Kultur/ Tortour….

……oder wenn man mit der Bahn fährt, kann man sich glücklich schätzen, dass sie überhaupt fährt……

Musik ist für mich mitunter das Wichtigste im Leben. Meine Kinder sind es ganz bestimmt. Und wenn es möglich ist, Musik und Kinder in Verbindung zu bringen, dann ist das für mich schon ein besonderer Moment. Dieser Moment bahnte sich an, als ich meinen Sohn fragte, ob er mit in ein Konzert kommen würde. Er sagte ja. Das Erstaunliche daran ist, dass er erst vor kurzem seinen musikalischen Geschmack entdeckt hat und dass es sein erstes Konzert sein würde. Seine Schwester, die schon konzert-erfahren ist, wollte auch gerne mit. Und heute, ist es dann soweit.

„Me and my Drummer“ treten im Tower in Bremen auf. Vom Tower weiß ich nicht viel. Nur, dass ich im Laufe einer durchzechten Nacht vor ein paar Jahren einmal kurz darin war. Toller Laden, aber ich war eindeutig zwanzig Jahre älter als der älteste Besucher sonst. Ich habe mir eigentlich geschworen, nie wieder dahin zu gehen. Man hat mich angeblickt, als ob man den Friedhof schon an mir riechen könnte. Doch für ein Konzert zusammen mit meinen Kindern, würde ich einfach mal über meinen Schatten springen. Da der Tower in recht unmittelbarer Nähe vom Bremer Bahnhof ist, liegt die Entscheidung nahe, dass wir mit dem Zug fahren. Über das Internet, von dem alle so viel erzählen, habe ich im Vorfeld nachgesehen, wann das Konzert beginnt. 19:00 ist Startzeit. Es fährt ein Zug um 17:41 von Sottrum los. Mit dem sind wir um 18:00 Uhr in Bremen. Dann haben wir vor Ort genügend Zeit, um die Konzertkarten zu kaufen und uns vielleicht noch einen Happen Essen zu genehmigen. Ich liebe es, wenn alles von vornherein in geordneten Bahnen (in diesem Fall Bundesbahnen) abläuft. Die Fahrt von uns zum Sottrumer Bahnhof, von dem aus wir loswollen, dauert 10 Minuten. Weitere 12 Minuten haben ich dafür eingeplant, das Ticket zu ziehen und einzusteigen. „Nimm das Tagesticket für Dich und unseren Sohn“, flüstert mir mein Hase ins Ohr, „seine Schwester hat ein Studententicket und für Euch beiden ist das Tagesticket das günstigste.“ Der Hase ist ein Fuchs. Ein Sparfuchs und als solcher kennt sie natürlich von Allem und Jedem immer das günstigste Angebot. Sie ist die Schnäppchenenzyklopädie. Aber davon vielleicht an anderer Stelle noch mehr. „Ah ja, das Niedersachsenticktet“, wiederhole ich abwesend. Sie packt mich am Kragen, ihr Gesicht ist meinem bedrohlich Nahe. „Spreche ich spanisch? Ich sagte Tagesticket!“ Gleich wird sie mich fressen, denke ich…… Nein, natürlich war es nicht so, aber es klingt dramatischer. Es gab nur den dezenten Hinweis darauf, welche Fahrkarte ich erwerben solle und ich versprach es auch umzusetzen. „Also was sollst Du holen?“ prüfte der Hase mich und ich traue mich einfach nicht, noch einmal Niedersachsenticket zu sagen. Ich hänge an meiner Gesundheit.

Wie erreichen den Sottrumer Bahnhof, der, seinem Siechtum trotzend, ein paar neue Türen erhalten hat. Wenn man diese Türen öffnet, sieht es drinnen aber noch genauso scheiße aus, wie immer. Ein paar Eimer Farbe würden da Wunder wirken. Wahrscheinlich aber eine viel zu große Investition. Sowas sprengt den Rahmen. In diesem vermufften Bahnhofsgebäude befindet sich auch noch mein Freund. Sofern eine Maschine ein Freund sein kann. Die Rede ist vom Fahrkartenautomaten. Diese grandiose technische Erfindung, die den mürrischen und stets überforderten  Schalterbeamten von früher ersetzt hat. Die Programmierer dieses Wunderapparates haben es doch tatsächlich geschafft, das Mürrische und Überforderte zu übernehmen. Schon sehr menschlich diese Dinger.

Dafür sind sie wenigstens kompliziert und unüberschaubar in ihren Angeboten. Das war bei ihrer Einführung allerdings noch schlimmer als heutzutage. Denn jetzt steht das Niedersachsenticket schon direkt auf dem Anfangsbildschirm als Auswahlmöglichkeit. Ach ja, das will ich ja gar nicht haben. Zusammen mit meinen Kindern bilde ich ein Kompetenzteam. Das heißt, sie sagen so etwas wie: „Geh mal beiseite. Wir machen das schon.“  Zu meiner Verteidigung erwähne ich an dieser Stelle, dass auch die beiden, die mit den modernen Medien bestens vertraut sind, ihre Schwierigkeiten haben. Ich denke in diesem Zusammenhang immer gerne an richtig alte Leute. Für die dürfte es ein Ding der Unmöglichkeit sein, ein Fahrkarte aus diesem Apparat zu erhalten. Aber das ist wohl der Lauf der Dinge. Alt werden wird nicht einfacher, wie ich sehe. Habe spontan beschlossen, für immer jung zu bleiben. Arbeite noch an der Umsetzung. Während ich noch meinen Gedanken nachhänge, hat mein Zweifach-nachwuchs das Hasen-, äh Tagesticket bekommen.

„Einundzwanzichvierzich bitte“, sagt der Automat. „Jo, kommt sofort.“ antworte ich. „Mit wem sprichst Du?“, fragen die Kinder und sehen mich etwas zweifelnd an. „Ich stamme noch aus der Zeit, als man mit dem Bahnbeamten gesprochen hat…“ Sie verstehen nicht… Was soll man verlangen, wenn die noch nicht mal mehr Telefonzellen erlebt haben. Ich bezahle und wir gehen auf den Bahnsteig. „Achtung, eine Durchsage für den ME Sowieso von Hamburg nach Bremen“, tönt es aus dem Lautsprecher am Bahnsteig.  Als jemand, der schon ein paarmal per Bahn gefahren ist, weiß ich was dieser Durchsage folgt: “ Blablabla, hat soundsoviel Verspätung blabla…..“ „Dieser Zug fällt heute aus!“ „Watt?“ frage ich, wen auch immer. „Der nächste Zug nach Bremen fährt in einer Stunde.“

Es folgt ein kurzer Moment der Stille. Ich beginne zu rechnen. Eine Stunde später, dann sind wir in Bremen am Bahnhof, wenn das Konzert schon angefangen hat. Das ist scheiße. Es gibt noch einen weiteren Zug, der allerdings in Rotenburg losfährt und bis Bremen nirgendwo mehr anhält. Die einzige Möglichkeit rechtzeitig zum Konzert zu kommen. Es ist schließlich Sohnemanns Erstes, und da soll er auch den Anfang mitnehmen können. Mir ist nicht bewusst, dass ich, während ich denke, mit Schimpfworten um mich werfe, sinnbildlich betrachtet natürlich, und wütend gegen einen Zaun trete, real betrachtet.

Wir fahren also mit dem Auto von Sottrum nach Rotenburg. In Rekordzeit, versteht sich. Hätte aber nicht so rasen müssen, denn der Zug, den wir nehmen wollen hat sieben Minuten Verspätung. Was es nicht alles gibt. Nun ist das Tagesticket nach Tarifzonen gestaffelt. Für das bessere Verständnis erfährt man aber auf die schnelle nicht, in welcher Zone man sich gerade befindet. Ich nehme jedenfalls an, dass Rotenburg eine andere Zone ist, als Sottrum. Um auf der sicheren Seite zu sein, löse ich noch Hin- und Rückfahrt von Rotenburg nach Sottrum und umgekehrt, oder so.

Der Hase, dem ich dies per Whatsapp mitteile, ist der Meinung, dass ich das nicht müsse und es dem Schaffner erklären solle. Da ich einerseits keinen Bock auf eine Diskussion mit dem Schaffner habe und andererseits befürchte, dass die Kinder und ich wegen Schwarzfahrerei in den Bahnhofsknast (sofern es einen solchen gäbe) kämen, mache ich es so, wie ich es für richtig halte und löse die zusätzliche Fahrkarte. „Wenn du jetzt ein Niedersachsen-ticket gekauft hättest, dann wäre es egal von wo wir losfahren“, bemerkt meine aufmerksame und schlaue Tochter.

Hgrrh…Das Schnäppchen ist jetzt keines mehr. Dafür ist der Zug aber dermaßen voll, dass wir nur Stehplätze ergattern können und die Luft ist so richtig schlecht. Im Zug gibt es auch eine Durchsage. Man heiße uns herzlich Willkommen und wünsche uns eine angenehme Reise. Die wohlfrittierte Achselhöhle eines Mitreisenden, der sich an einer Edelstahlstange an der Decke festhält und sich, vorsichtigen Schätzungen zu Folge, vor dreieinhalb Monaten das letzte Mal geduscht hat, breitet sich direkt vor meiner Nase aus. Die angenehme Fahrt können die sich sonstwo hinstecken.

Der Zug fährt durch bis Bremen. Ohne Zwischenfälle. Wer hätte damit rechnen können. Wir schaffen es, um zwanzig vor sieben beim Tower zu sein. Wieder einmal bin ich von mir angetan. Wie ich Teufelskerl es doch noch geschafft habe, das wir pünktlich…… Oh, was ist das? Der Tower hat noch zu. Wie jetzt? Da läuft zufällig einer der Mitarbeiter rum. Ich frage. Er antwortet. Neunzehn Uhr ist Einlass. Konzertbeginn ist gegen zwanzig Uhr. „Pabba“, es ist des Sohnes Schwester, die ausspricht, was wir drei denken, „da hätten wir uns das mit Rotenburg ja sparen können.“ Sie ist schon immer eine sehr logisch denkende Person gewesen. Junior möchte auch etwas sagen, erkennt aber, dass es nur Salz in die Wunde gestreut wäre und schweigt lieber. Wahrscheinlich befürchtet er, dass ich auch hier gegen einen Zaun treten möchte. Mach ich aber nicht.

Doch auch an diesem Abend klappt noch etwas. Das Konzert ist richtig gut. Ich habe schon so manch eines besucht und dies ist auf meiner ewigen Bestenliste schon recht weit oben dabei. Wir drei kennen nur ein Lied von „Me and my Drummer“ und dementsprechend ist jedes weitere Lied eine Überraschung für uns. Und alle sind sie sehr positiv. Das Publikum besteht zu einem gewissen Teil sogar aus Leuten meiner Altersklasse. Das beruhigt mich. Die Band ist wirklich sehr gut. Wer irgendwo und irgendwann einmal die Möglichkeit hat, sie zu sehen, der sollte es tun. Es lohnt sich.

Zufrieden gehen wir nach dem Konzert zurück zum Bahnhof. Wir haben Zeit. Unser Zug fährt erst um 23:15 Uhr und es ist zwanzig vor elf. Wir essen eine Kleinigkeit, sprechen über das Konzert und gehen pünktlich zum Bahnsteig. Der Metronom ist auch schon da. Wir steigen ein. 23:14 Uhr. Eine Durchsage. Ich liebe Durchsagen. Diese hier ist auch mal schön: „Verehrte Fahrgäste, die Abfahrt dieses Zuges verzögert sich um fünfzehn bis zwanzig Minuten. Grund ist, dass der Lokführer seine gesetzliche bestimmte Pause einlegen muss.“ Vor meinem geistigen Auge entsteht ein Bild, auf dem ein total erschöpfter Lokführer zusammen-gesunken auf seinem Lokführersitz hängt und schläft, während ihm der Speichel aus dem Mundwinkel tropft. Mit Grausen erwarte ich die nächste Durchsage. aber die kommt nicht. Doch die Bahn hat ja auch technisch aufgerüstet. Es gibt die sogenannte Bahnapp. Darin findet jeder sämtliche Zugverbindungen und Hinweise zu deren Pünktlichkeit. Das ist praktisch und funktioniert, zumindest heute nicht die Bohne. „Wir sind schon in Sagehorn.“ erläutert meine Tochter, „zumindest laut dieser App.“ Wir drei sind allerdings der Meinung, dass es noch wie der Bremer Hauptbahnhof aussieht. Liegt wahrscheinlich daran, dass wir noch nicht losgefahren sind.

Mit der angekündigten Verspätung fährt der Zug los. Auf der anderen Seite des Ganges, schräg gegenüber von uns sitzt ein junger Mann. Anfang zwanzig, schätze ich, mit Kopfhörern im Ohr.  Der ist seltsam. Eigentlich mehr die Geräusche die er von sich gibt. Jeder hat vielleicht schon einmal während einer Erkältungsphase eine Sekretansammlung gehabt, die er nur durch beherztes Schneuzen oder, wenn er allein ist, durch ein lautstarkes „Hochziehen“ aus seinen Atemwegen entfernen musste. Das ist nicht unbedingt schön, aber es hilft.

Das macht man einmal, und dann ist gut. Der milchgesichtige Mitreisende heute ist anders. Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder er spielt in seinem Kopf- und Rachenraum eine Art Schleimtennis, bei dem er den Glibber hin und her katapultiert, oder es bildet sich immer wieder neues Sekret. Man weiß es nicht. Jeder zweite Atemzug zeigt allen anderen Passagieren eindeutig, was sich gerade in seinem Inneren abspielt. Es klingt eklig. Und auch wenn er Kopfhörer in den Ohren stecken hat (vielleicht ja nur als Verschluss, damit nichts durch den Gehörgang nach außen treten kann), das muss er doch merken. Besoffen scheint er nicht zu sein. Unbegreiflich. Abscheulich. Und irgendwie passend zur heutigen Bahnreise. Die allerdings auch zu Ende geht. „Der Ausstieg ist in Fahrtrichtung rechts….“ Tür auf. „Arrgh!“ „Ach nein links, wollt ich sagen. Ich verwechsel das jedesmal.“ bedauert die Durchsage. Auf dem Bahnsteig angekommen, sinke ich zu Boden, den ich küsse, wie weiland Papst Johannes Paul. Wir haben es geschafft. Ich bin glücklich. Die Kinder auch. Und als wir zu Bett gehen, hören wir noch das liebliche Geräusch eines Schleims, der durch die Nasennebenhöhle gezogen wird.