Ja, so war´s

Mein halbes Leben bin ich jetzt mit meinem Hasen zusammen. Ziemlich genau sogar. Es ist mir mittlerweile so, dass ich gar nicht mehr weiß, wie es vor dem Hasen gewesen ist. Gab es überhaupt eine hasenlose Zeit? Wenn ja, warum? Die gemeinsame Zeit sorgt natürlich dafür, dass wir einander in vieler Hinsicht ähnlicher geworden sind. Zu meines Hasens Glück aber nicht optisch. Es ist eher eine innerliche Ähnlichkeit. Man übernimmt automatisch einige Eigenschaften des Partners und ist eindeutig der Meinung, dass es die eigenen wären. Aber in mancher Hinsicht bleiben die Unterschiede immer bestehen.

So ist zum Beispiel der Hase ein Frühaufsteher. Einer dieser Menschen, der den Wecker nach kurzem Klingeln ausschaltet, dann mit Schwung die Bettdecke beiseite wirbelt und diesen Schwung nutzt, um die Beine aus dem Bett zu schwingen. Es vergehen keine fünf Sekunden zwischen Tiefschlaf und einer furchterregenden Wachheit. Der Hase steht sogar wesentlich früher auf, als er muss, damit er genügend Zeit hat für: Das Frühstück, das Lesen der Zeitung, das Durchstöbern der Angebotsprospekte der heimischen Supermärkte und Discounter, dem Schreiben von Einkaufszetteln, ein wenig Wäsche zusammenlegen, zwischendurch dem Herrichten der Frisur unter Zuhilfenahme einer Unmenge an Haarspray (der Hase hat schon ein eigenes Ozonloch erschaffen) und so weiter und so weiter. Dabei ist meine bessere Hälfte mit Energie nur so aufgeladen.

Ich hingegen ringe dem beginnenden Morgen jede nur mögliche Sekunde ab und versuche verzweifelt mich an die Nacht zu klammern. Die Bettdecke, die viel dünner als die vom Hasen ist, lastet tonnenschwer auf mir und es ist mir beinahe unmöglich sie beiseite zu schieben. Meine Beine quälen sich aus dem Bett und der Oberkörper richtet sich nur mühsam auf. Ich kann meine Augen kaum öffnen und dann beginnt die Prozedur des Ankleidens mit dem denkwürdigen Höhepunkt:“Versuche Deinen Bauch so zu falten, dass Du mit den Händen in der Lage bist, Deine Füße zu erreichen, um die Socken anzuziehen!“ In den Spiegel blicke ich nicht. Ich weiß was mich erwartet. Das muss ich mir um diese Zeit nicht antun. Mein Körper läuft auf Sparflamme und mit Mühe erreiche ich die Küche. Dort sitzt der Hase und nun prallen zwei Welten aufeinander.

Der Hase ist voller Energie und sehr mitteilungsbedürftig, während ich lieber schweigen möchte. Sie möchte mit mir die Planung  des Tages durchsprechen, oder Probleme lösen oder mir entlocken, was ich denn in den nächsten Tagen essen möchte, oder…… es gibt soviel was sie besprechen möchte und so wenig, was ich dazu zu sagen habe. Ich muss mich auf die nötigsten Dinge konzentrieren: Kakao trinken, Brote schmieren und nicht mit dem Kopf auf die Tischplatte knallen. Meine leicht mürrisch wirkende Schweigsamkeit wird dabei völlig missgedeutet. „Du hast anscheinend schlechte Laune“, sagt der Hase. „Nein“, sage ich. „Das sehe ich Dir doch an, dass Du schlechte Laune hast“, sagt der Hase. „Nein“, sage ich wahrheitsgemäß, denn eigentlich habe ich überhaupt keine Laune. Es ist noch zu früh für irgendeine Gefühlsregung. „Wenn ich schon sehe, wie Du guckst“, sagt der Hase. „Na dann guck doch nicht hin“, sage ich. „Schnauz mich hier ja nicht an“, sagt der Hase. Ich würde gerne sagen, dass ich überhaupt nicht schnauze, weil ich so früh gar nicht schnauzen kann, aber meine Lippen sind wie versiegelt. „Ach, und nun sagst du gar nichts mehr. Ich sag ja, du hast voll die schlechte Laune und das nervt mich langsam. Jeden Morgen das Gleiche. Ich glaub du musst mal früher schlafen gehen. Ist überhaupt sehr ungesund, wie Du Deinen Schlafrhythmus gestaltest…usw……“ Das Ganze geht dann solange, bis ich entnervt nachgebe und schlechte Laune bekomme. „Ich habs ja gleich gesagt“, sagt der Hase.

Ein weiterer Punkt, in dem der Hase und ich nicht konform gehen, ist das Singen. Der Hase singt oft und gerne und auch gut. Wenn ein Lied im Radio läuft, das ihr gefällt, trällert sie selbst- und textsicher mit. Sie kann das wirklich gut. Und manchmal, wenn  die Pferde mit ihr ein wenig durchgehen, singt sie bekannte Lieder in einer recht eigentümlichen Art und Weise. Dann wirds schräg. Sie bekommt einen leicht irren Blick und dann spielen solche Dinge wie Melodie oder Takt überhaupt keine Rolle. Insgesamt kann man sagen, der Hase hat Spaß am Singen.

Ich aber nicht. Singen ist mir ein Graus. Nur zu den Geburtstagen der Kinder und dem Hasen, lasse ich mich breitschlagen und singe mit. Da wir dann aber nur zu Dritt singen fällt mein gesangliches Unvermögen sehr ins Gewicht. Am schönsten sind dann meine Geburtsgtage, weil dann drei schöne Stimmen zu hören sind. Wir singen dann immer klassisch „Happy Birthday to You!“ inklusive des Namens des Geburtstagskindes. Wenn wir soweit sind, denke ich jedesmal, das war´s. Aber Pustekuchen. Es folgt noch eine Textzeile eines anderen Gassenhauers: Wie schön dass Du geboren bist, wir hätten Dich sonst sehr vermisst….usw….“ Eingeleitet mit einem Aufschwung der Unterarme des Hasen. Spätestens hier wird es mir innerlich zuviel. Ich fühle mich unwohl bei jeder Silbe, die ich singe. Es ist, als wenn ich in meine Kindheit zurückversetzt werde, denn dort ist wahrscheinlich die Wurzel allen Übels, zumindest im Gesang zu finden. Genaugenommen in meiner frühen Schulzeit.

Zum meinen Grundschulzeiten hatte ich in der dritten und vierten Klasse einen Klassenlehrer, der noch so richtig vom alten Schlag war. Er hatte schon damals graue Haare. Eigentlich war es mehr ein Haarkranz, bei dem die Haare an den Seiten immer etwas länger waren, wodurch sie wirkten, als ob permanent ein Wind sie nach hinten blasen würde. Hermes der Götterbote kommt mir immer in den Sinn, wenn ich an ihn denke. Wenn ich es recht überlege, hatte er mittig auf dem Kopf demnach eine Glatze. Komisch, das ist mir nie so recht bewusst geworden. Aber schon damals war mir klar, dass graue Haare ein todsicheres Anzeichen dafür waren, dass er alt gewesen ist. Sehr alt.  Mindestens fünfzig Jahre, wie ich vermutete. Eine Zahl, die damals astronomisch für mich war. Kein Mensch wurde fünfzig. Außer meinen Großeltern vielleicht, aber die waren auch sehr, sehr, sehr alt. (Wie hätte ich seinerzeit auch ahnen können, dass es gefühlt nur ein Wimpernschlag ist, bis man selbst fünfzig wird.) Vielleicht war er aber auch schon sechzig. Nicht auszudenken. Aber egal. Mein Grundschullehrer, der auch gleichzeitig Rektor der Schule war, legte sehr großen Wert auf Tugenden. Fleiß, Pünktlichkeit und dergleichen. Er war sehr beherrscht und gerecht. Wenn man ihm aber dumm kam, dann zog er auch schon mal an dem ein oder anderen Ohr. Nicht sehr stark, aber doch in einem Maße, dass man seine verlustig gegangene Aufmerksamkeit plötzlich wiederfand. Mir hatte er sogar einmal an den Haaren gezogen. Wahrscheinlich weil meine Ohren damals zu klein waren. Sowas gibt sich mit dem Alter, wie ich bemerken musste. Grund der Haarwurzelbespannung war, dass ich während einer Stillarbeit……

…….Moment, ich muss an dieser Stelle kurz unterbrechen…… Eine Stillarbeit, heutzutage kann sich das kaum einer vorstellen, gab es dann, wenn der Lehrer nicht nur die eigenen Klasse unterrichten, sondern vielleicht auch noch parallel eine andere in Vertretung beaufsichtigen musste.  Dann gab es für die Klassen meistens eine Stillarbeit. Es wurden Aufgaben gestellt, die innerhalb einer Schulstunde zu bewältigen waren. Der Lehrer ging dann abwechselnd in die Klassen. Dafür musste er einen Flur überqueren und konnte sich sicher sein, auf kein ADHS- Kind mit Tourette Syndrom zu stoßen, dass wirr schreiend über die Gänge lief und ihn als Penner beschimpfte. Auch wenn es verklärt klingen mag, aber ADHS gab es da noch nicht. Wahrscheinlich konnten wir es uns nicht leisten. Wir hatten ja nix. Auch die Sache mit den Ohren und evtl. auch Haaren an denen er zog, sahen wir nicht so eng. Es gab keine Kommission, die den Lehrer wegen Misshandlung angeklagt hätte und dass Eltern mit einem Anwalt zu einer Besprechung  erschienen, war seinerzeit undenkbar. Einen Anwalt brauchte man erst dann, wenn man jemanden um die Ecke gebracht hatte und davon war mein Pädagoge ja meilenweit entfernt.

Doch zurück zum Haareziehen. Wir hatten also diese Stillarbeit. Es ging um Noten, musikalischer Natur, die wir in unser Notenheft eintragen sollten. Ihr wisst schon, diese Heftchen mit diesen seltsam angeordneten Linien. Ich war zu dieser Zeit recht gut im Notenschreiben und -lesen. Auch den Notenschlüssel konnte ich sehr gut. Ich hatte damals einen richtig guten Schwing, was das angeht.  Aber an diesem Tag hatte ich mein Notenheft vergessen. Ich sollte im Laufe meines Lebens noch viele Dinge vergessen, aber an dieses Notenheft erinnere ich mich noch sehr gut. Da ich es ja nicht mit hatte, konnte ich auch keine Noten schreiben. Weil es aber auch eine Stillarbeit war, mochte ich nichts sagen. Man spricht nicht während einer Stillarbeit, das sagt schließlich auch schon der Name. Also verhielt ich mich still, sehr still und tat…… nichts. Man nannte das damals Löcher in die Luft starren und ich hatte mich innerhalb dieser Stunde zu einem wahren Meister darin aufgeschwungen. Die Luft sah aus wie ein Sieb. Kurz vor Ende des Unterrichts ging unser Lehrer von Tisch zu Tisch, um die Fortschritte der Schüler zu kontrollieren. Ein freundliches Nicken hier, ein kleiner Hinweis dort, er war sehr zufrieden mit der Leistung seiner Schützlinge.

Bis er dann zu mir kam. Mein Tisch war leer. „Wo ist Dein Notenheft?“ Es lag auch schon ein leicht ungehaltener Ton in seiner Stimme. „Hab ich zu Hause vergessen“ Seine Augen wurden größer. „Und was hast Du die ganze Zeit gemacht?“ Es ergab sich spontan ein antiproportionales Verhältnis zwischen seinen Augen und mir. Je größer sie wurden, desto kleiner wurde ich. Und als ich auf seine Frage wahrheitsgemäß antwortete, dass ich nichts gemacht hatte, waren seine Augen so groß wie Bratpfannen, während ich auf die Größe einer Playmobilfigur zusammenschrumpfte. „Oha“, dachte ich, „das gibt jetzt Ärger!“ Und es gab Ärger. Die angestaute Wut kaum noch bändigen könnend, nahm er seine Hand, griff in meine Haare und zog daran. Ich bin mir sicher, dass er mein Ohr hat ziehen wollen und nur aus Versehen die Haare erwischte. Er zog an ihnen für einen kurzen Moment, so als ob er dadurch das Notenheft herbeiziehen wollte. Daher auch das geflügelte Wort “ Etwas wird an den Haaren herbeigezogen“. Nachdem er ganz kurz gezogen hatte und die Beherrschung wieder Oberhand gewann, sagte er: „Warum hast du nicht einfach Linien auf ein leeres Blatt gezeichnet und dann die Aufgabe gemacht?“ Ich war baff. Nein ehrlich, da wäre ich wirklich nie drauf gekommen. Er sah mich verzweifelt an und die Einfältigkeit in meinem Blick und in meinem Handeln bereitete ihm große Sorge. Es war als wollte er sagen: “ Herr, schmeiß bitte Hirn vom Himmel, vor mir sitzt ein Notfall!“

Ich mochte meinen Grundschullehrer sehr. Er war ein Mann mit Weitsicht, der schon damals meiner Mutter sinngemäß sagte, ich sei nicht dumm, aber stinkend faul und wenn man mir nicht permanent in den Hintern träte, dann würde ich nichts auf die Reihe kriegen. Er hatte sich natürlich etwas sachlicher ausgedrückt, aber im Kern hatte er selbstverständlich recht. Er war sehr naturverbunden und wir unternahmen auch gerne Wanderungen in heimische Wälder, konnten Bäume benennen und einen Buntspecht von einem Falken unterscheiden. . (Kleiner Hinweis für die Unwissenden, es handelt sich hierbei um Vögel). Ganz ohne zu googeln. Nur sein Hang zu Volksliedern machte mir sehr zu schaffen. Wir hatten, wie man wegen der Notenheftgeschichte vermuten kann, auch Musikunterricht bei ihm und es war ihm immer ein großes Vergnügen, wenn die ganze Klasse solche Gassenhauer wie „Ein Jäger aus Kurpfalz“, und dergleichen mehr, sang. Aber um eine Zensur in diesem Fach vergeben zu können, mussten wir mindestens zweimal pro Halbjahr einzeln vorsingen. Für die Mädchen unter uns überhaupt kein Problem. Die hatten allesamt glockenhelle Stimmen und auch in den hohen Tönen klangen sie sehr sicher und kraftvoll. Für uns Jungs war es allerdings eine wahre Tortur. Es ging dann immer so von Statten, dass wir alle der Reihe nach dran kamen und wer zum Ende der Stunde noch nicht hat singen müssen, dem blühte dieses Schicksal beim nächsten Mal.

Einige der erschütternsden Momente der jüngeren Musikgeschichte entstanden aus diesen erzwungenen Gesangseinlagen. Ein schlimmes Beispiel war das weitgehend unbekannte „Ich bin der Meister Schneider“, in der malträtierten Version eines Mitschülers. Ein Lied das schon in der Gruppe, oder im Klassenverband gesungen sehr schwer mit Leben zu füllen ist. Für einen einzelnen Sänger ist es eine Katastrophe, zumindest wenn der Sänger gar nicht singen kann. Wie mein damaliger Klassenkamerad, dessen Name ich nicht preisgeben mag. Nennen wir ihn einfach Karl. Karl war ein dürres Kerlchen, wie alle Jungs in unserer Klasse und er verfügte über eine seltsam brüchige Stimme. Er war nie in der Lage einen geraden Ton zu singen. Seine „Singstimme“ erinnerte mich an ein rostiges Türscharnier und war somit ganz meine Liga.

Karl war allerdings mutig genug, sich den Schneidersong für sein Vorsingen auszusuchen. Sollte es jemanden geben, der dieses Lied kennt, der weiß was ich meine.  Und so stand er auf, wir mussten damals aufstehen, wenn wir vorsangen, stütze sich mit seinen Händen auf dem Tisch ab und atmete tief ein. Mittlerweile war es derart still in der Klasse, dass man den Luftzug deutlich vernehmen konnte. Das Fluggeräusch einer fallenden Stecknadel wäre hier hörbar gewesen. Karl bekam einen hochroten Kopf und atmete nochmals ein. Tief ein. So tief, dass wir schon Angst hatten, sein Brutskorb würde gleich platzen. Es war als wollte er mit einem Zug die Luft für das ganze Lied in sich herinpumpen. „Schneidri, schneidra, schneidrum…“, begann er zu, na ich sag mal, zu singen. Jeder Ton kein Treffer. Es klang schief. Entsetzlich schief. Unser Lehrer bekam einen schmerzerfüllten Gesichtsausdruck. „Schneidri, schneidra, schneidrum….“ quiekte Karl abermals, nach einer kleinen Pause, die mit der Fassungslosigkeit seiner Mitschüler gefüllt war. Dann, nach einer weiteren Pause kam die erste Strophe dran und Karl erwies sich als ein Meister des Atonalen, ohne die Spur von Gefühl für Takt oder Rhythmus.

Es hätte hier enden sollen. Das wäre für alle Beteiligen besser gewesen, aber mein Lehrer kannte da keine Gnade. Sein Lied musste jeder Deliquent bis zum bitteren Ende durchsingen. Ohne Rücksicht auf Verluste. Karl quälte sich, die Klasse wurde von Karl gequält und unser Lehrer verspürte sichtlich Schmerzen. Ich schätze mal, dass der Schwanengesang rund zweieinhalb Minuten dauerte. Es kam mir nur erheblich länger vor. Am Ende setzte sich Karl ebenso verstört, wie erleichtert hin und es sah aus, als ob er innerhalb seines Körpers zusammengeschrumpft wäre. So als sei sein Körper eine Hülle, die viel zu groß für den eigentlichen Karl gewesen ist. Das einzige, was ihn danach noch aufrichten konnte, war dass ich noch singen musste.

Ich möchte mal sagen, dass ich ein sehr gutes Gespür für Rhythmus, Takt und Melodie habe. Zumindest, wenn ich Musik höre. Besonders dann, wenn jemand anderes singt, erkenne ich jeden Fehler. Da bin ich gnadenlos. Ich weiß also komplett, wie man es macht, aber ich kann es einfach nicht umsetzen. Es ist wie mit so vielen Dingen, es wohnt in mir, aber ich kann es nicht ans Tageslicht bringen. So habe ich zum Beispiel fünfundreißig Jahre Handball gespielt und ich wusste immer, wie dieser Sport funktioniert. Wohin man zu welchem Zeitpunkt laufen musste, und wie man taktisch klug am Gegner vorbeikommt, und wann man seinen Mitspieler am besten anspielen soll. Soweit die Theorie. In der Praxis jedoch war ich heillos überfordert, wenn ich durch die Halle lief, mir der Ball zugespielt wurde und ich eine Fülle von Informationen und Möglichkeiten abwägen musste. Sollte ich dribbeln und dabei weiterlaufen? Wenn ja, wie sollte ich sehen, wo ich hinlief, weil ich doch auf den Ball sehen musste? Sollte ich abspielen? Was sollte ich mit den Gegenspielern machen? Und wenn ich frei vorm Tor war, wohin sollte ich werfen? Sollte ich vor dem Wurf abspringen? Wenn ja wie hoch? Wenn nein, warum nicht? Sollte ich dann auf den Füßen landen, oder sollte ich meinen Körper strecken und der Länge nach auf dem harten Hallenboden aufkommen? Könnte das nicht weh tun? Solche Gedanken geisterten mir durch den Kopf, bevor ich überhaupt losgelaufen war.

Beim Singen verhält es sich ähnlich. Ich weiß wie es gemacht wird, aber ich kriege es nicht gebacken. Und wenn ich in der Grundschule vor der Klasse singen musste, ratterte der Verstand auch pausenlos. So war ich mit einem Großteil meines Hirns damit beschäftigt, zu ergründen in welcher Position ich am lässigsten stehen würde, während ich einen hochroten Kopf bekam. Ich war umgeben von einer Horde blutrünstiger Zombies, die sich als Mitschüler getarnt hatten und darauf lauerten, dass ich mein Vorsingen verkackte. Gierig darauf, sich auf jeden falsch gesungen Ton zu stürzen saßen sie da. Ich konnte es fast schon hören, wie sie mich später auslachen würden.  Woher ich das wusste? Nun, ich machte es schließlich genauso. Mit einem Gemisch aus nackter Panik und einer gewissen Ergebenheit meinem Schicksal gegenüber begann ich dann zu singen.

Ich hatte mir ein leichteres Lied ausgesucht. Dachte ich zumindest. Aber schon während der ersten Strophe war mein Hirn wie leergefegt. Weder Text noch Melodie waren auffindbar. Ich stammelte und stocherte sinnlos vor mich her und mein Kopf, der noch roter wurde, als er es jemals getan hatte, schien platzen zu wollen. Alles um mich herum war verschwommen und mein Herz schlug wie wild. Meine Mitschüler machte sich nicht die Mühe bis zur Pause zu warten. Sei lachten mich lieber gleich aus. Ich fühlte mich gepeinigt und gedemütigt. Es war grausig.

Nach Beendigung der Grundschule stand für mich fest, dass mir sowas nie wieder passieren würde. Nie wieder würde singen und ich habe mich weitestgehend daran gehalten. Es gab einige Ausnahmen, die mit übermäßigem Alkoholkonsum einhergingen. So habe ich vor vielen Jahren auf einer Feier fast pausenlos „Guten Morgen liebe Sorgen“ gesungen. Aber nur den Refrain. Bestimmt einhundertdreißig Mal an einem Abend. Ich fand das ziemlich witzig. Alle Anderen aber nicht.

Und so singe ich im Normalfall nur an Geburtstagen in unserem Hause. Bis auf neulich. Ich war allein zu Hause und hatte Musik laufen. Ein Lied das ich in- und auswendig kannte. Niemand konnte mich hören. Also sammelte ich all meinen Mut zusammen und begann ernsthaft zu singen. Zwei Dinge passierten dabei. Erstens konnte ich den Text nicht. Also ich kannte den Text ebenso auswendig, wie das Lied, aber ich konnte ihn nicht singen. Mir fielen die Worte nicht ein. Und Zweitens musste ich beim Singen gähnen. Kaum dass ich ein paar Töne sang, musste ich herzhaft gähnen. Ich versuchte es erneut mit gleichem Ergebnis. Je mehr ich sang, desto herzhafter das Gähnen. Mir klappte beinahe der Unterkiefer weg. War es eine Abwehrreaktion meines Körpers? Gibt es in meinem Hirn Synapsen, die dafür sorgen, dass ich mich selbst in den Schlaf singen kann? Wenn ja, ist das ein Talent, mit dem ich ins Fernsehen kommen kann? Lauter Fragen, die sich mir stellen. Wer sie schlüssig beantworten kann, dem gebe ich ein Bier aus, oder ich singe ihm was vor.

Mein Rat an diese Person:“Du solltest das Bier nehmen!“