stelle überlege ich, wie ich: „Was willst Du trinken in einer Silbe“ aussprechen könnte, was dann in etwa zu :“ Wasswissntrinkn“ führen würde und nicht mal für mich verständlich klänge. Also sage ich: „John, Durst?“ Alle notwendigen Informationen auf zwei Worte reduziert. Ich bin begeistert von mir. John trinkt einen Weißwein. Was in etwa ähnlich wie Weizenbier klingt, zumindest in diesem fortgeschrittenen Stadium, und somit dann auch wieder leicht zu bestellen ist.

Wir sitzen an zwei Stehtischen auf Outdoor Barhockern mit geflochtener Sitzfläche, die auf unebenen Untergrund stehen, der auch teilweise ein leichtes Gefälle hat. Wir befinden uns direkt an der Strandpromenade, die von Menschenmassen bevölkert wird. Und wenn man die Anzahl der Beine nimmt, gibt es weitaus mehr Hunde als Menschen. So viele Hunde auf einer Promenade und so viele verschiedene Hunderassen, da spricht der Kenner von der sogenannten Promenadenmischung. Wieder was dazu gelernt. Als die Mädels damit anfangen, mit den Hunden zu reden, zumindest mit einem Hund namens Rosi, wird langsam klar, dass wir die Schlagzahl mal ein wenig zurückfahren sollten. Wir hätten mal zwischendurch was essen sollen. Haben wir aber nicht. Wir hätten vielleicht auch ein bisschen am Strand spazieren können, anstatt, dass wir die ganze Zeit hier am Reet-Eck sitzen. Aber auch das haben wir nicht gemacht. Wir und das Reet-Eck passen allerdings viel zu gut zusammen. Never change an winning Team.

Der Nachmittag plätschert dahin und wir gehen dann irgendwann zurück zum Hotel. Schließlich haben wir noch einen Tisch in einem Restaurant reserviert und da wird es dann meinen ersten Labskaus geben. Wir erreichen gackernd die Zimmer und treffen uns sogleich auf einem Balkon, um mal einen Snack zu essen und zur Abwechslung mal ein Bier zu trinken (es gab ja bisher kaum eins). Und dann geht´s los zu „Oswalds alte Liebe“, dem Lokal, dass mir kulinarisches Neuland erschließen möchte. Der Laden ist schwer gemütlich, das Personal sehr nett und eine Speisekarte brauche ich nicht. Um es mit Udo Jürgens zu sagen: „Ich weiß was ich will!“. Ein Bier nämlich, und natürlich Labskaus.