Tag 3 Wanderung 2 Über die Anhalter Hütte zum Hahntennjoch
950m hoch und 400m runter Zeitvorgabe 5,5 Stunden bei 10km
Obwohl das Bett gemütlich, das Zimmer geräumig und alle anderen Gegebenheiten sehr gut sind, habe ich eher schlecht geschlafen. Vielleicht musste ich die Eindrücke von gestern noch verdauen. Vielleicht auch, weil mich eine unlösbare mathematische Aufgabe einfach nicht loslässt. Wie kann es angehen, dass für eine wesentlich höher verlaufende Strecke heute, die gleiche Zeit von gestern angenommen wird? Ich bin ja auch immer ein bisschen blöd, aber irgendwie passt das Ganze nicht zusammen. Außerdem befürchte ich Schlimmes. Mit 950 Höhenmetern, die zu erwarten sind, ist nicht zu spaßen. Wenn man bedenkt, dass ich gestern bei 700 Höhenmetern schon so meine Probleme hatte, müsste ich heute nach aller Voraussicht verenden. Ich habe mal überschlagen, dass ich in etwa 243 mal unsere Treppe zu Hause hoch gehen muss. Dimensionen, die mir eigentlich Angst machen müssten. Bilder entstehen in meinem Kopf, in denen ich ermattet am Wegesrand liege und verzweifelt zu den anderen sage: „Lasst mich liegen. Geht ohne mich weiter!“ Und sie lassen mich liegen und hören auf mich (seit wann das denn?) und gehen weiter. Irgendwie sind sie dabei auch ein bisschen erleichtert und ich höre ein leises „Endlich!“ von einem meiner Mitwanderer. Wer von solchen Visionen geplagt wird, der schläft halt auch mal schlecht.
Ich erwache um halb sechs, lange bevor ich erwachen müsste und versuche etwas Ordnung in das große Chaos in meinem Zimmer zu bekommen. Überall hängen nasse Sachen von gestern, die nur ansatzweise getrocknet sind. Hastig knülle ich alles zusammen und versuche den Koffer zu schließen, der allerdings anderer Meinung ist und so bleibt ein Spalt offen. Ich föhne die Wanderschuhe von innen, weil sie auch nass sind. Mit eher verhaltenem Erfolg. Mehrfach schaltet sich der Föhn wegen Überlastung ab. Am Ende ist die Sohle innen warm und feucht. So wie meine Füße es lieben.
Ich bin ein bisschen gerädert, als ich zum Frühstück gehe. Habe mir vorgenommen, die ASI Tante vorurteilsfrei zu betrachten. Wir hatten halt keinen guten Start und der Tag war ja auch für keinen einfach. Werde sie also nicht mehr in Gedanken „blöde Gans“ nennen. Im Frühstücksraum sitzen dann das nette Paar und ich sage „Moin.“ und sie sagen „Moin.“ und lächeln dabei. Und dann sitzt die geleitete Gruppe und ich sage „Moin.“ und es kommt ein gequetschtes „Moin“ zurück. Die scheinen nicht zum Spaß hier zu sein. Frau Guide sitzt auch da und scheint gerade aus dem Keller zu kommen. Da geht sie nämlich hin, wenn sie lachen möchte. Vermute ich zumindest.
Das Frühstück ist sehr gut und somit um Längen besser, als gestern in Oberstdorf. Das Rührei hat keine Gummianteile und ist zur Abwechslung auch mal gewürzt. Die Brötchen sind nicht pappig und der Aufschnitt gut. Und auch sonst gibt es alles, was ein Frühstückerherz gerne hat. Sogar Kuchen. Großvater und Tochter sind bei uns so etwas wie das Planungskomitee. Beide studieren abends auf dem Zimmer die Busfahrpläne und Wanderkarten. Jeder für sich und Junior und ich sind die willigen Befehlsempfänger, die immer ahnungslos darauf vertrauen, dass die beiden schon alles richtig planen. Die Hinfahrt heute geht nach Bschlabs. Ein Wort, das man eigentlich nur mit ein paar Schnaps aussprechen kann. Wir fahren nicht mit öffentlichen Bussen, sondern mit einem von ASI gecharterten Kleinbus. Gleichzeitig wird unser Gepäck auch auf den Weg gebracht. Abfahrt ist 8.30 Uhr.
Um 8.23 bin ich unten und stelle meinen Koffer zu allen anderen Koffern. Aus Höflichkeit habe ich meine dreckigen Wanderschuhe noch nicht angezogen und hole dies nun unten nach. Ich bin gerade dabei meine zweite Schleife zu binden, als mich von hinten die zackige und unfreundliche Ansage ereilt: “ Es ist jetzt 8.29 Uhr, Abfahrt ist um 8.30 Uhr und wir müssen pünktlich sein!“ Unfreundlich und zackig? Moment, da kenn ich doch wen. Ich muss mich gar nicht umdrehen, um zu wissen, wer da gerade in meine Richtung schnattert. Genau, die blöde Gans. Wenn die mit dem Gepäck mal genauso pünktlich gewesen wären, denke ich und binde schnell weiter, bevor ich noch hinten am Bus angebunden werde. Wir vier empören uns ein bisschen über die Tante. Gestern war ihr noch alles irgendwie scheißegal und heute macht sie einen auf Kompaniefeldwebel. Ich mein, es ist ja nicht so, dass einer von uns noch im Bett liegt. oder so. Wir sind doch alle hier und es ist klar erkenntlich, dass wir zu 99,98% abreisebereit sind. Warum also die Aufregung? Ich habe den Verdacht, dass sie Individualwanderer (also Leute wie wir, die ohne Guide durch die Berge gehen) grundsätzlich nicht ausstehen kann. Zu dem anderen Pärchen ist sich auch nicht freundlicher. Wahrscheinlich denkt sie, dass wir ahnungslose Spinner sind, die riskanterweise durch die Alpen stolpern. Sie weiß natürlich nicht, dass wir Großvater dabei haben, der wirklich erfahren ist, aber das muss ich ihr nun nicht erklären. Soll sie uns einfach nicht mögen.
Da wir nicht mit einem öffentlichen, sondern einem gecharterten Bus fahren, habe ich die Hoffnung, dass ich diesmal ohne Schleudertrauma ans Ziel gelangen könnte. Umsonst gehofft, denn der Zivilkollege der öffentlichen Busfahrer schaltet sprichwörtlich noch einen Gang höher. Nahe an der Grenze des physikalisch Machbaren heizt der (wahrscheinlich von der blöden Gans angetriebene) Höllenfahrer durch die Alpen, die ich vielleicht nie wieder zu sehen bekommen werde, wenn wir von der Fahrbahn abkommen und frei in irgendeine der megatiefen Schluchten fallen, in die ich ungebremsten Einblick habe, wenn ich so aus dem Fenster sehe. Beeindruckend und bedrückend. So widersprüchlich vom Gefühl her, wie so vieles in den Alpen.
Wir erreichen Bschlaps und trotz des möglichen Reimes, gibt es hier keinen Schnaps. Eigentlich gibt es hier gar nichts. Es ist nur eine Bushaltestelle und als solche nicht annähernd so komfortabel wie ihr Pendant von gestern. Die geführte Gruppe hat noch eine Vorbesprechung. Oder sollte man sagen, es gibt die Befehlsausgabe? In meiner Vorstellung sagt die Führerin so Sachen wie : “ Abmarsch um neunhundert, unterwegs ist keine Rast befohlen und wer zurückbleibt, wird den wilden Tieren überlassen!“ Aber das ist nur meine Vermutung. Eine andere Gruppe, die wir nicht kennen, ist schon auf dem Weg. Ein Weg der es gleich am Anfang schon in sich hat. Hier werden keine Gefangenen gemacht. Gefühlt geht es auf den ersten 250 Metern schon 60 Meter nach oben. Meine Beine, die den gestrigen Marsch noch in sich haben, kriegen die volle Breitseite und sie sind nicht glücklich darüber.
Eine erste flachere Stelle kommt in Sicht. Dort steht die andere Gruppe. Man unterhält sich und als Ergebnis geht eine gefrustet wirkende junge Frau, die figürlich eher meine Kragenweite, also beileibe keine Elfe ist, wieder nach unten. Ich denke sie hat entweder die Nase voll, oder ihre Gruppe hat von ihr die Nase voll, weil sie so langsam ist. Ich danke dem Herrn, dass wir keine geleitete Gruppe sind und die anderen sehr rücksichtsvoll mir gegenüber. Ich stelle mir die ernsthafte und nicht ganz unberechtigte Frage, wie man in einer geleiteten Gruppe mit mir verfahren würde. Ich bin mit Abstand der langsamste Wanderer in den Bergen. Wahrscheinlich der Langsamste, der je die Alpen überquert hat und wie will man da eine Gruppendynamik herstellen, die allen Wünschen gerecht würde. Man müsste mich ausschließen und ich hätte sogar Verständnis dafür. Auch bei der Gans.
Die flache Stelle ist schneller vorbei als ich zweimal Hochgebirgswanderweg sagen könnte. Wir laufen im bewaldeten Bereich und das ziemlich senkrecht. Was den großen Vorteil hat, dass wir auch ein paar Höhenmeter schaffen. Was man morgens weghaut ist das, was einen abends nicht mehr umhaut. Aber es macht auch nur ansatzweise Spaß. Es ist ja gar nicht so schlimm. dass es steil ist. Schlimm ist nur, dass es auch steil bleibt, wenn man es eigentlich nicht mehr möchte. Hinter jeder Kurve wartet eine neue Überraschung und keine davon ist gut. Meine Zündschnur ist definitiv kürzer als gestern und ich brauch sehr häufig kleine Pausen. Und ich nehme sie mir. Das habe ich meinem Kardiologen und dem Hasen versprochen.
Die mobile Eingreiftruppe vom ASI mit der blöden Gans hat uns schon vor geraumer Zeit überholt. Sie mit verschränkten Armen vorweg und ohne Stöcke. Wie auch andere Mitläufer bei ihr ohne Stöcke sind. Mir unbegreiflich. Ich hätte mich schon mindestens zehnmal aufs Mett gepackt, wenn ich die Dinger nicht hätte. Denn die Wege sind vor allem häufig eins: total uneben und nicht einfach zu bewandern. Entweder sind es große und halbgroße Steine, die wild angeordnet keinen geraden Quadratzentimeter bilden, oder aber viele Wurzeln, vor denen uns Opa von vornherein immer gewarnt hat. Glatt seien sie und man solle nicht drauftreten, hat er gesagt. Lässt sich nur nicht immer vermeiden, wenn da mehr Wurzeln sind, als Sand. Jeder Schritt ist hier gefühlt ein potentieller Bänderriss. Und auch hier höre ich grundsätzlich auf Opa, der gesagt hat: „Wenn man in den Bergen ist, muss man permanent hinsehen, wo man hintritt. Wer die Aussicht genießen will, sollte eine Pause machen.“ Und es ist wirklich so. Zu meinen körperlichen Beanspruchungen kommt also noch erschwerend hinzu, dass ich die ganze Zeit hochkonzentriert bleiben muss. Es könnte sonst auch gefährlich werden. Und das ist kein Scherz,
Wir kommen auf eine ebenere Strecke und wandern hoch über eine Schlucht, durch die ein wilder Fluss fließt. Davon gibt es hier reichlich…überall sind Wildflüsse und Wildbäche und an jedem zweiten Felsen läuft Wasser herunter. Die Schönheit der Landschaft haut mich mal wieder aus den Socken und ich kann gar nicht verstehen, dass es Leute gibt, die hier jammern, wie steil es zeitweise ist und wie anstrengend Wanderungen hier sein könnten. Ich kenne da niemanden, der das machen würde. Und dann kommen wir wieder um eine Kurve herum und erhalten den atemberaubenden Anblick einer Hochebene, über der wir sehr weit erhöht stehen und in der Ferne türmen sich am Rand der Ebene wieder Berge auf, genauso wie zu ihren beiden Seiten und es ist erstaunlich viel Grün überall. Zu wissen, dass man all das nur zu sehen bekommt, wenn man hierher wandert, lässt es noch wertvoller entscheiden. Ich bin bemüht es für mich zu speichern in irgendeinem Archiv in meinem Kopf, denn ich weiß, dass es kein Foto geben wird, das auch nur ansatzweise das Gefühl wiedergeben kann, das ich bei diesem Anblick habe. Wie beschreibt man diese Schönheit? Vielleicht als das genaue Gegenteil von dem, was ich jeden morgen im Ganzkörperspiegel in den Hotels zu sehen bekomme. Hier stimmen die Proportionen und alles ergibt zusammen etwas Einmaliges und wunderschönes. Dinge also von denen mein Spiegelbild meilenweit entfernt ist.
Die Hochebene mit ihrem grüneren Gras, als Gras es eigentlich sein kann, liegt weit unter uns. Der Nachteil ist, wir müssen da runter. Und so folgt ein umfangreicher Abstieg. Wieder beginne ich zu rechnen, denn die Angaben der zu wandernden Höhenmeter ergeben sich aus dem jeweiligen Höhenunterschied der einzelnen Punkte. Also wenn wir bei 1.250m Höhe starten, dann ist der höchste Punkt heute bei rund 2.200 Meter, so mal als Beispiel. Und wenn man nun zwischendurch einige Dutzend Meter runter geht, dann muss man die an anderer Stelle wieder hochgehen. Man läuft diesen Anstieg also doppelt. Und so werden aus 950 Metern mal ganz schnell 1.000 Meter. Was es noch wesentlich unwahrscheinlicher erscheinen lässt, die angegebene Zeit einhalten zu können. Es wird länger dauern als gestern. So viel kann man jetzt schon sagen. Und was ist, wenn ich schlappmache? Ich frage mich das immer wieder ernsthaft.
Wir erreichen die Ebene nach einem mittelschwerem Abstieg und laufen auf ihr entlang. Mitten in der Ebene ist ein wilder Fluss, über den wir auch müssen. Und da wird es etwas undurchsichtig. Unser erstes Etappenziel ist die Anhalterhütte und von der Ebene aus kann man auch eine Hütte auf einem Hügel in einer einigermaßen halbwegs großen Entfernung sehen. Und meine Tochter und ich üben uns darin, zu schätzen, wie weit und wie hoch sie ist. Eigentlich müsste sie, laut Kartenmaterial von unserem Punkt aus, noch knapp 400m höher sein. Und wenn ich nicht vollkommen verblödet bin, dann sind das was ich sehe, höchstens noch 150m. Die Entfernung kann man nicht schätzen, weil eigentlich nie irgendein direkter Weg zu irgendeinem Punkt führt. Und meine Tochter sieht das übrigens ähnlich. Sie meint, wir müssten noch ca. 200m zur Hütte hoch.
Jedenfalls müssen wir den Fluss queren, um dem Weg, der markiert wurde, zu folgen. Der Weg ist übrigens ansonsten immer sehr gut sichtbar markiert. Wenn man aber auf der anderen Seite des Flusses bleibt, dann läuft man gefühlt direkt durch die Ebene in die richtige Richtung. Ist aber nicht der offizielle Weg. Was also machen? Die Kinder bleiben auf der einen Flussseite und ich wandere mit Opa den offiziellen Weg, der auch wieder in ein Waldstück führt und von dem man nicht viel sieht. Hätte ich es gesehen, wäre ich nicht da lang gelaufen. Während die Kinder schweinegemütlich und ziemlich flach, beinahe waagerecht möchte ich sagen, über diese phantastisch grüne Ebene spazieren, lege ich mit Opa eine Klettereinheit der etwas ungemütlichen Art ein. Steigungen wie bei unserem Anfang von heute morgen, plagen mich und überall Wurzeln und Steine und zur Belohnung wird es noch steiler. Was zum Geier soll das? Wir sehen die Kinder, wie sie immer kleiner werden und immer noch auf ebener Fläche wandern und ich wäre so gerne jetzt bei ihnen.
Das Problem ist, dass die Beschaffenheit des Geländes die Vermutung aufkommen lässt, dass wir, also Opa und ich, auch wieder bergab laufen müssen, um dann wieder auf die Ebene zu gelangen, auf der die Kinder die ganze Zeit geblieben sind. Opa meint, das wäre nicht so und wir würden uns weit oben mit den Kindern treffen. Ich mag es manchmal nicht, wenn ich Recht behalte. Wir steigen also wieder von unserer Anhöhe, die, grob geschätzt, rund 80m über der Ebene ist, hinunter auf die Ebene und treffen auf zwei tiefenentspannte Kinder. Ich bin also den ganzen Kram umsonst hoch. Aber es war wirklich er offizielle Weg. Ich glaube da verarschen die die Bergtouristen. So eine Art Idiotenhügel. Und ich war natürlich drauf. Opa, der auch auf dem Hügel war, zeigt allerdings nicht die geringsten Ermüdungserscheinungen. Ich glaube es hat ihm sogar Spaß gemacht, die Extraeinheit gemacht zu haben. Er ist ansonsten aber ein sehr netter Mensch.
Wir gehen weiter und müssen die Fluss jetzt noch einmal überqueren. Und das ist wirklich so, wie es in einem Outdoormagazin aussehen würde. Das klare Wasser, die großen Steine und die Wanderer, die sich den besten Weg über den eigentlich hier eher kleinen Wildbach suchen müssen. Dazu noch ein richtig gutes Wetter und im Hintergrund ein atemberaubendes Alpenpanorama. Und überall Kühe. Man ist fast zweitausend Meter über Null und muss aufpassen, dass man nicht in irgendeinen Kuhfladen tritt. Außerdem zu sehen, viele Pferde, die hier völlig frei über die steilen Wiesen galoppieren und ein paar Esel. Einer sieht mir zum Verwechseln ähnlich. Wir schauen uns noch eine Weile tief in die Augen, der Esel und ich, und dann gehe ich weiter.
Am Rande der Ebene sind ein paar große Felsen, die zum Verweilen einladen. Wir machen Rast und ich bin froh, den blöden Rucksack endlich von den Schultern nehmen zu können. Alles was Recht ist, aber wenn man mich fragen würde, mir täte es bis hierhin auch schon reichen. Mühsam krame ich ein paar Kleinigkeiten zu essen aus dem Rucksack und stelle wieder einmal fest, dass ich eigentlich gar keinen Hunger habe. Mir ist aber klar, dass ich schwitze wie ein Ochse und für meine Verhältnisse auf oberstem körperlichen Niveau stundenlang unterwegs bin und dass ich dabei natürlich eine Menge Energie verbrauche und die muss eigentlich auch wieder zugeführt werden. Aber was will man machen, wenn man keinen Hunger hat?
Bei so einer Pause nimmt man sich auch ein bisschen Zeit, für eine Art Zwischenresümee und auch wenn ich hier immer in meinem körperlichen Grenzbereich unterwegs bin, gefällt mir die ganze Sache doch sehr. Das Wetter, das uns gestern so viel zu schaffen gemacht hatte, ist heute viel besser und mittlerweile scheint sogar die Sonne. Ich glaube mit einer Fitness, die besser ist, als die meine, wäre ich noch begeisteter, aber es ist auch so schon beeindruckend genug. Das Schöne an unserem Rastplatz ist, dass er sehr idyllisch ist und man viele schöne Ausblicke hat. Das weitaus weniger Schöne ist, dass man auch sieht, wo es gleicht weitergehen wird. Und so fällt der Blick auf eine Wiese, die beinahe senkrecht vor uns liegt und die wir auch hochmüssen. Wir sehen ein paar andere Wanderer, die wir wegen der Entfernung nicht genau erkennen können. Und trotz dieser Entfernung erkennt man, dass sie sich da hochquälen. So direkt möchte man eigentlich gar nicht wissen, was vor einem liegt.
Aber es nützt ja nichts und so ziehen wir weiter. Ein weiteres Phänomen in den Alpen ist, dass man zwar sehr direkt sehen kann, wohin man muss, es aber keinen direkten Weg dorthin gibt. Und so hat man Luftlinie vielleicht 500m, muss aber 2km um tausend Kurven und Ecken laufen, um da hinzugelangen. Nichts ist so wie es scheint. Außer der Konstante, dass alles irgendwie schwer ist. Auch das was auf den ersten Blick leicht erscheint, hat gerne mal Tücken in sich. Es ist vielleicht an der Zeit, dass ich das Wanderverhalten von unserer kleinen Gruppe vorstelle.
Erwartungsgemäß ist meine Tochter immer weit vorne dabei. Sie ist jung, sportlich und dort wo sie wohnt gibt es einige Berge, die sie auch hochgewandert ist. Außerdem hat sie in Neuseeland schon einige Bergwandertouren mitgemacht. Sie weiß also, wie der Hase (nein nicht mein Hase) läuft. Die erste veritable Überraschung ist mein Sohn. In seinem sonstigen Leben ist er, bis auf einige Badmintoneinheiten, nie in den Verdacht geraten, sportlich interessiert zu sein. Und in Zeiten von Homeoffice und Homeschooling ist sein Bewegungsradius häufig damit erschöpft gewesen, dass er von seinem Zimmer ins Arbeitszimmer gegangen ist. Er hatte auch nie großes Interesse an Ausdauersportarten, obwohl ich schon lange vermutet habe, dass die Energie dafür in ihm steckt. Hier in den Bergen explodiert er förmlich. Er rennt die Hügel hoch und haut seine Wanderstöcke mit Wucht in den Boden, dass man meint, er würde einen Geschwindigkeitstpreis kriegen. Seine Schwester hält dabei aber auch in den meisten Fällen mit. Ich bin schwer beeindruckt, muss ich sagen.
Die zweite große Überraschung ist Opa, oder Groß-, oder Schwiegervater, der mit seinen 77 Lenzen für sich sehen wollte, was er noch alles in den Bergen so drauf hat. Und er hat es drauf. Ohne Ende hat er es noch drauf. Ich glaube er ist auch ein Stück weit selbst überrascht, was alles so geht, bei ihm. Und man muss da nicht lange drumrum reden, ich beneide meine drei Mitwanderer. Und wenn Dein Schwiegervater sich bremsen muss, damit Du nicht allein auf weiter Flur zurückbleibst und Du weißt, dass er eigentlich schneller sein könnte, dann nagt das mitunter an Dir. Natürlich war vorher klar, dass ich keine Bäume ausreißen werde, bei meiner Vorgeschichte und meiner Gewichtsklasse, aber ich bin doch unangenehm überrascht, was meine eigene Leistungsfähigkeit angeht.
Es gibt in Südtirol eine legendäre und überregional sehr bekannte Ziege namens „Mählie“. Mählie hat die anatomische Auffälligkeit, dass sie nur drei Beine hat. Vorne fehlt eins. Und außerdem hat sie die Eigenart, ständig rückwärts zu laufen. Das führt gerade bergauf dazu, dass sie neben den Weinbergschnecken das langsamste Wesen in den Südtiroler Alpen ist. Zumindest war sie es, bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich hier aufgetaucht bin.
Natürlich ist das Quatsch. Ich habe diese Ziege frei erfunden. Aber wenn es sie gäbe, wäre ich noch langsamer als sie. Was für eine Schlagzeile: „Mann in den Alpen von dreibeiniger Ziege die rückwärts läuft, überholt worden!“
Ja, es wurmt mich, dass ich so langsam bin. Der Aufmerksame, hat das vielleicht zwischen den Zeilen lesen können. Aber auf der anderen Seite war es mir vorher klar, dass es Schwierigkeiten geben könnte. Und Opa sagt, dass jeder in den Bergen sein eigenes Tempo finden muss. Und eigentlich ist es für mich, bei allem Frust, doch letztendlich entscheidend, dass ich nicht aufgebe und mich durchbeiße. An dieser Stelle möchte ich mich durchaus loben. Und die Kinder die alle paarhundert Meter auf Opa und mich warten, werden nicht müde mich immer wieder aufzubauen. Es ist auf der einen Seite schon fast rührend, wie sie mir permanent eine positive Einstellung vorbeten. Und auf der anderen Seite hilft es auch wirklich. Denn mal Hand aufs Herz (auch auf das unregelmäßig schlagende), wer möchte seine Kinder schon enttäuschen? Ich nicht und so kämpfe ich dauerhaft gegen körperliche Einschränkungen und meinen inneren Schweinehund an.
Die Höhenmeter werden dabei zur Qual und gerade auf dieser steilen Wiese offenbart sich das nachhaltig. bis wir an eine Pforte kommen. Es gibt viele Pforten in den Bergen, Das ist der Punkt, an dem wir das Steilste hinter uns haben und ich wirklich völlig fertig bin. Das sehen auch die anderen und wir machen eine Zwangspause. Wie soll ich bloß weiter kommen? Die Hütte, die übrigens nicht die ist, die wir gesehen haben, ist noch 150m höher und sie hat geschlossen. Aber wenigstens kann man sich da noch einmal hinsetzen und sich sammeln. An dieser Pforte warten die anderen und ich schaffe es mit Mühe dahin zu kommen. Und dann ist Essig! Ich kann nicht mehr! Ich glaube nicht, dass ich mit einer Pause wieder auf die Beine gebracht werden kann und der Rest von uns glaubt das auch nicht. Zeit für Opas Dopingvoprräte.
Aus seinem Rucksack zaubert er eine Blechdose, die etwas größer als eine Schuhcremedose ist. „Das ist Schokacola“, sagt er. Eine Zartbitterschokolade mit einem Koffeinanteil. „Die bringt verbrauchte Energie zurück. Opa gibt jetzt mal einen aus“, sagt er und öffnet die Dose. Nun muss man wissen, dass ich niemals, also jetzt wirklich nie, nie, niemals, Zartbitterschokolade esse. Ich mag sie nicht. Noch weniger, als beispielsweise Kaffee, den mag ich überhaupt nicht. Und ich nehme mir ein Stückchen von dieser Zartbitter Schokacola und ich stecke es in den Mund und es schmeckt genauso fürchterlich wie erwartet, aber ich mag es. Wie gesagt, in den Alpen sind viele Dinge widersprüchlich. Und weil es schonmal überhaupt nicht geschmeckt hat, nehme ich auch das zweite Stück, was mit offeriert wird. Die Kinder lachen sich halbtot, weil sie wissen, dass ich das Zeug nicht mag. Diese Satansbraten. Wer hat die eigentlich großgezogen.
Ich will jetzt nicht sagen, dass es eine spontane Leistungsexplosion gegeben hat, aber Opas Drogen helfen. Ich kann weiterwandern. Und das erleichtert mich und die anderen, die sich bestimmt schon gedacht hatten, dass ich einen Hubschrauber brauche. Ich laufe also weiter. Beseelt davon es zu können und vollgepumpt mit Opas Anabolika, die auch einige Nebenwirkungen haben. So sehe ich beispielsweise in der Ferne eine dreibeinige Ziege, die rückwärts den Berg hochläuft. „Mit mir nicht, Du blödes Viech“, denke ich und weiß selbst nicht, was ich damit meine.
Die Anhalterhütte kommt näher und der Weg schlängelt sich an einem Hang entlang. Beinahe eben führt er zu der Hütte und ich habe die andern, ja auch Opa, davonziehen lassen. Es hat doch keinen Zweck, wenn er permanent langsamer gehen muss. Jeder hat sein Tempo, das ist wirklich so. Und ich nehme mir die Zeit, mich auch ein paarmal umzublicken. Es gibt ja die Aussage von vielen Müttern, dass die Schmerzen und Strapazen der Geburt vergessen sind, wenn man das erste Mal das eigene Kind erblickt. Natürlich sind meine Strapazen und Schmerzen eine reine Lächerlichkeit dagegen, aber in dem Moment, wo ich mich hier oben das erste Mal umdrehe, sind sie vergessen, als ich die wohl schönste Aussicht meines Lebens habe.
Es ist jetzt völlig ironiefrei und wirklich kein Witz, wenn ich sage, dass ich dermaßen überwältigt bin, dass mir sogar das Wasser in die Augen steigt. Ein erhabener Moment, der mit Geld nicht zu bezahlen ist. Ich möchte meine Faust in die Luft strecken und meine Glücksgefühle laut herausschreien, aber dazu fehlt mir die Kraft. In diesem Moment verstehe ich, wie man auf die Idee kommen konnte, das Jodeln zu erfinden. Ich habe eine gute Fernsicht und blicke von weit oben auf diese Ebene, auf der ich vorhin gewesen bin und fühle mich wie der König der Welt. Scheiß auf den Bug der Titanic! Das hier ist….tja, vielleicht kann man es nicht in die richtigen Worte fassen. Mir ist aber klar, dass sich alles weitere hiermit wird messen lassen müssen. Was soll jetzt noch kommen?
Zum Beispiel mein Sohn, der zurückgelaufen ist, um mir zu sagen, dass die Anhalter Hütte, den Angaben von ASI zum Trotz, doch geöffnet hat und wir dort einkehren können. Es gibt Gott wirklich! Und so sitzen wir bei bestem Sonnenschein in 2040m Höhe bei dieser Hütte und lassen uns von den sehr netten Servicekräften ein erfrischendes Getränk servieren. Es ist schön hier und die Hütte gerade renoviert und ich könnte hier übernachten. Das wäre bestimmt der Hammer, wenn man nachts die Sterne von hier oben sehen könnte. Aber wir müssen weiter. Wir wollen ja noch über das Hahntennjoch, dem höchsten Punkt unserer Etappe. Noch einmal 150m höher. Als erstes geht es aber wieder bergab und dann recht steil bergauf und zum Schluss noch einige in Stein gemeißelte Stufen empor. Gesichert mit Geländern. Auf dem Weg sehen wir ein paar Tafeln mit Inschriften zum Gedenken an abgestürzte Bergfreunde. Oder wie Opa es sagen würde: „Viele Wege führen zu Gott, einer geht über den Berg.“
Zweieinhalb Stunden sollte der Aufstieg bis zur Anhalterhütte übrigens dauern. Wir haben drei Stunden länger gebraucht. Aber das ist uns egal, denn trotz meiner Tempoverschleppung sind wir doch eine homogene Mannschaft und insgesamt doch sehr froh hier sein zu dürfen. Meine Tochter würde gerne bei dieser Reise ein Gipfelkreuz aus der Nähe sehen und auch Berge die so hoch sind, dass sie auch im Sommer schneebedeckt sind, stehen auf ihrer Liste. Das mit dem Kreuz klappt heute schonmal, denn oben auf dem Joch steht eines und wir lassen uns davor fotografieren.
Lange verweilen können wir leider nicht, denn wir müssen den letzten Bus erwischen, der um 17.45 Uhr fahren wird und der Abstieg liegt noch vor uns. Ein langer Abstieg wie sich zeigt, denn die Straße, die wir erreichen müssen, ist nur als kleiner dunkler Strich weit unten zu erkennen. Heiliger Bimbam, wie sollen wir da rechtzeitig ankommen? Der Abstieg ist für mich im Allgemeinen leichter als der Aufstieg. Und so freue ich mich auch ein bisschen, das es nun runter geht. Was aber ein bisschen zu früh gefreut ist, denn dieser Abstieg ist zwar nicht so schlammig und rutschig wie gestern, aber dafür felsig und steil und uneben und mega schwierig. Manchmal muss ich ziemlich große Stufen überwinden und mit meinem Gewicht ist das nicht gerade einfach. Die Füße befinden sich in den Schuhen permanent vorn am Anschlag. Das heißt, so weit wie es ihnen möglich ist. Hier merkt man, ob man gute Schuhe hat und ich habe welche. Aber auch mit denen ist es ein immenser Druck, der auf die Füße und den Spann ausgeübt wird. Es ist nicht schwerer als bergauf, aber komplizierter. Und weil ich so übervorsichtig bin, komme ich nicht gut voran. Die Straße kommt nicht wirklich näher.
Wieder einmal bin ich der Letzte, aber die Abstände sind nicht besonders groß. Irgendwann sehe ich Großvater, der unmissverständlich klar macht, dass wir ein bisschen auf die Tube drücken müssen, um den Bus zu kriegen. Wie auch immer das funktionieren soll. Das Schicksal aber meint es gut mit uns. Die Strecke wird flacher und die Beschaffenheit des Weges viel besser. Und hier kann ich meine Vorteile in Sachen Hangabtriebskraft nun endlich ausspielen. Ich werde schnell. Die Straße kommt näher. Sie ist aber immer noch ein gutes Stück unter uns. Ich frage nach der Zeit. Wir haben noch eine halbe Stunde. Und weil ich weiß, dass die Wege hier in den Alpen immer länger sind, als man schätzt, bin ich mir sicher, dass wir nicht rechtzeitig unten sein werden.
Zwanzig Minuten später sind wir zu meiner großen Überraschung dann doch schon unten. Der Bus kommt. Wir fahren zum nächsten Ort, steigen dort um und dann zu unserem Endziel, Karres. Karres ist eine Art Stadtteil von, tja hier verliere ich den Überblick. Man fährt mit dem Bus durch die Gegend und nimmt gar nicht recht war, wo man ist. Also weiß ich nicht, wo genau wir uns befinden. Ich weiß nur, dass wir von der Haltestelle bis zum Hotel noch einen Fußweg von 500m haben. „500m, das ist ja nicht viel“, sagt meine Tochter. „Aber wenn man nur bergauf gehen muss, dann ist es eine Ewigkeit“, gebe ich zu bedenken. Und natürlich geht es die ganze Zeit bergauf. Natürlich nicht wie in den Bergen, aber gebraucht habe ich das jetzt eigentlich nicht mehr.
Das Hotel heißt Traube, ist auch eher rustikal, aber schön und die Chefin begrüßt uns schonmal sehr sehr freundlich. Natürlich hat das mit den beiden Einzelzimmern auch hier nicht geklappt, aber die nette Dame ist noch unkomplizierter, als der Portier von gestern. Ich bekomme ein Einzelzimmer mit einem echten Einzelbett. Das Essen ist wieder sehr gut. Zwar nur vier Gänge, aber mit einem hausgemachtem Softeis als Abschluss. Ich liebe Softeis. Die Managerin hat ja nun davon erfahren, dass wir bisher immer das Problem mit dem Einzelzimmer hatten und sagt uns, dass sie das mit unserem nächsten Hotel für uns regeln wird. Das finden wir sehr nett und senden einen stummen Gruß nach Oberstdorf zu dem hippen Typen, der sich hier in Sachen Freundlichkeit noch einmal eine große Scheibe abschneiden kann. Die ASI Truppe sitzt direkt in unserer Nähe. Sie schweigen sich an. Während wir vier uns viel zu erzählen haben. Davon was wir so erlebt haben und wie uns der Tag gefallen hat. Und wir lachen manchmal. All das machen die Leute neben uns nicht. Acht Wanderer, die sich beim Essen anschweigen.
Da wir erst um halb sieben im Hotel waren, blieb uns keine Zeit vor dem Essen zu duschen. Alles ist ein bisschen hektisch. Nun, nach dem Essen, ist es schon recht spät und außer Duschen kriege ich nichts mehr auf die Reihe. Ich lege mich auf mein Bett und versuche wieder einmal in den Schlaf zu finden. Ich träume wild von dreibeinigen Ziegen und einer Frau, die mich in Lederunterwäsche mit einer Peitsche den Berg hochtreibt. Und von Schokacola, die mich heute gerettet hat.