Tag 1 Anreise
Ich bin in meiner Kindheit nie viel gereist. Was in erster Linie daran lag, dass meine Eltern nie ein Auto besessen haben und auch sonst nicht gerade dem Reisefieber verfallen gewesen sind. „Zu Hause ist es doch auch schön“, sagte meine Mutter immer. War es ja auch, aber woanders könnte es vielleicht ebenfalls schön sein, vermutete ich. Später sollte ich noch weiter in die Welt kommen, aber anfangs war mein Radius mit Tagesausflügen an die Nordsee erschöpft. Ausnahme waren zwei mehrtägige Reisen nach Thüringen (damals noch DDR) zur guten Freundin meiner Mutter. Und obwohl ich die Nordsee liebte, war Thüringen anders. Bergig. Und es entstand der Wunsch in mir, dort jeden Hügel hochzurennen. Was ich auch tat, solange bis mich jemand den ganzen Weg nach unten tragen musste, weil ich mich übernommen hatte.
Unauslöschlich im Gedächtnis ist mir auch ein Tagesausflug in den Harz geblieben. Eine Bustour, zu der sich sogar mein Vater hat hinreißen lassen. Was einem Wunder gleichkam, weil er das eigene Grundstück nur für den Weg zur Arbeit und Festen, bei denen er unbedingt anwesend sein musste, verließ. Ein Haus, ein Garten, ein Sofa, das reichte ihm zur inneren Glückseligkeit. An die meisten Sachen von diesem Tag kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß auch nicht, wo wir genau waren. Damals war der Harz zu großen Teilen ja noch DDR Gebiet und daher waren die Möglichkeiten auch eingeschränkt. Ich glaube wir sind auch mit einer Seilbahn irgendwo raufgefahren, kann mich aber hier täuschen. Was ich aber genau weiß und immer wissen werde, ist, wie ich aufgesprungen bin, als der Bus auf einer höher gelegenen Straße fuhr und den Blick von oben ins Tal ermöglichte. Ich hüpfte hoch, meine Augen weit aufgerissen und sprang im Gang hin und her, wie ein über die Maßen erstauntes und erfreutes Kind, was ich im Prinzip ja auch war. Meinen Geschwistern war das eher peinlich, aber ich musste meinen Gefühlen freien Lauf lassen, wenn ich nicht platzen wollte.
Der Harz war somit für lange Zeit der Inbegriff für ein Hochgebirge, bis ich irgendwann die Möglichkeit in Betracht zog, dass die Alpen beispielsweise vielleicht noch ein bisschen mehr zu bieten haben könnten. Das Verlangen, dort irgendwann einmal hinzureisen und dort auch die Hügel hochzurennen, war geboren und es sollte weit über 40 Jahre dauern, bis ich dieses Vorhaben in die Tat umsetzen könnte. Und als wir nun an diesem Sonntag morgens um 6 Uhr starten, um nach Oberstdorf zu fahren, bin ich aufgeregt, wie ein Schulkind vor der ersten großen Klassenfahrt. Dank des groß- und schwiegerväterlchen Organisationstalents sind wir vier bestens vorbereitet. Das Auto ist getankt, die Mannschaft motiviert und das Wetter gut. Beste Voraussetzungen also.
Während der recht langen Fahrt, male ich mir immer wieder aus, wie es wohl sein wird, wenn wir die Alpen ein erstes Mal aus der Ferne sehen können. Ich erwarte nicht viel. Lediglich einen Anblick, der mich umhaut und mich aufspringen lassen würde, wenn ich nicht gerade der Fahrer wäre. Was ich etwas unterschätzt hatte ist, wie lange man fahren muss, um erstmalig einen Blick auf Deutschlands höchstes Gebirge zu erhaschen. Wir sind jedenfalls schon meilenweit in Bayern, als ich die ersten dunklen Schatten am Horizont ausmache. Und schon jetzt wird deutlich, dass der Harz, der mich immer so faszinierte, gegen das hier aussieht, wie die Kleinkindgruppe eines Gebirges. Sorry Harz, aber Du kannst einpacken. Die Fernsicht ist nicht berauschend an diesem Sonntag und es dauert, bis sich aus den enorm großen Schatten, die wie überdimensionale Türsteher da stehen und mir sagen wollen: „Du kommst hier nicht rein!“, Konturen hervorschälen. Und ja, ich glaube, mein Mund steht eine Weile lang offen, vor Staunen.
Wir sind von der Autobahn runter, weil dort ein Mega Stau ist und fahren die letzten zwei Stunden über Landstraße. Navigiert von zweimal Google Maps, die immer um eineinhalb Sekunden versetzt sagen, wann ich wo abbiegen muss und von Opa, der als Beifahrer permanent eine Landkarte auf dem Schoß hat und immer weiß, wo wir uns gerade befinden und wohin wir müssen. Während also die Else von Maps mir sagt: “ Nach zweihundert Metern rechts halten.“ und um die eineinhalb Sekunden versetzt sagt: „Nach zweihundert Metern rechts halten.“ Kommt vom Großvater der Hinweis: „Da vorn musst Du dich rechts halten.“ Was wollen mir diese Botschaften sagen? Vielleicht, dass ich nach 200 Metern mich rechts halten soll? Man weiß es nicht. Beschließe, dass ich mich rechts halten werde. Die Frage, ob ich mich rechts halten soll, verkneife ich mir jedenfalls.
Dass wir Landstraße fahren, ist eigentlich auch ganz schön, weil man so auch mehr von der Umgebung sieht. Diese ist, trotz der Alpennähe aber eher flachgeländig und in manchem Streckenabschnitt gar nicht so weit vom norddeutschen Flair entfernt. Wenn da nicht diese erhabenen großen Schatten am Horizont wären, dann könnte man beinahe auf die Idee kommen, falsch gefahren zu sein. In direkter Nähe von Oberstdorf sieht die Sache aber schon ganz anders aus. Überall hohe Berge. Begrünt, Bewaldet mit schroffen Felsen und auch gerne sehr steil. Man möchte ein paar Augen mehr haben, um das alles angemessen in sich aufnehmen zu können. Ja, man kann sagen, ich habe mich auf den ersten Blick in die Alpen verliebt und ich kann es kaum erwarten, sie zu erklimmen. Obwohl ich hinsichtlich meiner körperlichen Fitness berechtigte Zweifel habe, es zu schaffen. Aber dazu später mehr.
Wir erreichen unser erstes Hotel, parken in der Tiefgarage und Großvater macht sich mit den Örtlichkeiten vertraut. Das Hotel heißt Explorer, ist ein bisschen außerhalb vor Oberstdorf und ein hipper Schuppen für alle Outdoorsportler, die von hier aus in die Alpen starten wollen. Modernes Ambiente mir ebenso hippen Sitzgelegenheiten überall und dem dazugehörigen jungen und kumpelhaften Personal. „Hallo und willkommen in Oberstdorf“, sagt der schablonenhaft lässige und junge am Empfang, “ ich bin der Andi und wir sind hier in den Bergen immer per Du. Ich hoffe, das macht keine Probleme.“ Und nein, natürlich haben wir keine Probleme damit geduzt zu werden. Großvater auch nicht und er sagt, wer wir sind und dass wir unsere drei Zimmer beziehen möchten. Denn wir haben zwei Einzelzimmer (für Opa und mich) und ein Doppelzimmer für die Kinder gebucht.
Und der Andi hört nur halb hin, schaut auf seinen Bildschirm und gibt uns die Karten für unsere beiden Doppelzimmer. Was sich aber nicht in Gänze mit dem deckt was wir gebucht haben. Wir wollen ja nicht kleinlich sein, aber immerhin mussten Opa und ich für die Woche 150 Euro zusätzlich hinblättern, damit wir jeder ein Zimmer haben können. Es ist ein verwegener Gedanke von uns, dass wir eine Leistung bekommen möchte, die wir im Vorfeld schon bezahlt haben und so macht Großvater den Andi darauf aufmerksam, dass wir mit den angebotenen Zimmern so nicht ganz einverstanden sind. Er zeigt dem Andi, dem so langsam alles Kumpelhafte entweicht, als er erkennt, dass hier Probleme drohen, die Buchungsbestätigung unseres Veranstalters (ASI = Alpinschule Innsbruck). „Hach, schon wieder so einen Mist“, murmelt er und tippt noch ein wenig lustlos auf seiner Tastatur herum. Er findet auch schnell den Fehler und sagt uns, dass ASI nur zwei Doppelzimmer im Hotel reserviert hätten. „Außerdem haben wir auch kein Zimmer mehr frei, selbst wenn der Sachverhalt anders sein sollte“, betont er und die Hilfsbereitschaft in ihm sinkt so ziemlich gegen Null.
„Naja, wir haben das aber gebucht und dafür auch bezahlt“, werfe ich ein und der Andi ist langsam auch ein bisschen genervt. Wo kommen wir denn auch da hin, wenn jeder Reisende hier das haben will, was er gebucht hat? Wir sind hier schließlich nicht bei „Wünsch Dir was“. „Na dann kümmerts Euch“, sagt er, was mit leichtem bayrischem Dialekt so viel heißt wie: “ Ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass ich jetzt da hinterher telefoniere? Das könnt Ihr gefälligst selbst machen!“ Man nennt so etwas Subtext. Während Großvater sofort bei ASI anruft und feststellen muss, dass am Sonntag, das Büro dort nicht besetzt ist, fällt mir schlagartig ein, dass es auch eine Notfallnummer für dringende Fälle gibt. Und wenn das kein dringender Fall ist, weiß ich auch nicht, was einer sein könnte. Ich muss also mal eben in der viel bemöbelten Eingangshalle mein Gepäck durchstöbern, bis ich an die ASI Unterlagen komme und die richtige Nummer finde.
Wundersamerweise erreicht er jemanden am anderen Ende der Leitung und der junge Mann, mit dem er telefoniert, ist höflich und wird sich darum kümmern, dass wir hier und auch an den Folgetagen unsere bestellten Zimmer auch erhalten werden. Ja, der Anfang war zwar etwas unglücklich, aber das kann ja mal passieren. Wenn es denn jetzt läuft, ist das doch wieder alles gut. Die Zeit, in der Opa telefoniert, nutze ich, um mir die Gäste anzusehen. Und ja, es ist wirklich so, dass hier ausnahmslos jeder in irgendeiner Form Sport in den Bergen betreiben will. Ich würde mal behaupten, die eine Hälfte wird per Mountainbike unterwegs sein, während die andere Hälfte aus Wandervögeln besteht. Und Opa ist der Älteste mit seinen 77 Jahren und ich vermute, dass ich wahrscheinlich der Langsamste sein werde.
Der Andi bekommt einen Anruf von ASI und wie durch Zauberhand findet er erstens seine Freundlichkeit wieder und als Zugabe sogar noch ein Zimmer. Das sei zwar noch nicht ganz bezugsfertig, aber der Kammerjäger arbeite daran. Natürlich habe ich das mit dem Kammerjäger erfunden, aber die Putzkolonne sollte wohl noch einmal durch. Mein Zimmer ist im dritten Stock und etwas lustig, was die Anordnung der Fenster angeht. Zwei Fenster sind vom Boden beginnend bis in etwa Hüfthöhe. Kurz danach beginnt die Dachschräge und dort ist auch ein großes Dachfenster eingebaut, dass man so nicht erreichen kann, weil es zu hoch ist. Mit elektrischer Steuerung kann man zumindest das Rollo hochfahren lassen. Was auch nur so semi klappt, aber immerhin einen Ausblick auf die Berge freigibt.
Draußen sind es 30°C und wir gehen, nach dem Zimmerbezug, nach Oberstdorf. Das sind drei Kilometer und dort gibt es unser erstes Abendessen, dass wir uns selbst organisieren müssen. „Wilde Männle“ heißt das Lokal und ist so richtig, wie man sich ein bayrisches Lokal vorstellt. Für unseren Sohn, der noch nie in Bayern war, eine völlig neue Welt. Und als dann noch der Volksmusik spielende Akkordeonspieler aufspielt, ist der Gesamteindruck perfekt. Es ist schön, urig, gemütlich und lecker, aber wir bleiben nicht sehr lange, denn es wartet ein strammes Programm auf uns. Wir schlendern noch ein bisschen durch Oberstdorf, das in der Hauptsache aus Lokalen, Sport- und Modegeschäften zu bestehen scheint. Und wir gehen auf unsere Zimmer und ich schlafe recht schlecht ein, was unter anderem auch daran liegt, dass es draußen gewittert. Tropfen so groß wie Tennisbälle klatschen auf das Dachfenster und machen einen Heidenlärm. Wenn wir jetzt losmaschieren müssten, wären wir in fünf Minuten komplett durchnässt. Eine schwache Hoffnung in mir sagt, dass es morgen ja anders sein könnte, aber der Wetterbericht ist sich da mal gar nicht so einig. Mulmigen Gefühls schlafe ich dann doch ein. Zumindest ein kleines bisschen……..