Über das Timmelsjoch nach Südtirol
830m nach oben
690m nach unten
Wegstrecke 11km bei 4 Stunden Wanderzeit
Es ist abends, der vierte Wandertag liegt hinter uns. Wir haben gegessen und nun ist Feierabend und ich liege in meinem Doppelbett. Aber ich liege nicht alleine hier in meinem Doppelbett. Wer also liegt neben mir und wie kann ich dem Hasen diesen Umstand erklären? Auch wenn es vielleicht einen Verdacht geben könnte, dass ich meiner unterschwelligen Zuneigung nachgegeben und die ASI Guide mitgenommen habe, um mich ein wenig beschimpfen zu lassen, muss ich diese Möglichkeit entschieden zurückweisen. Denn wir haben diese Gruppe nie wieder gesehen. Vielleicht haben sie sich verlaufen, oder sie haben die fünf Tage in drei Tagen geschafft. Vielleicht aber gehen sie uns auch bewusst aus dem Weg, in der Furcht, dass mein niederer Leistungsstandard schlecht für die Truppe ist und eventuell bei einigen Mitgliedern den Wunsch nach Entschleunigung und Gemütlichkeit aufkommen lassen könnte. Wie dem auch sei, hier in meinem Bett liegt mit mir nicht ihre Gruppenleiterin. Auch nicht Rotkäppchen, der böse Wolf oder die Großmutter. Obwohl Letztere der Wahrheit reichlich nahe kommt, denn ich liege zwar nicht mit Großmutter im Bett, aber mit jemanden, den sie wirklich gut kennt.
Genaugenommen ist es der Großvater meiner Kinder, oder Opa oder mein Schwiegervater. Was den Tatbestand einer heißen Nacht mit einer kühlen Blondine nicht im Mindesten erfüllt. Sein Haar ist nicht blond und über seine innere Temperatur kann ich nur unzureichende Vermutungen anstellen. Ich denke nicht, dass sie aufgrund der Tatsache, dass er zusammen mit mir im Bett liegt, auch nur ansatzweise in die Höhe geschnellt ist. Im Bett mit Schwiegervater ist zuweilen eine leicht bizarre Angelegenheit und ich kann nur mit großer Mühe dem Impuls widerstehen, ihm ein bisschen den Kopf zu kraulen, wie ich es beim Hasen immer so mache. Ich glaube er hätte es auch nicht wirklich verstanden. Mantraartig sage ich mir halb laut, dass ich bitteschön die Hände über der Decke lassen solle. Vor allem aber hoffe ich, dass wir beide morgen früh nicht in einer Löffelchenstellung erwachen. Es würde uns nur in Erklärungsnot bringen. Niemand hat vor hier eine Mauer zu bauen. Aber schaden würde es nicht. Aber welcher unglückselige Umstand hat dazu geführt, dass wir uns hier das Bett teilen? Und warum war die heutige Etappe für mich eine große Niederlage? Diese und viele weitere Fragen, die für die Allgemeinheit nicht von größerem Interesse sind, kann ich vielleicht beantworten, wenn ich den Tagesablauf schildere. Wir beginnen im Hotel in Sölden.
So langsam verschwimmt hier alles. Jeden Tag ein neuer Ort, ein anderes Hotel, ein anderes Bett, ein anderes Frühstück. Es ist mittlerweile so weit, dass ich auf dem Flur falsch abbiege, weil mein Gedächtnis noch bei dem Zimmer vom Vortag ist. Der Eindruck, ein bisschen durch die Alpen gehetzt zu werden, wird immer prägender. Aber diesmal ist das Bett wirklich eine Extraklasse für sich. Selten so gut gelegen. Aber auch selten so schlecht geschlafen. Manchmal verstehe ich mich selbst nicht. Mehr kann man wirklich nicht geboten kriegen, für eine erholsame Nacht und ich kann zunächst nicht einschlafen und bin dann im Stundenrhythmus wach. Um viertel nach fünf mache ich den Fernseher an und zappe missmutig durch die Programme. Natürlich geistert mir die 800er Marke von heute, die wir erwandern wollen, ständig durch den Kopf und als ich dann aufstehe, bin ich kaputt wie nie.
Es ist mir ziemlich egal, wie lecker das Frühstück ist (und es ist wie das Bett, auch echt klasse), ich kriege kaum was runter. Mache mich auf die Suche nach Saft. Da ich kein Kaffeetrinker bin, gibt es für mich in den Hotels morgens immer Saft. Aber hier gibt es keinen. So ein Nobelschuppen und dann dieser Mangel? Ich sehe wohl etwas unterbelichtet aus, wie ich da so suche und einer der netten (wie sie hier in Österreich halt so sind) Kellner fragt, was ich denn zu finden gedenke. „Saft“, sage ich. Und er zeigt mir ein Tablet (also das Computerdingens), das mit einem Touch Pad zu bedienen ist. Und ich habe plötzlich die Auswahl. Vier Säfte. Vier Säfte in einem Tablet? Die Wissenschaft steht vor einem Rätsel und ich vor einem Wunder. Welch Zauberei bring das Tablet dazu, Saft in mein Glas zu füllen. Genaugenommen macht dies ein Zapfhahn, der neben dem Tablet ist. Aber wie weiß der Zapfhahn, welchen Saft er zapfhahnen soll? Das Wunder ist im Schrank darunter. Da sind vier Kanister mit Fruchtsirup, der nach oben gepumpt und mit Wasser verdünnt wird. Und da ist dann der Zapfhahn aus dem der ausgewählte Saft strömt. Ich brauche keine Auswahl. Schon gar nicht am frühen morgen. Hauptsache er schmeckt. Ich nehme Apfelsaft und natürlich schmeckt er ebenso erlesen, wie das Bett gut ist. Aber auch der Saft rinnt eher freudlos durch meine Kehle. Es ist nicht so, dass mir nichts schmeckt, es ist mir nur irgendwie egal. Der Start in den Tag ist nicht gut. Überhaupt nicht gut.
Das Hotel heißt übrigens Bäckelar Wirt und ist nicht so urig, wie es vom Namen her klingt. Aber schön ist es, soviel ist mal sicher. Es hatte gestern übrigens das erste Mal mit den Einzelzimmern geklappt. Aber nur, weil die Wirtin von der „Traube“ so nett war, das für uns zu managen. Daher kommt Opa auf den genialen Einfall, heute beim Bäckelar Wirt zu fragen, ob man das von hier aus für unsere nächste Übernachtung auch regeln könne. Die nette junge Dame vom Empfang hat da überhaupt kein Problem mit. Sie wird da anrufen und wir haben für abends ein Problem weniger. Wenigstens ein Lichtblick, bei dem Tagespensum, das uns erwartet.
Die Höhenangaben scheinen zu stimmen, aber die vier Stunden Wanderzeit sind völlig aus der Luft gegriffen und selbst für einen Vorzeigesportler nicht machbar, das wird auch dem Blödesten klar. Da ich schon große Bedenken angemeldet habe und der Rest von uns auch keine Lust hat, wieder viel länger zu wandern als angegeben und weil wir noch eine lange Busfahrt zum Abend hin haben, kommen wir auf einen Kompromiss. Das Timmelsjoch ist der Grenzpass zu Italien und der höchste Punkt des Tages und der gesamten Alpentour. Da eine offizielle Straße dahin führt, gibt es dort auch eine Bushaltestelle. Wir beschließen also, von der Grenze an mit einem Bus talwärts zu fahren. Wir sparen uns also den langen Abstieg, vor dem besonders meine Tochter einen Heidenrespekt hat. Nach oben hin, wollen wir aber wandern.
Ich erspare mir und allen Lesern nun eine detaillierte Schilderung der ersten Hälfte unserer Wanderung, denn eigentlich ist alles gesagt und mit den anderen Tagen vergleichbar. Ich habe Opa nun völlig frei gelassen. Er war sonst immer bei mir geblieben, weil…tja ich weiß auch nicht warum. Vielleicht wollte er mich nicht so allein lassen. Heute aber bin ich noch langsamer und er zieht von dannen. Beinahe so schnell wie die Kinder. Ich bin wirklich zermürbt. Keine kleine Pause bringt Linderung. Keine Verlangsamung der Schritte hilft. Es gab zwar noch keine Schokacola, aber ich habe nicht das Gefühl, als würde sie helfen. Wir laufen ein Stück weit parallel zur Straße und dann überqueren wir sie. Drüben ist ein großer Platz an dessen Rand das sogenannte „Schmugglerdenkmal“ steht. Mir ist das Teil aber ziemlich egal. Ich interessiere mich nur für die Bank, die davor steht.
Das eigentliche Highlight aber ist, dass es hier eine Bushaltestelle gibt. Und wie es der Zufall so will, kommt in ungefähr einer dreiviertel Stunde ein Bus, der bis zum Timmelsjoch fährt. Und ich muss nicht lange nachdenken, ich werde ihn nehmen. 400 Höhenmeter, die noch vor uns liegen, würde ich beim besten Willen nicht mehr schaffen. Außerdem habe ich dem Hasen und allen Ärzten, mit denen ich zu tun habe, versprochen, meine Grenzen anzuerkennen. Und hier ist sie nun. Ich darf vorstellen: „Meine Grenze“ und das so kurz vor der Grenze (nach Italien). Eigentlich auch irgendwie scheiße, aber wenn nichts mehr geht, dann geht halt nichts mehr. Niemand von den anderen ist deswegen in irgendeiner Weise von mir enttäuscht oder dergleichen, aber natürlich nagt es an mir. Ich hätte es wirklich gerne komplett geschafft. Aber ich möchte genauso gerne morgen, auf unserer letzten Etappe mitlaufen können. Die anderen laufen weiter. Wir sehen uns ja schließlich oben wieder und der Bus braucht nur eine viertel Stunde. Zu Fuß sind es mindestens anderthalb Stunden.
Ich bleibe also auf dem großen Platz und beobachte den munteren Verkehr, der hier hoch und runter führt. Erstaunlicherweise ist hier jeder zweite Fahrer ein Mountainbiker und noch erstaunlicher ist, dass die meisten von ihnen keinen elektrischen Hilfsmotor haben (die Hälfte von den Mountainbikes natürlich). Am erstaunlichsten ist, dass die meisten von ihnen entweder so alt sind wie ich, oder noch älter (die meisten der Radler). Und alle sind sie fit, drahtig und vor allem ausdauernd genug, um hier den Berg hochzukommen. Was bin ich nur für eine Flasche.
Der Bus kommt mit einer Verspätung von fast zwanzig Minuten und bringt mich auf das Timmelsjoch. Oben angekommen, steige ich aus dem Bus und bekomme die Meldung auf meinem Handy, dass man mich in Italien willkommen heißt. Ich bin also zum ersten Mal in meinem Leben in Italien. Sieht aber im ersten Moment nicht anders aus als Österreich. Hier oben ist auch ein großer geteerter Platz und eine Lokalität und ein paar Aussichtspunkte, zu denen man hochgehen kann. Ich laufe ein paar Schritte, da bekomme ich die Meldung, dass man mich in Österreich willkommen heißt. Man ist sich offensichtlich nicht einig, wer mich haben möchte. „Nimm Du ihn!“ „Nein, nimm Du ihn!“ „Aber der ist nicht mal den Berg hochgewandert, sondern mit dem Bus gefahren, den wollen wir nicht mehr!“ „Aber wir wollen ihn auch nicht!“ Man verzichtet auf das „Herzlich willkommen“.
Ich ignoriere die „Grenzstreitigkeiten“ und sehe mich um. In 2.500m ist man jenseits der Baumgrenze und deshalb ist die Landschaft ganz anders als bisher. Alles ist karg und felsig, abgesehen von Gras wächst hier nicht mehr viel. Ich bekomme Blicke zu den etwas anderen Alpen, als bisher. Alles ist hier viel höher und mächtiger. Ich fühle mich winzig und gleichzeitig großartig, denn ich war noch nie in einer Höhe von 2.500m. Ist hier schon der Bereich wo die Luft dünner wird? Ich jedenfalls werde nicht dünner. Übrigens die ganze Zeit hier in den Alpen nicht. Ich esse tagsüber kaum, trinke tagsüber eigentlich nur Wasser und ich bewege mich wie noch nie in meinem Leben, habe aber trotzdem das Gefühl, dass der Bauch eher dicker wird. Ich habe die ersten Bilder gesehen und war geschockt. Verstärkt durch den Hüft- oder Bauchgurt vom Rucksack, der leider direkt unterhalb meines Bauches sich in meinen fleischigen Körper schnürt, sieht es so aus, als wenn ich einen Medizinball verschluckt hätte. Budda ist schlank gegen mich. Budda würde in meinen Bauch passen. Die nächste große Schlagzeile in meinem Leben: „Mann hat Budda verschluckt!“ und dazu die Unterzeile: „…er hatte ihn mit einem Medizinball verwechselt!“ Eigentlich verwundert es mich dann doch nicht, dass ich diese, meine Massen heute nicht den Berg hochgekriegt habe. Das ist das Massenträgheitsgesetz, wie ich vermute.
Es ist wirklich beeindruckend schön hier oben, aber ohne meine Mannschaft ist das alles nur die halbe Freude. Sie fehlen mir. Es sind viele Menschen hier oben, aber die drei richtigen sind nicht dabei. Dafür entdecke ich ein Schneefeld. Der Traum meiner Tochter, im Sommer auf einem Berg mit Schnee zu sein, wird sich erfüllen. Mein Traum, dass ich auf mystische Weise einen Energieschub bekomme, hingegen nicht. Ich kann weit talwärts sehen und versuche die anderen zu entdecken. Ich möchte ihnen entgegen gehen, obwohl ich vermute, dass ich dann den Aufstieg zurück kaum schaffen werde. Es sind viele Wanderer unterwegs. Schließlich ist dieser Grenzpass auch eine Attraktion und die lockt nunmal viele Menschen an. Manche wandern, andere fahren mit dem Bus. Wüsste aber niemanden, der so etwas macht…
In der Ferne, ein Stück weit nach unten, erkenne ich meine Tochter und ich laufe ihr entgegen. Bergab geht das auch einfach. Ich erreiche sie und bin froh, nicht mehr allein zu sein. Sie ist heute mal in Führung gegangen und hat ihren pfeilschnellen Bruder sogar etwas abgehängt. „Wenn ich ein Ziel vor Augen habe, dann habe ich auch mehr Energie und dann möchte ich schnell dahin kommen“, sagt sie und geht weiter. Ja, lauf Du nur, denke ich. Junior ist auch schon da und Opa auf dem Weg. Er muss noch zwei Männer, die jeweils mit einem Pferd, das sie am Zügel führen, hier zu Fuß hochgehen. Die Männer sind natürlich relativ alt und drahtig und die Pferde haben vier Beine. Deshalb sind Mensch und Tier an dieser Stelle auch flott unterwegs. Vielleicht sollte ich mir auch ein Pferd zulegen, das muss dann aber mich ziehen.
Als Opa uns erreicht, gehen wir anderen wieder nach oben. Natürlich hänge ich auch hier hinterher. Oben am Timmelsjoch beschließen wir, dass wir uns erst umsehen, bevor wir uns in die Lokalität begeben. Andersrum wäre mir zwar lieber, aber ich bin nicht in der Position hier Extrawürste haben zu wollen. Auf den drei, vier Aussichtspunkten stehen neben einer Hütte auch ein paar Kunstwerke. Installationen, die uns mit einem großen Frageeichen zurücklassen. So wie es halt ist, mit der modernen Kunst. Ich habe da meine Verständnisprobleme und die habe ich vererbt. Auch Opa erkennt nicht jeden Sinn hinter jedem Objekt. Wir sind uns einig als Kulturbanausen.
Allein das Begehen der kleinen Aussichtspunkte ergibt über 40 Höhenmeter und wenn man dazu addiert, dass ich den anderen auch noch entgegen gegangen bin, ist meine Bilanz nicht so ganz im Eimer. Wir setzen uns auf die Terrasse des Lokals und es ist recht kalt hier oben. Der zweite Moment in den Bergen, an dem ich meine Jacke anziehe. Der erste war bei der Anhalterhütte. Wir bestellen Getränke und Suppe ohne Würstchen. Nicht dass wir jetzt plötzlich Vegetarier geworden sind, aber mit Würstchen ist zwei Euro teurer. Wir bekommen Suppe mit Würstchen. Wir haben aber mit ohne Würstchen bestellt. Man nimmt die Suppe wieder mit. Und bringt uns neue, ohne Würstchen. Eine Art fünf Minuten Terrine, die billig erscheint, dafür aber nicht billig ist, aber im Endeffekt sehr gut tut. In der Suppe meines Sohnes schwimmt etwas weiter unten noch ein Stück Würstchen. Ich überlege, ob wir diese Aufwertung der Suppe melden und den Fehlbetrag entrichten müssten.
Wir warten auf den Bus, der uns talwärts nach Italien bringen wird. Ich blicke mich noch einmal um. Wann wird man schon wieder so weit oben stehen? Wann werde ich Österreich wieder sehen? Im stillen verabschiede ich mit von diesem Land, mit den netten Leuten. In der Ferne sind Berge, die noch einiges höher sind, als diese 2.500m und dahinter sind dunkle Wolken, die noch weit über diesen Bergen sind. Wie ich herausfinde, sind es keine Wolken, sondern noch weitere Berge. Ob das schon die Hochalpen sind? Mir Höhen jenseits der 4.000er Marke? Mit dem, in den Bergen üblichen, Gefühl von Angst und Neugier, überlege ich, wie es wohl wäre, da hochzugehen. Momentan obsiegt die Angst, aber wer weiß, was irgendwann einmal geht. Wir warten noch auf den Bus und es wird langsam kalt. Ich glaube wir sind hier bei unter 10 Grad. Da höre selbst ich auf zu schwitzen und das ist ein Zeichen.
Der Bus fährt mit uns die bisher interessanteste Strecke. Wir müssen in Italien rund 1.000m abwärts und gefühlt geht es neben der Straße auch direkt so weit runter. Serpentinen schlängeln sich hinunter und man ist immer am Rand des Abgrunds und gerade aus der erhöhten Position im Bus hat man den Eindruck, als würde man auch ein Stückchen über dem Rand fahren. Es ist so etwas wie Paragliding mit Rädern unten dran. Das wäre des Hasens Lieblingsstrecke. Der Hase liebt steil abfallende Straßen und besonders dann, wenn jemand anders sie fährt. Das war natürlich etwas ironisch und gerade ein fremder Fahrer weckt im Hasen ein gewisses Misstrauen, das sie immer überfällt, wenn sie nicht die totale Kontrolle hat. Dann doch lieber selbst fahren. Aber nicht hier und nicht jetzt. Wahrscheinlich würde sie im Anflug einer mittelschweren Panik in meinen Arm kneifen und pausenlos sagen, dass wir alle sterben würden.
Natürlich hat man auch hier einen Alpenpanoramablick, der besonders schönen Sorte. Italien heißt mich, oder besser uns, eindrucksvoll willkommen. Wir müssen einmal umsteigen und als wir an der ersten Haltestelle ankommen, viele hundert Meter unter dem Timelsjoch ist es mit 29°C fast dreimal so warm. Nach einem kleinen Hickhack, bei dem keiner der Reisenden genau weiß, wie es weiter geht, kommt der nächste Bus und wir fahren noch eine halbe Stunde bis zu unserem Zielort.
Kurz vor dem Eintreffen klingelt Opas Handy. Eine Grundregel besagt, wenn Dein Handy klingelt, während Du im Urlaub bist, dann gibt es keine guten Nachrichten. Niemand ruft Dich im Urlaub an, um zu sagen, dass zu Hause das Wetter auch schön ist. Opa sitzt etwas abseits, weswegen wir nicht genau mitkriegen, was gesprochen wird. Großvater wirkt jedenfalls mal so rein gar nicht begeistert. Auch wenn man den Wortlaut nicht verstehen kann, wird deutlich, dass es unterschiedliche Meinungen zu einem Thema gibt. Das Gespräch ist beendet und Opa sagt: „Herr Daus, Du hast heute das Vergnügen, mit mir das Bett zu teilen.“ Man sieht uns beiden sofort an, dass die Freude über diesen Tatbestand keine Grenzen kennt.
Das Hotel heißt Alpenblick und macht seinem Namen wirklich alle Ehre, denn man blickt aus dem Fenster heraus auf, na wie sollte es sonst auch sein, die Alpen. Eine recht hohe Alpe, die an den Ort grenzt und gefühlt bis auf den Balkon reicht, auch wenn da einige Häuser und ein paar Straßen dazwischen liegen. Oben liegt Schnee und es sammeln sich ein paar Wolken an dem Gipfel. Wahrscheinlich kriegt man hier auch nachts einen Alp(en)traum. Das Hotel ist rustikal und ein bisschen in die Jahre gekommen, aber immer noch voll ok. Obwohl die Kinder entsetzt darüber sind, dass die Spülung der Toilette mit einer Art Drehhebel geregelt wird. Sie kennen diese Bewegung bei dieser Gelegenheit nicht. Das Abendessen ist anständig und die Getränke um einiges günstiger als in Sölden. Weswegen es auch einen Obstler gibt. Ich habe für mich die Lösung des Rätsels gefunden, warum ich heute meinen Leistungseinbruch hatte. Obstlermangel.
Nein, es war ein Hungerast (Gesprochen wird das Hunger Ast). Ich hatte einen Hungerast. Der berühmte Radfaherer Jan Ullrich hatte auf einer Tour de France Bergetappe einst einen totalen Leistungsabfall und kam seinerzeit kaum noch vom Fleck. Er war körperlich komplett ausgebrannt und wie sich später herausstellte, hatte er nicht genug Energie getankt und deswegen war der Köper „überhungrig“, wenn man so will. Die Parallelen zu mir sind eindeutig und ich nehme mir vor, dass mir das nicht wieder passieren wird. Also stelle ich mich beim Abendessen beim Salat auch zweimal an und nehme mir schon große Portionen. Eigentlich bin ich deswegen, wenn man die Vorspeise dazurechnet, schon vor dem Hauptgang satt, aber in den Medizinball passt erstaunlich viel rein. Also esse ich unbeirrt weiter. Dazu ein Bierchen und den Obstler, das Dessert. Ich bin wieder glücklich. Wenn man schon nicht wandern kann, dann soll man wenigsten gut essen können. Ich habe da eine eindeutige Verteilung meiner Talente.
Das Bett ist sehr niedrig und sehr weich. Zwei Komponenten, die mir rein gar nicht zusagen. Außerdem liegt neben mir mein Schwiegervater. Die Zeichen stehen nicht gut dafür, dass ich eine angenehme und erholsame Nacht verbringen werde. Wir löschen das Licht und ich verkneife es mir „Gute Nacht Schatz“, zu sagen und lausche den gleichmäßigen Atem von Opa und hoffe für ihn, dass ich nicht allzu sehr schnarchen werde. Es ist die vorletzte Nacht auf unserer Reise, meine erste Nacht in Italien und ich hoffe, dass ich diesmal ein bisschen besser schlafen kann, als in Sölden.