Kalorien zu Halloween

Je älter ich werde, desto häufiger beginnen meine Texte damit, dass ich Sachen schreibe, wie: Als ich noch ein junger Mann war…… Aber diesmal geht es noch ein wenig weiter und deswegen beginne ich nun mit den Worten:

Als ich noch ein Kind war, da war der Überfluss an Allem noch nicht so dermaßen groß wie heute und so kam es, dass das Nikolauslaufen eines der Highlights im Jahr war. Selten gab es bessere Gelegenheiten, um sich nachhaltig mit Süßigkeiten einzudecken. Alles was man tun musste war, dass man sich mit einem langen weißen Bart (vorzugsweise aus Watte, meist dem ganzen Inhalt einer Tüte Watte) verkleidete und sich einen roten Mantel überwarf. Selbstverständlich hatte man keinen roten Mantel, also tat es auch der Bundeswehrparka, den damals eigentlich jeder hatte. Dazu nahm man noch einen Jutebeutel (zumindest in der verklärten Version der Geschichte, denn eigentlich war es eine Plastiktüte) und wartete bis es am 6. Dezember dunkel wurde und ging dann los, die Leute in ihren Häusern mit einem schlecht aufgesagten Gedicht so lange zu quälen, bis sie einem irgendwelche Süßigkeiten gaben., auf dass man schleunigst verschwinden möge. Schließlich war Feierabend und die Leute wollten ihre Ruhe haben und nicht von Kindern belästigt werden.

Natürlich gab es nicht überall Süßigkeiten. Schon damals gab es pädagogisch überlegene Menschen, die einem ein Stück Obst in die Tüte packten, oder aber einen pfurztrockenen Keks oder irgendwas, das schon eine grünliche Färbung angenommen und einen Pelz an der Oberfläche hatte. Müllentsorgung konnte ja so einfach sein. Und so stapfte man von Haus zu Haus, so lange, bis die Tüte voll war, oder aber einer aus der Gruppe so hundsgemein kalte Füße hatte, dass man abbrach. Man ahnt es, ich war meist der mit den kalten Füßen. Das Gedicht kriege ich nicht mehr zusammen, aber irgendwas von einem König und dass man möglichst viel geben soll und man uns nicht lange warten lassen möge, war der Inhalt zusammengefasst. Am Ende der Tortur ging man nach Hause, begutachtete seine Beute aus dem Beutel und aß das, was gut war gleich auf und überlegte sich, was man mit dem Rest machen würde.

Das Ganze machte ich für ein paar wenige Jahre, als ich so ungefähr 8 bis 11 Jahre alt war….oder vielleicht noch mit 12, ich weiß es nicht mehr so genau. Ist ja auch schon ein bisschen her. Aber irgendwann war da halt mit Schluss und das Thema kochte erst wieder auf, als unsere Kinder in diese Altersklasse kamen. Da besann man sich darauf, dass man als Kind so einen Heidenspaß gehabt hatte und verklärte die kalten Füße und die gammeligen Mandarinen, die man manchmal bekam. In meiner Erinnerung war es einfach nur toll und dem Hasen erging es ähnlich. Also indoktrinierten wir unsere Kinder und versuchten unsere freudige Erinnerung so an sie weiterzuleiten, auf dass auch sie sich als kleine Nikoläuse von fremden Leuten Süßigkeiten erbettelten. Mit dem kleinen Unterschied, dass zu Hause eigentlich schon genug im Schrank lag. Es ging eigentlich um die Jagd an sich.

Das Ganze machten sie gefühlt anderthalb Mal mit und dann war es auch irgendwie uncool, denn es schwappte etwas aus den USA herüber, das als Trend auch auf dem Land seinen Einzug hielt. Die Rede ist von Halloween. Statt als alter Mann mit langem Bart durch die Gegend zu tapern, wollten die Kinder lieber die gruselige Variante haben und als Leichen oder Zombies verkleidet am 31. Oktober von Haus zu Haus ziehen und mit wenigen Worten („Süßes, sonst gibt´s Saures“) Gewalt anzudrohen (eher mentaler, als Körperlicher Natur), um an zahnschädigendes Material zu kommen. Die Elternschaft war gespalten, weil hinter all dem ein Totenkult steckte und vor allem, weil es mal wieder von den Amis kam und der Deutsche einfach zu viel aus Amerika schon übernommen hatte. Es war wie mit Waschbären, sowas gehört hier einfach nicht hin. Einerseits habe ich das schon verstanden, dachte aber andererseits, wenn die sich Bettlaken und schwarze Schminke überwarfen, dann war das Seelenheil der Kinder nicht gefährdet. Sollten sie doch Spaß haben, mir war das egal. Und es kam, wie es kommen musste, das Neue setzte sich durch und führte zu:

Halloween, die Anfänge

Die Anfänge waren eigentlich vom Nikolauslaufen kaum zu unterscheiden. Nur die Kostüme, das Datum und der Text waren anders, der Rest war prinzipiell dasselbe. Mit ein paar Kindern aus der Nachbarschaft rotteten sich unsere Kinder zusammen und weil nicht alle schon alt genug waren, gingen wir Eltern in sicherem Abstand mit, um das Ganze im Auge zu behalten. Das Ergebnis war unspektakulär und die meisten Leute fanden es auch nicht weiter schlimm. Manch einer hatte allerdings keine Süßigkeiten parat, weil die ja eigentlich für Nikolaus gekauft wurden. Also war die Ausbeute eher gering, was dem Spaß aber anscheinend keinen Abbruch tat. Nur ein Mann mittleren Alters deutete dezent an, dass er mit dieser neuen Form des Hausierens nicht viel anfangen konnte. Er sah auf die Kinder (im Alter von 5 bis 10 oder 11), nachdem er seine Tür unwirsch aufgerissen hatte und schrie sie an: „Verpisst Euch!“ Ein freundliches Wort kann dir jede Tür öffnen, aber nicht aus jeder geöffneten Tür kommt ein freundliches Wort. Die Kinder lernten sofort etwas fürs Leben. Pädagogik kann so einfach sein.

In den Folgejahren wurden unsere Kinder zu alt für so einen Kram, oder hatten einfach keine Lust mehr dazu. Aber die Saat war gesät und nach nur wenigen Halloweens, war das Nikolauslaufen in unseren Breiten komplett ausgestorben. Das Morbide hatte gesiegt und jedes Jahr am 31. Oktober klingelten der auferstandene Tod und andere seiner Spießgesellen an unserer Tür und da der Hase keine Lust drauf hatte, machte ich immer auf und verteilte die Süßigkeiten. Immer begleitet von kleineren Regieanweisungen des Hasen aus dem Hintergrund: „Jeder kriegt nur ein Teil, wir sind ja nicht die Wohlfahrt!“ „Du musst ein bisschen freundlicher zu den Kindern sein!“ So in der Art. Als ich dann sagte, sie könne doch selber an die Tür gehen, wenn sie eh schon alles besser wüsste, verstummte der Hase. Vorübergehend.

Und so öffnete ich immer die Tür, wenn die kleinen (oder manchmal auch größeren ) Racker klingelten. Manchmal hatte ich einen flotten Spruch auf den Lippen: „Na, ihr seht ja total gruselig aus“ Wobei ich das derart künstlich sagte und so tat, als würde ich total die Gänsehaut an den Armen haben, dass die kleinen Bettler blasser wurden, als sie bereits geschminkt waren. Manchmal machte ich auch beim Öffnen der Tür auch ein täuschend echtes Quietschgeräusch, wie es in Horrorfilmen immer wieder vorkam. Die Kinder gingen dann zu ihren wartenden Eltern und sagten etwas wie: „Mami, der Mann da ist wirklich merkwürdig.“ Und Mutti antwortete: „Na dann gehen wir da beim nächsten Mal nicht wieder hin.“ Und der Hase rief aus dem Wohnzimmer: „Bingo!“

Alles in allem war das aber immer wieder eine entspannte Sache und man konnte vereinzelt beobachten, dass sich die Eltern auch ein wenig verkleideten, wenn sie ihre Kinder begleiteten. Im Schnitt kamen so 20 bis 30 Kinder an unsere Tür, mal allein, mal zu zweit oder auch in kleineren Gruppen bis zu fünf Untoten. Innerhalb von zwei Stunden war man durch damit und wenn ich die ersten Horrorkinder noch individuell begrüßte (ja, die Sprüche und die knarrende Tür), wurde mein Enthusiasmus zum Ende des Abends dann auch geringer. Ich hörte nur noch halbwegs hin, wenn sie einen kleinen Text, oder gar ein Gedicht aufsagten und ließ sie dann in den Korb mit den Süßigkeiten greifen. „Nur eins pro Kind“, schallte es aus dem Wohnzimmer. Der Hase war noch in Habachtstellung. Insgesamt hatte ich aber immer meinen Frieden damit und so war es auch nicht weiter verwunderlich, dass ich sagte: „Auch in diesem Jahr werde ich wieder an die Tür gehen. So schlimm ist das ja nicht.“ Wie konnte ich ahnen, was mich erwartete. Und so kam es schließlich zu:

Halloween 2024

Das Datum rückte näher und der Hase besorgte reichlich Süßigkeiten. Und das war das gute Zeug. Nicht der Nachbau vom Discounter. Hier war ein Raider noch ein Twix und ein Mars hatte keine Nüsse, ein Snickers hingegen schon. Der Korb war gut gefüllt und wir zählten spaßeshalber mal durch, wie viele Teile da drin lagen. Es waren knapp 60 Stück und ich rechnete mit in etwa 30 Kindern und freute mich schon ein bisschen darauf, dass ich die übrig gebliebenen Teile selbst verspeisen würde. Teilen wollte ich nicht, denn schließlich war ich ja auch derjenige, der immer an die Tür ging.

„Diesmal ist wohl viel los“, sagte der Hase am Nachmittag, “ ein Haus aus der Umgebung ist als Halloweenhaus bei Facebook und irgendwer möchte auch irgendwie Halloweenparty machen.“ Nun ist der Hase ja auch immer ein Schwarzseher und ich bin die nüchtern betrachtende Komponente von uns beiden. Weswegen ich folgerichtig feststellte: “ So schlimm wird es schon nicht werden. Und außerdem gehe ich ja an die Tür. Das sollte helfen.“

Die Dämmerung brach herein und es klingelte. Ah, ein Kind. Ich ging an die Tür und zog die Nummer mit dem Knarren derselben ab. Vor der Tür stand ein kleiner, wahrscheinlich sechsjähriger Zauberer, dessen Eltern eine verschrumpelte Hexe und eine Art Dinosaurier waren. Zumindest standen diese beiden Gestalten in einer Art Sicherheitsabstand an unserer Hecke und ich schwor mir, meinen Alkoholkonsum zu überdenken. Denn es ist nicht gut, wenn man schon Dinosaurier und sieht. Allerdings hatte ich ja gar nichts getrunken, also war der Saurier wirklich da. Ich widerstand dem Impuls dem Nachwuchs Harry Potter die Tür vor der Nase zuzuhauen und hörte mit halbem Ohr sein Gedicht an. Irgendwas mit Kleister und dass er kleben bleiben wolle, wenn ich nichts geben würde. Ich gab, er klebte nicht und zog mit Saurier und Hexe weiter.

Ich setzte mich, wartete und es klingelte überraschenderweise wieder. Ein Mädchen, schon im Teenageralter und ich überlegte, ob ich ihr lieber einen Schnaps anbieten sollte, anstelle der Süßigkeiten, verwarf den Gedanken aber lieber. Es folgten in unregelmäßigen Abständen eine Dreiergruppe, zwei Duette des Grauens und ein paar Einzeldarsteller, alles in allem also sehr übersichtlich und auch so, wie man es aus all den anderen Jahren kannte. Und so ahnte ich nichts Böses, als es erneut klingelte. Ich ging unbedarft an die Tür und öffnete sie geräuschlos (ich hatte keinen Bock mehr auf Geräusche) und da stockte mir der Atem.

In der Nähe unseres Grundstückes ist eine Kreuzung und die ist normalerweise leer. Vielleicht stehen mal ein paar vereinzelte Nachbarn drauf und klönen. Aber das was ich jetzt sah, verschlug mir die Sprache. Es wuselten gefühlt 30 Erwachsene (die meisten verkleidet) und ein großer Haufen Kinder überall umher und sie fielen über alle angrenzenden Grundstücke her. Es erinnerte mich an einen Zombiefilm. Der Schock saß tief. Wo kamen nur all diese Leute her? In unserem Dorf gibt es nachweislich nicht dermaßen viele Kinder. Unter mir ertönten Stimmen. Ach ja, die Klingler, die hatte ich ganz vergessen. Bevor überhaupt ein Gedicht oder dergleichen gesagt wurde, kam die ganz klare Ansage: „Wir sind neun!“ „Jeder nur ein Stück!“, antwortete ich und hatte leichte Bedenken, dass am Ende des Tages überhaupt noch etwas von den Süßigkeiten übrig bleiben würde.

Ein kleiner Vers wurde aufgesagt und die Horde machte sich über „mein“ Naschwerk her. Mir blutete das Herz. Vor allem, weil manch ein Kind kaum in der Lage war, überhaupt schon selbstständig zu gehen, geschweige denn zu sprechen, oder gar ein Gedicht aufzusagen. Nicht wissend, was sie vor sich hatten, griffen auch diese Kleinstkinder, die wahrscheinlich gerade erst der Mutterbrust entwöhnt waren, wahllos in den Korb und meine Argusaugen achteten penibel darauf, dass sie sich dabei nicht verzählten.

Kaum habe ich die Tür geschlossen, da klingelt es wieder. Diesmal sind es acht, oder vierzehn Kinder, wer weiß das schon. Auch hier wieder ein paar beinahe Säuglinge, die von den anderen Kindern mit vor die Tür gezerrt werden. Vor dem Grundstück und auf der Kreuzung sind mehrere Hundertschaften an Eltern und Kindern und ich warte darauf, dass die Polizei mit Wasserwerfern diese unangemeldete Demonstration auflöst. Die Eltern blicken akribisch darauf, was man als Hausbesitzer und Nahrungsgeber so anstellt und ich habe das unbestimmte Gefühl, dass ihre Blicke eine gewisse Unfreundlichkeit in sich haben. Wenn ich mich ein bisschen weigere, an eine stumme Gruppe mein Hab und gut zu verteilen und nachfrage, ob die Blagen denn wenigstens ein Gedicht aufsagen können, dann sehe ich aus dem Augenwinkel schon die ein oder andere erhobene Augenbraue in einem empörten Elterngesicht.

Ich kriege die Tür nicht mehr zu und innerhalb von wenigen Minuten ist mein stattlicher Vorrat aufgebraucht. Mit letzter Kraft kann ich verhindern, dass die Meute den Korb mitnimmt oder gar in unser Haus eindringt. Draußen spielen sich tumultartige Szenen ab und ich schließe die Tür, als die Bande mich leergefuttert hat. Die glühend gierigen Augen der verstörend verkleideten kleinen Monster verfolgen mich, als ich die Klingel abschalte. Ich bin blank und kann ja schlecht da stehen und nichts zum Verteilen haben. Man würde mich wahrscheinlich steinigen, zerstückeln oder mit Eiern bewerfen. Ich bin bleich, erschöpft und sehe an mir herunter, ob ich noch vollständig erhalten bin. Bei aller Liebe, aber dieses Jahr war Halloween ein Graus und es fürchtet mich vor…..

Halloween 2025….ein Ausblick.

Wir werden aufstocken müssen. Schon Wochen vorher wird der Hase die Regale leerkaufen und wir werden mehr Süßigkeiten horten, als der Weihnachtsmann und der Osterhase (ja, es gibt sie wirklich….schließlich habe ich ja auch schon Dinosaurier gesehen) zusammen. Ebenfalls Wochen vorher werde ich meinen Körper durch hartes Training so weit bringen, dass ich auch an 20 Kinder gleichzeitig Süßigkeiten verteilen kann und dabei zeitgleich denen aufhelfe, die des Stehens noch nicht mächtig sind. Spiderman wäre nicht schneller als ich.

Die Kinder des gesamten Landkreises werden über uns herfallen und wenn ich nach einem Gedicht frage, wird ein Elternteil laut rufen: „Wer gibt Ihnen das Recht über mein Kind zu bestimmen?“ „Was sind Sie nur für ein Mensch?“, wird mich ein anderer tadeln, während andere Erziehungsberechtigte empört den Kopf schütteln. Und wenn ich mit meinem Korb (einem von sehr vielen Körben) ankomme und den mangelhaft pädagogisierten Kleinstterroristen eine bunte Palette an Qualitätsware offeriere, wird Sascha-Louis-Bunuel (und das war nur der Vorname) Meyerdiercks Spalthoff-Trümmler, ein vorlauter Drittklässler fragen: „Ist das auch alles glutenfrei?“ Und ein weiteres Elternteil wird nachfragen, ob weißer Industriezucker in den Süßigkeiten ist. Man hätte doch lieber eine Banane aus einem nachhaltigen „Fair Trade“ Anbau. Auch wäre es nicht zu viel verlangt, wenn ich doch einige selbstgebackene Vollkornkekse (zucker-, gluten- und geschmacksfrei) im Vorfeld gebacken hätte. Wobei ich die Hitze zum Backen selbstverständlich vollkommen klimaneutral erzeugt haben sollte.

Ich sehe ein, dass der Fehler bei mir liegt und dass ich mich dem Neuen einfach mehr öffnen muss. Also öffne ich die Tür, lade alle Anwesenden und alle Kommenden ins Haus ein (der Hase wäre schon Tage vorher ausgezogen) und lasse mich darüber belehren, wie ein moderner Umgang mit guten alten Traditionen unseres Landes auszusehen haben sollte. Die Meute würde mich belagern, die Eltern würden meine Alkoholreserven austrinken, während ihre gruselige Brut auf den Sofas hüpft und Schokolade an die Wände schmiert (freie Entfaltung ist ja soooo wichtig). Am Ende des Tages würde ich Schaum vorm Mund haben und orientierungslos durch die Straßen taumeln und ich würde an den Türen klingeln und um Nahrung betteln. Man würde meine Verkleidung loben (welche Verkleidung?) und mich fragen: „Kannst Du auch ein Gedicht aufsagen?“ „Ja!“, würde ich sagen, eines rezitieren und mir etwas aus dem Korb nehmen. „Aber nur ein Stück!“, würde eine freundliche Stimme sagen.