Gipfelstürmer

Prolog

Und dann ist es soweit, ich stehe hier mitten in den Alpen. Vor mir eine Felswand, die mehrere hundert Meter nach oben und auch vor allem auch nach unten geht. Und ich muss daran vorbei. Mein Weg führt da lang. Meine Höhenangst steigt ins Unermessliche und ich sterbe innerlich schon bei dem Gedanken daran, dass ich gleich über diesen einen schmalen Weg, an dieser Felswand entlang gehen muss. Nur ein halbwegs stabil wirkendes Drahtseil ist meine einzige „Sicherung“. 12mm Drahtseil zwischen mir und dem gähnenden Abgrund. 12mm an denen mein Leben hängt. Die Anderen sind schon rüber gegangen und winken mir zu, dass ich nun auch kommen solle. Rund zwanzig Meter trennen mich von ihnen. Zwanzig Meter, die den sicheren Tod bedeuten können. Mein erster Impuls, mich auf den Bauch zu legen und rüber zu robben, scheitert allein schon an meinem Bauch. Also gehe ich zitternd los, die Hände krallen sich krampfhaft an das Seil. Meine Schritte sind klein und ich zittere am ganzen Körper……….

So oder so ähnlich ist die größte Furcht, die ich vor unserer Alpenüberquerung habe. Diese Stelle im Gebirge, an der sich entscheidet, ob ich meine Ängste besiegen kann, oder abstürze, oder wieder umkehren muss. Weiterhin fürchte ich mich vor einem Knochenbruch in unzugänglichem Gelände oder Durchfall auf freier Pläne, ohne Baum oder Fels in der Nähe. Es gibt Dinge, bei denen ich am liebsten alleine und nicht irgendwo in den Bergen schutzlos den Blicken anderer ausgeliefert bin. Außerdem auf der Liste meiner größten Sorgen und Ängste für die Tour sind Gewitter in den Bergen, das Ende meiner Kräfte und eigentlich so ziemlich alles, was einem unterwegs widerfahren könnte. 5 Tage werden wir durch die Alpen wandern und ich habe nicht die geringste Ahnung, ob sich Situationen ergeben, wie ich sie gerade beschrieben habe. Und so viel kann ich vorweg nehmen, ganz ungeschoren werde ich nicht davonkommen.

Die Idee, einmal durch die Alpen zu gehen, entstammt einer Menge Rotwein aus den unerschöpflichen Beständen meines Schwiegervaters. Eben jenem Schwiegervater, der über zwanzig Jahre Mitglied im Alpenverein gewesen ist und mit ein paar Spießgesellen auch über zwanzig Touren durch dieses Gebirge gemacht hat. In der Regel waren das sogenannte Hüttentouren, bei denen sie oben auf den Bergen von Hütte zu Hütte gewandert sind und dort dann in großen Schlafsälen mit rund 50 weiteren stinkenden und Blähungen absondernden Bergwanderern genächtigt hatten. Eben jene Wanderer, mit denen man sich am frühen Morgen um die einzige Toilette auf der Hütte prügeln musste und man nur hoffen konnte, nicht zu weit hinten in der Schlange zu sein. Seine Berichte darüber, wie die Verhältnisse so waren, sind immer sehr anschaulich gewesen und erweckten in mir das Gefühl, dass ich dort nie schlafen wollen würde. Wer zum Henker hat auch Spaß daran, auf 80cm Pritsche zu liegen und die Nase des Nebenmannes praktisch im Ohr zu haben?

Jedenfalls waren wir bei Schwiegereltern und er berichtete wieder einmal von den Bergen und irgendwie wurde die Schnapsidee auf den Tisch gebracht, dass meine Kinder und ich doch gerne mal auch dort wandern wollten. Nur eben nicht mit Übernachtungen in den Hütten. So ein bisschen verwöhnt sind wir dann doch. Der Hase, so viel war mal klar, würde da auf keinen Fall mitmachen. Geprägt von der Kindheit mit einem Gipfelstürmer als Vater, der seine Familie immer wieder durch schwindelnde Höhen und steile Anstiege malträtierte, würde mein Hase freiwillig keinen Fuß auf irgendeinen blöden Berg setzen, es sei denn ein Seilbahn führt da hinauf. So in etwa war ihr O-Ton.

Da die Bergsteigertruppe meines Schwiegervaters altersbedingt in den Bergruhestand gegangen war und er selbst aber noch das Wanderfeuer ins sich verspürte, war er sozusagen gleich Feuer und Flamme für unsere Idee und es vergingen einige Monate, ohne dass wir noch einmal darüber sprachen. Bis er Anfang des Jahres auf einem kleinen Spaziergang, noch einmal danach fragte, ob wir das nun durchziehen wollten. Rotwein war in diesem Moment nicht im Spiel, der kam erst später am Tag, aber meine Kinder waren sofort begeistert und weil ich ja kein Hasenfuß sein wollte (schließlich bin ich hier ja nicht der Hase, sondern eher der Esel oder so), war ich nach außen hin ebenso begeistert. Der Stein war ins Rollen gebracht worden und er rollte unaufhaltsam. Denn wenn mein Schwiegervater eines ganz besonders gut kann, dann ist es organisieren und so eine Reise auf die Beine zu stellen ist eine seiner leichtesten Übungen. Und er war gewillt von diesem Talent reichhaltig Gebrauch zu machen.

Zu den grundlegenden Wahrheiten für einen Anfänger, der auf eine Alpintour gehen möchte, gehört der erste Grundsatz: Wenn ein erfahrener Wanderer Dir zu etwas rät, dann höre zu, stelle keine unnötigen Fragen und mach, was er Dir sagt! Und die ersten Dinge, die Opa uns auf den Weg mitgab, betrafen die Ausrüstung: „Ihr braucht unbedingt Wanderschuhe, die über die Knöchel gehen und Wanderstöcke!“ Und da ich es von zu Hause gewohnt bin, zuzuhören (okay, das vielleicht nicht immer besonders gut), keine Fragen zu stellen und zu machen, was der Hase mir sagt, stellte ich auch hier nichts in Frage und besorgte mir die Ausrüstung, die mir empfohlen wurde.

Was zur zweiten grundlegenden Wahrheit über Alpinwanderungen führt: Der ganze Kram ist mächtig teuer. Wir sind in eine Einkaufsstadt, die alles hat, gefahren, weil es dort viele Prozente Preisnachlass gab und gingen dort in die Outdoor Abteilung, um hier Geld auf den Kopf zu hauen. Also Schuhe unter 200 Euro sind schwer zu finden, oder fühlen sich an, als habe man Holzklötze an den Füßen. Der Verkäufer war sehr nett und zusammen kamen wir auf ein Paar, dass mir passte und noch halbwegs erschwinglich war, wenn man die Prozente abzog. Und weil wir so plauderten und weil unser Sohn auch Schuhe kaufte und weil wir eigentlich auch noch Rucksäcke brauchten, erschien in des Verkäufers Augen das Dollarzeichen und er zeigte uns ein paar der Rucksäcke aus seinem „Angebot“. Der erste lag so bei 80 Euro und schien erstens bequem und zweitens für das was wir vorhatten etwas zu teuer zu sein. Also setzte er mir noch einen auf. Der war megabequem, von hinten belüftet und hatte gefühlt noch Fernseher, Kühlschrank und Klimaanlage mit integriert. Das würde jedenfalls den Preis von 180 Euro erklären. Wir lehnten dankend ab und ließen dem geschäftstüchtigen Verkäufer keine Chance, uns noch mehr Mücken aus der Tasche zu leiern.

Unsere Tochter hatte da den großen Vorteil, dass sie schon gute Schuhe besaß und somit keine kaufen musste. Gemeinsam erwarben wir noch Stöcke und Rucksäcke, die nicht über die Maßen teuer waren und für unsere Zwecke tauglich schienen. Aber, soviel muss man hier eingestehen, zusammen ergab auch das schon ein gutes Sümmchen. Dazu musste man natürlich noch die Tour an sich addieren und es war unerlässlich auch eine zu finden, die zu uns passen würde. Es gab die Möglichkeit, eine Alpenüberquerung von Oberstdorf nach Meran zu machen und dabei in verschiedenen Hotels in den jeweiligen Tälern zu übernachten. Das Gepäck würde dabei von Hotel zu Hotel gebracht und man selbst muss dann nur mit einem kleineren Rucksack in die Berge wandern. Von den Hotels würde man per Bus jeweils zu einem Startpunkt fahren und dann kraxeln und dann wieder mit dem Bus zum nächsten Hotel gebracht werden. Die Übernachtungen würde dabei in Hotels mit drei oder vier Sternen erfolgen. Auch hier muss man sagen, war das alles nicht wirklich billig, aber dafür musste man sich um nichts mehr kümmern.

Um nichts Kümmern, das klang gut und so verglichen wir diese Tour mit anderen ähnlichen Angeboten, aber blieben letztendlich hier hängen. Gebucht wurden zwei Einzelzimmer und ein Doppelzimmer für den Verlauf der Tour und man kann sagen, hinterhergeschmissen war auch das alles nicht. Immerhin mit im Preis war jeweils Frühstück an den sechs Tagen unseres Aufenthaltes und viermal Abendessen. Dazu gab es eine ausgearbeitete Tourenbeschreibung, Kartenmaterial ein paar nützliche Infos. In den Monaten vor der Abreise gab es von Opa eine bis ins Letzte Detail ausgearbeitete Packliste, an die wir uns streng hielten, es sei denn. er sagte, dass wir es nicht müssten. Funktionskleidung wurde erworben und auch eine Kopfbedeckung für mich, bei der ich mir sicher war, dass ich sie nie aufsetzen würde. Denn auch wenn es eine neutral gefärbte Basecap war, wusste ich genau, wie blöde ich mit dem Ding aussehen würde und ein wenig Eitelkeit war sinnbildlich in meinem persönlichen Gepäck.

Und nun ist es so weit, nach einigen Monaten und einer dreistündigen Telefonkonferenz haben wir alle Unklarheiten beseitigt und es kann losgehen. Und ich muss gestehen, dass ich während der ganzen Zeit immer hin- und hergerissen gewesen bin, weil ich nicht wusste, was kommt, wie ich das alles wegstecken werde und ob es überhaupt das Erlebnis werden kann, dass ich mir ein wenig erträume.