Jäger der verlorenen Wahrheit

Das große Büro ist dunkel, klein und hat keine Fenster. Schon der erste Blick verrät, dass es hier nicht um Spaß und Vergnügen geht. Eher um das Gegenteil. Also um Unspaß und Unvergnügen. Oder einfach darum, den Spaß aus dem Leben der Leute zu verbannen und durch politisch korrekte Alternativen zu ersetzten. Es geht um die einzig gültige Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Ein Komitee von 12 Personen, das in der Regel nie das Tageslicht sieht, sitzt hier und durchforstet alles und jeden, um jeden Makel, jede politisch fragwürdige Haltung oder Botschaft, und jeden Funken von Rassismus, Frauenfeindlichkeit, Homophobie oder Transphobie im gesprochenen, gesungenen oder geschriebenen Wort zu erkennen und gleich auszumerzen, im Keim zu ersticken. Und auch das weite Feld der kulturellen Aneignung haben sie sich auf die Fahnen geschrieben. Die Welt muss bekehrt werden, sie weiß es nur noch nicht. Und das ist keine leichte Aufgabe, aber irgendwer muss sie ja machen.

Die zwölf Eingeschworenen, wie sie sich in einem leichten Anflug von Humor, den sie natürlich im Vorfeld auf seine Tadellosigkeit überprüft hatten, nennen, stellen sich immer wieder, Tag für Tag diesem Kampf. Sie sind immer bereit, sich auf eine höhere Ebene zu erheben und allen unwissenden Menschen aufzuzeigen, wie unperfekt diese doch sind. Es ist schließlich so, dass die Menschen an sich einfach zu dumm sind, zu erkennen, welche schlechten Seiten in ihnen schlummern und welchen verwerflichen Liedern, Schriften und Ansichten sie aufsitzen, ohne zu fragen, was daran falsch sein kann. Denn eigentlich ist jeder weiße Mensch ein Rassist, man muss es ihm nur einfach mal erklären.

„Heimlich operierendes Büro für einheitliche Lebensführung“, kurz (HoBeL) steht an der Eingangstür und Holger (man nennt sich hier nur beim Vornamen) ist der Vorsitzende in diesem gleichberechtigten Komitee. Der immerwährende Krieg gegen die Ignoranz der Gemeinschaft fordert natürlich auch seinen Tribut. Weswegen es natürlich auch Verluste zu verzeichnen gibt. Mit den Nerven am Ende möchte Martin, der Beauftragte für Bevormundung, aus dem Dienst entlassen werden und in den wohlverdienten Ruhestand gehen. Er ist zwar erst 35, aber schon gezeichnet von den übermenschlichen Anstrengungen der letzten Jahre. Damit diese Lücke reibungslos geschlossen werden kann, hat sich heute ein Anwärter auf diesen Posten eingefunden und Holger stellt ihn vor.

„Hallo liebes Team, das ist Jens. Jens möchte bei uns reinschnuppern und später der neue Martin sein“, sagt Holger und lacht sich halb schlapp über seinen gelungenen Witz. „Aber ist das nicht eigentlich auch kulturelle Aneignung“, fragt Horst, der Beauftragte für, wen wundert´s, kulturelle Aneignung und meint das jetzt in keinster Weise ironisch. Gegen Ironie und Sarkasmus ist man hier geimpft. Aber Holger macht unbeirrt weiter: „Lieber Jens, das sind Deine eventuell zukünftigen Koleg:innen.“ Worauf sich Walter, der Beauftragte für geschlechtliche Ambivalenz zu Wort meldet: „Aber wir sind doch alles Männer, also müsste es korrekt Kollegen heißen.“

Holger ist irritiert. Was ist denn aus den drei Quotenfrauen geworden, die das Team vervollständigt hatten? „Wir haben uns entschlossen das Geschlecht zu wechseln, weil wir im falschen Körper gefangen waren und uns als Frauen zu sehr unterdrückt und zu wenig wertgeschätzt gefühlt hatten, in diesem Gremium.“, sagt Andreas, der Gendergerechte des Teams, der früher Andrea hieß und als Germanistin schon früh begriffen hatte, das Lummerland ein Hort des Rassismus ist und Jim Knopf als fröhliches schwarzes Kind stereotype Vorurteile bedient. „Dann seid ihr jetzt alles Männer? Und warum seid ihr alle weiß? Sollten nicht auch Vertreter der indigenen Völker, der Menschen mit anderer Hautfarbe und ursprünglicherer Kulturen anwesend sein und für sich sprechen dürfen?“, fragt Jens in den Raum und fällt schon mal gleich unangenehm auf. Denn mit Fragen ist das immer so eine Sache, zumindest wenn sie kritisch sind, oder versteckt kritisch sind, oder aber eine andere Meinung andeuten. Denn auch mit Meinungen tut man sich hier schwer. Nicht das Wort an sich ist das Problem, sondern sein Plural. Denn es kann eigentlich nur eine Meinung geben und diese wird von diesem Büro aus für alle Menschen erstellt und verbreitet.

Aber Holger beherrscht die Situation: „Eine sehr gute Frage, Jens. Wir haben natürlich auch darüber nachgedacht, aber die Distanz, die wir zu diesen Menschen haben, verstärkt nur unsere Demut vor den Ungerechtigkeiten, die ihnen widerfahren sind.“ „Aber ist das nicht auch eine Form der kulturellen Aneignung?“, fragt Jens. Holger ist irritiert: „Jens, Jens, Jens, Du bewegst Dich hier auf ganz dünnem Eis.“ „Ich ziehe meine Frage zurück.“ „Nun gut, Du bist ja auch noch neu hier, da kennst Du unsere Verfahrensweise noch nicht genau. Eines solltest Du aber von vornherein wissen, wir kontrollieren und optimieren uns selbst auch. Jeden Tag und jede Stunde. Sogar im Schlaf sind wir wach und passen auf, dass wir auch immer das Richtige träumen“ „Und was ist die Strafe, wenn man etwas falsch macht“, Jens kann seine Neugier nicht zurückhalten. „Wir bestrafen nicht. Wir überzeugen. Es ist uns wichtig, dass wir die einzig wirklich relevante Wahrheit erkannt haben und wir sind die Werkzeuge dieser Wahrheit. Und erst, wenn wir die ganze Welt bekehrt haben, können wir uns zufrieden zurücklehnen.“

Holger wird bei diesen Worten ein bisschen größer, wie Gandalf in „Der Herr der Ringe“, wenn er Bilbo Beutlin sagt, dass er nicht mit faulem Zauber arbeitet. Das Dunkel des Raumes verdunkelt sich noch mehr und Holger sagt: „Heute ist es Deutschland und morgen gehört uns die ganze Welt.“ Jens ist sich nicht sicher, aber er meint so etwas in der Art schon irgendwo mal gehört zu haben. Hm, wo nur? Holger weiht Jens in die ersten Erfolge ein: „In Amerika sind wir schon weit auf dem Vormarsch. Wir haben den Disney Konzern auf unsere Seite gebracht und die Simpsons politisch korrekt gemacht.“ „Ja, das mit Apu, dem stereotypen Inder der Serie. Das habe ich verstanden“, sagt Jens,“ aber was ist mit der Darstellung des Polizisten, der dumm ist und eine Schweinsnase hat und ist da nicht eigentlich so ziemlich jede Figur überspitzt stereotyp dargestellt? Müsste man da nicht konsequent das gleiche Maß bei allen anwenden?“

„Niemand ist vollkommen, auch wir nicht. Seltsamerweise.“ Holger führt Jens durch die einzelnen Büros, die ebenfalls fensterlos sind und schalldichte Wände haben. „Das ist zur Konzentration unerlässlich. Denn wir müssen bei unserer Arbeit ungestört bleiben und uns vor äußeren Beeinträchtigungen schützen. Außerdem haben wir ja einige Mitarbeiter:innen, die akustische Entgleisungen suchen. Lieder, die Sexismus verbreiten. Gentleman, der als Deutscher den Reggae assimiliert hat. Es ist ein weites Feld. Wir arbeiten gerade daran, dass sich Eric Clapton endlich schuldig bekennt, den Blues gestohlen und in die weiße Welt geführt zu haben. Es ist nur denjenigen erlaubt eine Kultur zu vertreten, die auch aus dieser stammen.“ „Also dürfen Weiße keinen Blues spielen, Deutsche keinen Reggae, Eminem nicht rappen und die Beatles hätten die Sitar in ihrer Musik nie verwenden dürfen?“ „Du begreifst schnell. Das muss man Dir lassen.“ „Aber ist genaugenommen nicht der afrikanische Kontinent die Wiege für die gesamte populäre Musik? Und dürften demnach nicht nur afrikanisch stämmige Menschen diese Musik machen?“

„Im Prinzip ja, aber so schnell können wir nicht all unsere Ziele umsetzen. Wir pflanzen die Saat in die Köpfe der Menschen. Es ist wie mit dem Gendern. Die Sprache verändert sich und dann wird es auch das Gedankengut der Menschen tun.“ „Also werdet ihr in ferner Zukunft die Taliban ausmerzen? Die sind ja in ihrer religiösen Einstellung ziemlich fanatisch und Frauen zählen nicht viel bei ihnen. Sie dürfen sich keine Bildung aneignen und müssen sich einer von Männern beherrschten Welt unterwerfen.“ Holger kommt ein bisschen ins Straucheln. „Der Islam ist eine Religion, die es in Deutschland nicht sehr leicht hat und viele Muslime leben nicht mehr nach diesen strengen Regeln. Wenn nun also Islamisten Frauen diskriminieren, dann können wir da nicht viel machen, ohne dass es einen faden Beigeschmack hat und wir uns des Rassismus oder der Unterdrückung einer Religionsgemeinschaft schuldig machen. Da haben wir mit der katholischen Kirchengemeinschaft schon genug um die Ohren.“

Holger holt aus: „Wir können die Welt nicht auf einmal retten. Deshalb fangen wir bei denen an, die insgesamt viel liberaler sind. Wir bekehren die Leute, die in ihren Ansichten schon auf dem richtigen Weg sind. Sie müssen es einfach nur noch deutlicher sagen. Deswegen das Gendern.“ Holger ist in seinem Element: „Wir haben sogar schon von Städten wie Köln oder Bonn Aufträge erhalten, einen Leitfaden für geschlechtsneutrale Anreden in behördlichen Anschreiben zu erstellen. Das war ein hartes Stück Arbeit, bis wir die jeweils 53 Seiten fertig hatten.“ „Also wendet Ihr Euch an die, die eh schon prinzipiell offen für alle Geschlechter und Gleichberechtigung unter ihnen sind?“ fragt Jens. „Ja.“, sagt Holger, „die härteren Nüsse knacken wir, wenn wir eine breite Basis haben.“ „Also erklärt ihr den Leuten, die eigentlich keine Probleme mit diesen Dingen haben, dass sie ein Problem damit haben sollen und ihr das Mittel dagegen habt?“ „Wenn Du das so sehen möchtest…“ „Ist das nicht nicht so, als würde man Wasser in die Nordsee kippen? Oder Sand mit in die Wüste nehmen? Oder mit einem Edding ein schwarzes Loch dunkel anmalen?“ „Jens, ich glaube Du willst es nicht begreifen.“ Holger ist insgesamt nicht begeistert vom Gesprächsverlauf.

Zu viele Fragen, denkt er. Es sind einfach zu viele Fragen. Was will der Kerl denn von uns? Auf sowas ist man hier nicht vorbereitet. Eigentlich sollen hier nur linientreue Mitarbeiter:innen in der Frauschaft (Mannschaft ist doch sowas von gestern) sein. „Ich glaube“, sagt Holger, „Du passt nicht so recht zu uns. Nichts für ungut, aber es wird das Beste sein, wenn wir uns nach einem neuen Kandidaten…..“, Holger stockt. Er hat doch glatt vergessen zu gendern. Das ihm sowas noch passiert. Das liegt nur an dem Schlaumeier. Der mach einen ganz kirre, denkt Holger. „Ich denke, es ist besser, unsere Wege trennen sich jetzt und hier.“ Jens denkt das auch. Die Dunkelheit, die allgegenwärtige gedrückte Grundstimmung und das absolute Fehlen von Humor schlagen ihm aufs Gemüt. Er bedankt sich bei Holger und lehnt die Stelle ab. „Es ist wirklich toll, was ihr hier macht, aber ich fühle mich dem Ganzen noch nicht gewachsen“, sagt er und denkt sich, dass er lieber raus geht, ab an die Frische Luft, dass er Winnetou lesen, sich Dreadlocks wachsen lassen, und nach einem öffentlichen Text ohne Gendersternchen suchen wird. Wer weiß, wie lange das noch möglich ist.