Tag 4
Wanderung Nummer 3
Hoch über das Ötztal
900m hoch und 780m runter
5 Stunden Wanderzeit bei 12km Wegstrecke
Halb sechs ist anscheinend meine neue Zeit zum Aufwachen. Es gab Zeiten, da bin ich um halb sechs nach durchzechter Nacht erst ins Bett gegangen. Das hat mir eigentlich besser gefallen, muss ich sagen. Aber nun bin ich hier im Gebirge immer um halb sechs wach. Heute merke ich unmissverständlich, dass gestern ein anstrengender Tag war. Ich fühl mich leer und verbraucht, alles tut weh. Aber ich bin auch ein bisschen zufrieden und stolz, wenn ich an den gestrigen Tag zurückdenke. Es ist schwer sich morgens aufzuraffen, aber ich mach es und sortiere meine Sachen und bepacke den Koffer so, dass ein System dahintersteckt und ich mit möglichst geringem Aufwand an alle Sachen herankomme, die ich als nächstes benötige. Ich habe die Struktur für mich entdeckt. Ein erhebendes Gefühl. Erhebende Gefühle sind im Gebirge nicht ganz unwichtig
Beim Frühstück begrüße ich das nette Pärchen, das nett zurück grüßt. Die ASI Gruppe sitzt noch nicht am Tisch, aber meine Truppe schon. Irgendwie haben wir alle den gestrigen Tag in den Knochen. Zumindest sagen sie, dass es so ist. Aber gerade Opa sieht aus wie der blühende Frühling. Da kann ich mir nicht vorstellen, dass er irgendwie irgendwelche Nachwirkungen merkt. Ich möchte mit 77 nur zu fünfzig Prozent so fit sein wie er, dann geht es mir gut. Opa und Tochter haben mal wieder den totalen Überblick und ergänzen ihre Planungen. Ich nicke und sage Ja und Amen, wenn es erforderlich ist. Mein Sohn verfährt ähnlich. Zum Frühstück gibt es sogar Lachs, was für mich ein großer Pluspunkt ist. Das Rührei wird für jeden extra zubereitet. Hat schon was von Luxus hier.
Wir verabschieden uns von der netten Hotelleitung und nicht nur in mir entsteht, ebenso wie gestern, der Wunsch, noch ein paar Tage in diesem Etablissement zu verweilen. Es ist schon schön hier und man hat nie die Zeit es zu genießen. Der Weg zum Bus geht bergab, das finde ich gut. Wer wissen möchte, was die Stunttruppe von „Alarm für Cobra 11“ so macht, wenn nicht gedreht wird, der muss in Österreich einfach mal mit dem Bus fahren. Der von gestern Abend war bisher der mit der größten Todessehnsucht. Ich saß zwar mit dem Rücken zur Fahrtrichtung, aber auch so konnte ich zweifelsfrei erkennen, wie er die Kurven schnitt und wen er alles von der Straße gedrängt haben musste. Mir war auch ein bisschen übel, muss ich gestehen. Heute ist es nicht ganz so wild, denn der Bus hat einen Anhänger für Fahrräder hinten dran und kann deswegen nicht die Schallmauer durchbrechen.
Ich blicke übermüdet aus dem Fenster und so langsam stellt sich eine gewisse Gewöhnung ein. Der Reiz des Neuen verfliegt ein wenig und so blicke ich missmutig auf die Berge. Schon wieder Berge. Überall Berge. Wo man hinsieht, nichts als Berge. Was ist daran denn so schön? Ich weiß es nicht. Wir fahren nach Umhausen. Es ist das erste Mal, dass wir innerhalb eines Ortes starten und wir werden auf unserer Tour noch einen weiteren Ort bewandern. Somit werde ich also im Österreichischen auch ein wenig bewandert sein. Umhausen ist weder besonders groß, noch klein und wir müssen zu einer Straße gehen, um unsere Wanderung zu starten. Nach den ASI Angaben ist sie nicht ganz leicht zu finden, aber da sie nicht weit ist, schaffen wir auch das. Wir gehen vorbei am Ötzi-Dorf, einer Art Museum mit dem „Ötzi“ als Hintergrund. Er selbst liegt aber wohl nicht da, weil er unter besonderen klimatischen Bedingungen gelagert werden muss. Sonst vergammelt der Gute.
Es ist ein sehr flacher Anstieg auf der ersten längeren Strecke und ich mache mir schon wieder Sorgen, wie ich den Tag rumkriegen soll, weil laut Heft wieder 900m Höhenunterschied auf dem Plan stehen. Also die Kragenweite von gestern und wo das hingeführt hat, weiß man ja. Allerdings gibt es widersprüchliche Angaben und ich meine mich erinnern zu können, dass in den ersten Beschreibungen, die wir Anfang des Jahres bei der ersten Planung bekommen haben, an diesem Tag von wesentlich weniger Höhe die Rede war. Ich glaube so bei 650m rum. Das wäre machbar. Meine Tochter hat auch etwas in der Richtung ermittelt. Wir lassen uns überraschen.
Man kann ja mit einigen Dingern hadern, was ASI angeht, aber man muss auch vorbehaltlos anerkennen, dass sie wirklich gute Hotels auswählen und dass die Strecken sehr abwechslungsreich sind. War es gestern diese phantastische Aussicht, ist das heutige Highlight unbestritten der Stuibenfall. Tirols höchster Wasserfall. Dessen Fußpunkt wir nach 135 Höhenmetern erreichen. Dort ist die erste Aussichtsplattform und an der steht eine Tafel mit einer Darstellung dessen, was man an Weg zurücklegen wird, um an das obere Ende zu erreichen. Genaugenommen sind es 300 Höhenmeter und dafür hat man eigentlich so ziemlich keine Strecke zur Verfügung. Ich suche nach dem Fahrstuhl, finde aber keinen. Wie soll das gehen? Will man uns hochschießen? Eine meiner zahlreichen Tanten hatte früher, als bei mir im Kindesalter das Wachstum anfing, gesagt, ich sei ein hochgeschossener Junge. Das würde dann heute sozusagen passen. Aber Pustekuchen, weder Rolltreppe, Fahrstuhl, noch Katapult warten auf uns. Dafür einige sehr steile Wanderwege und jede Menge Treppen. Treppen aus der Natur der Wege heraus, künstlich angelegte Naturtreppen, Stahltreppen und für mich extra als Highlight noch eine Art Hängebrückentreppe. Weit über der Schlucht führt sie von einem Berg zum Nächsten.
Zu Hängebrücken habe ich im Übrigen ein besonderes Verhältnis, seit ich im Harz über ein besonders aufregendes Exemplar gegangen bin. Es gibt da in der Nähe vom Brocken eine Art Actionpark namens Harzdrenalin. Mit einer Art Seilbahn, die über eine tiefe Schlucht führt. Da wird man an eine Drahtseil gebunden und zwar so, dass man mit dem Bauch nach unten hängt und dann mit Wumms einmal über die Schlucht gleitet. Ich glaube man hat diese Position gewählt, damit man sich nicht auf die Klamotten kotzt. Außerdem ist da eben diese Hängebrücke, von der man, wenn der Irrsinn zu groß wird, auch einen Gigaswing machen kann. Für die halbwegs Mutigen bleibt die Überquerung der Brücke. Titan RT heißt das Teil und es ist 75m über dem Erdboden. Außerdem ist diese Brücke nur 1,20m breit und das Geländer mit 1,30m eindeutig zu niedrig. Natürlich bin ich da rübergegangen., zusammen mit dem Hasen und den Kindern. War ja schließlich meine Idee hierher zu kommen. Ich bin manchmal echt bescheuert.
Das niedrige Geländer hat meine Phantasie beflügelt und ich hatte mir unterwegs rund 86 Szenarien ausgedacht, wie unglückliche Umstände zur Folge haben könnten, dass ich versehentlich über dieses Geländer fiel und 75m weiter unten unsanft landen würde. Weitere Probleme waren, dass die Brücke konstruktionsbedingt wackelte wie ein Wackeldackel auf der Heckablage eines alten Mercedes und die vielen Menschen, die hier rüber wollten. Wobei das größte Problem darin bestand, dass man in beide Richtungen über die Brücke gehen musste. Ich hatte also auch noch Gegenverkehrt und deswegen war es mir nicht immer möglich, mich an beiden Geländern gleichzeitig festzuhalten. Zur Krönung machte mein Sohn noch Faxen und tat so, als würde er über das Geländer stolpern. Ich glaube seitdem habe ich Herzrhythmusstörungen. Ich ging in Rekordzeit über die Stahlrosten, die den Boden der Brücke bildeten, während sich meine Familie darin übte, sehr zu meinem Leidwesen, die Aussicht in vollen Zügen zu genießen. Auf der anderen Seite angekommen, hätte ich auch einen Hasenfußweg zurück über eine breite Mauer eines Stausees nehmen können. Aber ich nahm dann doch die Brücke. Schließlich hatte ich dafür bezahlt. Tausend Tode sterbend ging ich wieder zurück und zwar in Rekordtempo. Wer mir im Weg stand, wurde rücksichtslos niedergetrampelt. Ich schwor mir an diesem Tag, dass ich nie wieder über eine Hängebrücke gehen würde.
Und nun stehe ich hier am größten Wasserfall von Tirol und muss über eine Hängetreppe, die eigentlich nichts anderes ist, als eine scheißhohe Hängebrücke mit elend vielen Stufen. Sie ist somit nicht nur beängstigend, sondern auch anstrengend. Ich kenne kein Bauwerk, das mir bisher unsympathischer gewesen ist. Wenn sie ein Mensch wäre, dann wahrscheinlich eine Bergführerin von ASI. Aber es nützt nichts, ich muss hier rüber. Der Vorteil an der Hängetreppe ist, dass man das Geländer immer von einer Stufe weiter unten anfassen kann, was den Effekt hat, dass es viel höher wirkt. Dann ist es auch nicht mehr ganz so schlimm mit der Höhe der Brückentreppe. Aber natürlich wackelt das Biest auch und es sind sehr viele Menschen unterwegs. Das ist so mit Attraktionen, man hat sie nie führ sich allein. Zumindest, wenn man relativ weit mit dem Auto in die Nähe kommen kann.
Trotz meines trügerischen Sicherheitsgefühls, versuche ich schnell über die Brücke zu kommen. Was allerdings sehr anstrengend ist, aber kein Vergleich zu dem, was danach auf mich wartet. Treppen, lauter Treppen und ein Ende ist nicht in Sicht. Hier trennt sich die konditionelle Spreu vom Weizen und während die Kinder noch einigermaßen in meiner Nähe bleiben, sieht man von Opa nur eine Staubwolke. Unbeirrt geht er seinen geeichten Schritt immer weiter hoch und muss nie eine Pause machen. Es ist beinahe unheimlich und mit Schokacola allein nicht zu erklären. Der Vorteil an Treppen ist. dass man in relativ kurzer Zeit und ohne viel Strecke sehr hoch kommt und im Gegensatz zu steilen Wanderstrecken bleiben die Füße dabei waagerecht und das ist auch eine gewisse Entspannung. man geht die ganze Zeit neben diesem imposanten Wasserfall entlang, blickt nach unten und ist fasziniert, wie schnell man seinen Startpunkt kaum noch erkennen kann, weil man so weit über ihm steht. Meine beginnende Erschöpfung lässt meinen Blick für den Wasserfall ein bisschen verblassen, aber ich bin trotzdem froh hier zu sein. Wie gesagt, die Strecken haben immer mindestens ein Highlight zu bieten.
Neben einigen sehr steilen Wegen haben wir auch 700 Treppenstufen überwunden, um hier hoch zu gelangen. Oben angekommen, wartet ein ausgeruht wirkender Opa und wir gehen weiter. Unser Weg führt zu der Ortschaft Niederthai und der Weg dorthin ist eher entspannt. Was zwei Dinge zur Folge hat. Erstens sind wir ziemlich die Einzigen, die hier langlaufen. Das gefällt uns, denn wir sind es nicht gewohnt mit so vielen Leuten, wie bei dem Wasserfall in den Bergen zu sein. Das Alleinsein ist ein wichtiger Bestandteil unserer Wanderungen. Am liebsten auch ohne Zivilisation. Wann hat man das schon? Zweitens macht sich sowohl bei mir als auch bei den Kindern (bei Opa höchstwahrscheinlich nicht) eine gewisse mentale und körperliche Erschöpfung breit. Wir brauchen eine Pause. Laut Beschreibung soll es in Niederthai Lokalitäten geben. Gibt es auch. Von Weitem sieht man ein Lokal. Geil! Wie sich herausstellt, hat es geschlossen. Mist! Warum, weiß keiner. Wir gehen weiter. Leichter Frust macht sich breit. Wir hätten schon gerne eine Pause. Opa spricht ein paar Einheimische an und erfährt, dass wir am besten zum „Grüner“ gehen sollten. Grüner ist einerseits ein Sportladen für alles was der Outdoorsportler haben muss und andererseits auch ein kleines, schlichtes aber nettes Lokal. Und es hat offen! Sauber!!
Wir kriegen einen Platz draußen auf der Terasse und die unfassbar nette Bedienung legt uns erstmal ein paar Felle auf die Sitzbänke und entschuldigt sich, dass die da noch nicht lagen. Also wenn die Österreicher alle so sind, wie das Servicepersonal im Hotel- und Gaststättengewerbe, dann sind sie ein sehr freundliches Volk (vielleicht mit Ausnahme der Busfahrer), von dem sich der Deutsche, an und für sich, auch mal gern ein paar Scheiben abschneiden kann. Wir bestellen Getränke und Kleinigkeiten zu essen und sitzen so auf unseren Fellen und wissen, dass das ein perfekter Moment ist. Unser Blick fällt auf die Strecke, die noch auf uns wartet, zumindest auf den ersten Abschnitt, den man sehen kann und auf eine Wiese mit Lamas. Davor ist ein Schild, das im Prinzip darauf hinweist, dass da Lamas auf der Wiese sind. Und ich sage: „Guckt mal, da sind Lamas auf der Wiese.“ Wäre wahrscheinlich sonst keiner drauf gekommen. Wie gut, dass ich dabei bin.
Und meine Tochter sagt: „Och wie niedlich, guckt mal wie die beiden da spielen.“ Und sie zeigt auf die beiden Exemplare, die hintereinander her laufen. Sieht wirklich sehr lustig aus. Plötzlich stoppt das vordere Lama und das Hintere kann nicht mehr rechtzeitig bremsen. Also kommt es zu einem kleinen Auffahrunfall, oder besser Auflaufunfall. Weswegen das hintere Lama sich auf dem Vorderen abstützt und mit den Hinterbeinen ganz dicht dran stehen bleibt. War knapp, hätte auch ins Auge gehen können. Die beiden bleiben in dieser Position und es scheint ihnen auf seltsame Art zu gefallen. Uih, die werden doch nicht…? Oder doch? Ja, kein Zweifel, die beiden paaren sich hier ungeniert vor aller Augen! Schamloses Gesindel. Ein zweites kopulierendes Paar dieser wollenen und wollüstigen Vierbeiner ist aufgrund der anstrengenden Tätigkeit mittlerweile zu Boden gesunken. Und es scheint so, als wäre man hier dem Höhepunkt des Ganzen sehr nahe. Denn das eine Tier streckt seinen langen Hals in die Luft und macht suppentellergroße Augen. Dabei stößt es merkwürdige Geräusche aus, die irgendwie klingen wie eine Symbiose aus wieherndem Pferd und blökendem Schaf. Wer also schon immer wissen wollte, wie ein Lama klingt, wenn es „kommt“, der hat hier einen anschaulichen Eindruck erhalten. Eine Frau geht mit ihrem kleinen Kind nahe an das Gehege, um das ganze Spektakel aus der Nähe zu betrachten.
Erstaunlich an dem Ganzen ist nicht nur das Geräusch, sondern auch wie lange es zu hören ist. Nach fünf Minuten reckt immer noch der lange Hals mit dem Kopf mit den suppentellergroßen Augen aus dem Gras und es mäht und wiehert immer noch. Oh mein Gott, das arme Tier. Ein Mensch wäre schon tot, oder zumindest eingeschlafen. Wir beginnen zu lachen, weil es auch irgendwie witzig ist. Nach weiteren zehn Minuten, das Spektakel ist immer noch nicht zu Ende, zahlen wir, denn wir wollen weiter. Selbst als wir schon ein paar hundert Meter entfernt sind, gibt das Tier noch keine Ruhe. Wahrscheinlich ist es kurz darauf verglüht, explodiert oder in sich zusammengefallen, man weiß es nicht.
Unser Ziel der Wanderung heißt heute Espan und in der Nähe von Niederthai steht ein Schild, das besagt, dass wir in 2,5 Stunden dort wären. Unterwegs sollen wir die Jausenstation Wiesle erreichen. Eine Jausenstation ist im Prinzip auch eine Art Lokal mit einfachen Speisen und kann gern mal irgendwo in den Wicken stehen. Nach einer Stunde erreichen wir Wiesle und dort steht ein Schild, dass wir in 2,5 Stunden in Espan wären. Ich sag ja, in den Alpen ist nichts, wie es scheint. Die gute Nachricht ist, dass wir von Wiesle über eine Wiese bergab gehen. Wir hatten also vorhin schon den höchsten Punkt erreicht. Vorhin, das war nach Niederthai und rund hundertfünfzig Meter höher als die sich begattenden Lamas. Wir suchen nach einem anderen Weg nach Espan. Einem, der eigentlich eine Stunde kürzer sein müsste. Dabei laufen wir einen großen Bogen, gehen bergauf und kommen nach……Wiesle….hmm, da waren wir ja schon einmal. Also wieder zurück und dann in Richtung Espan.
Und es ist wie immer, vor das Vergnügen hat der Herrgott die Anstrengung gestellt und so haben wir einen kleinen Aufstieg, der aber erträglich ist. Wir erreichen den höchsten Punkt des Tages und sind nur 600m nach oben gegangen. 300 weniger, als wir gedacht hatten. Yeah, das gefällt mir. Das Problem diesmal ist auch ein Stück weit der Abstieg, der über eine längere Strecke steil durch einen Wald führt. Wieder ist alles sehr uneben und schwierig zu laufen. Dafür haben wir aber extrem schöne Ausblicke. Auch auf Berge, die so hoch sind, dass sie im Sommer noch schneebedeckt sind, womit der zweite Wunsch meiner Tochter zumindest in der Ferne, auch in Erfüllung gegangen ist. Der Weg sieht hier ein bisschen aus, wie eine verwunschene Treppe aus „Herr der Ringe“ und ich stelle mir die Frage, was macht man, wenn sich hier einer, meinetwegen das Bein bricht, oder das Knie verdreht? Der Weg ist schmal, steil und scheiße und überall sind Bäume. Also wäre eine Rettung mit dem Hubschrauber nicht möglich. Was also würde man tun, um hier jemanden zu retten? Vor allem, wenn er so schwer ist, wie ich. Doch solange ich auch laufe und nachdenke, ich komme auf keine zufriedenstellende Lösung.
Der Weg wird moderater und ich beginne zu genießen. War gestern noch der Tag mit den besten Aussichten und eigentlich auch der schönste aber auch schwierigste Tag, so ist es heute insgesamt am Entspanntesten. Ich denke zurück an heute morgen und daran, dass ich keinen Blick mehr für die Berge hatte und revidiere mein Urteil. Es ist immer noch beeindruckend und schön, aber leider drückt auch immer ein wenig die Zeit im Hintergrund. Wir wollen heute unbedingt früher im Hotel ankommen, damit wir uns auch ein bisschen sammeln können. Und im Allgemeinen fahren wir immer eine knappe halbe Stunde bis zum jeweiligen Hotel. Also können wir auch die leichteren Momente nicht ausreichend genießen. Aber Spaß macht es immer.
Die Streckenführung ist verwirrend und wir erreichen nicht direkt Espan, sondern einen Ort daneben und laufen noch ein paar hundert Meter bis zur Haltestelle. Heute sind wir in Sölden. Sölden ist mir ein Begriff. Zumindest halbwegs. Es ist wohl so ein Schickimicki Skiort, der Hotspot im Winter und im Sommer augenscheinlich Treffpunkt für Wanderer, Motor- und Fahrradfahrer. Es tummelt sic viel hier und ist somit der krasse Gegensatz zu den eher verschlafenen Orten, in denen wir bisher genächtigt haben. Unser Hotel ist auch so ein hipper Schuppen für den Outdoorsportler. Für den zahlungskräftigen Outdoorsportler. Im Prinzip wie in Oberstdorf, nur mit vier Sternen und somit um einige Klassen besser. Werde wohl meine guten Manieren bei Tisch auspacken müssen. In Sachen Freundlichkeit reiht sich das Personal nahtlos in die Reihe oberfreundlicher Menschen ein, die wir bisher getroffen haben.
Das Zimmer ist eine Wucht und das Bett so ziemlich das bequemste, in dem ich je gelegen habe. Es ist wirklich toll hier. Vom Balkon aus habe ich einen Blick auf den Ameisenhaufen Sölden und die Berge, die überall sind. Mir gefällt es außerordentlich. Das Essen ist……im ersten Moment nicht ganz einfach, denn wir bewegen uns in Regionen der gehobenen Küche. Da kennt man nicht immer jeden Namen. Wie überall haben wir die kleine Auswahl an drei Gerichten, nur wissen wir nicht, was wir da vor uns haben. Ich entscheide mich für eine Art Fisch, dessen Namen ich vorher nie gehört habe. Vorweg gibt es eine Minestrone (lecker) und wie überall auch ein fettes Salatbuffet. Alles außerordentlich lecker. Aber das Hauptgericht hätte gerne etwas größer ausfallen können. Oder aber wenn ich gewusst hätte, dass es das nicht tut, dann hätte ich noch ein paar Tassen Suppe und ein Pfund Salat gegessen. Wie dem auch sei, ich bin zwar nicht ganz satt, aber zufrieden. Den Plan noch einen Absacker zu trinken, lassen wir fallen, als wir sehen, dass man für einen Obstbrand fast sechs Euro haben will. Die Lüneburger sehen wir wieder und wir reden auch immer miteinander. Die Wehrsportgruppe ASI hingegen treffen wir nicht im Hotel und wir sind nicht gerade unglücklich darüber.
Wir besprechen die zwei möglichen Routen für morgen. Eine mit 400 Metern nach oben und 1-100m Abstieg. Und eine mit 800m Aufstieg und 400m Abstieg. Und im Gegensatz zu heute, scheinen die Angaben zu stimmen. Ich muss nicht lange nachdenken, ich hätte gerne den kleinen Aufstieg. Die Tage hinterlassen so langsam ihre Spuren. Leider lässt sich die Abfahrtszeit des Busses, für die kleinere Route nicht mit den Frühstückszeiten vereinbaren, weswegen wir die große Route laufen werden. Wir werden nach Italien kommen und dabei über den mit 2.500m höchsten Punkt unserer Reise erlangen. Ich weiß nicht, ob ich Angst haben soll, oder mich darauf freuen. Die Angst obsiegt. Ich gehe auf mein Zimmer und bevor ich mich in mein saubequemes Bett lege, gehe ich noch einmal auf den Balkon. Es ist fast 22 Uhr und von dem Ameisenhaufen ist nichts mehr zu sehen. Die Straßen sind leer. Nur ein paar vereinzelte Betrunkene stolpern über den Gehweg. Am Himmel leuchten die Sterne und der große Wagen, das einzige Sternbild, das ich kenne, leuchtet direkt neben dem Gipfel des höchsten Berges. Es hat den Anschein, als wenn man von dort die Sterne beinahe anfassen könnte. Habe ich schon irgendwann erwähnt, dass mir die Alpen derart gefallen, dass mir die Worte fehlen und ich lieber schweigen möchte, auch in Gedanken?……Was? Das habe ich? Mehrfach? Wie jetzt, wirklich? Und ich sollte jetzt auch mal wirklich schweigen? Okay, dann mache ich das. Gute Nacht, bis morgen………