Neulich fuhr ich mit dem Auto über die Landstraße. Auf dem parallel dazu laufendem Radweg sah ich eine junge Frau, die in Schlangenlinie mit ihrem Fahrrad fuhr, weil sie, den Kopf in Richtung Smartphone geneigt, völlig von der Außenwelt abgeschirmt über den schmalen Asphaltweg bretterte. „Die sieht doch gar nicht wo sie hinfährt“, dachte ich. Erschüttert über derartigen Leichtsinn überkam mich sofort der Impuls das Gesehene mit jemand Anderem zu teilen, was allerdings daran scheiterte, dass ich mich immer sehr schwer damit tue, eine gescheite Whatsapp-Nachricht zu tippen, wenn ich mit hundert Sachen über die Landstraße fahre. Erst als sich der Gegenverkehr mit Lichthupe bemerkbar machte, weil ich anscheinend auf seinem Fahrstreifen war, änderte ich meine Strategie und versuchte es mit einer Sprachnachricht. „Ja sieht der denn nicht, dass ich mit wichtigen Dingen beschäftigt bin? Da wäre ja wohl ein wenig Rücksichtnahme angebracht“, dachte ich, lichthupte meinerseits zurück und lenkte meinen Wagen ein wenig nach rechts. Während sich im Vorbeifahren unsere Rückspiegel beinahe berührten, blieb mir kaum noch die Zeit, dem Ignoranten im anderen Auto per Gestik einen Überblick meiner Gefühlslage ihm gegenüber zu offenbaren. Er seinerseits, Mitte 60 mit Haarkranz und Schnurrbart, drohte mir offen mit der Faust, für den Bruchteil der Sekunde, die wir einander in die Augen sahen.
Dann fuhr ich weiter zum Einkaufen. Ich weiß nicht wieso, aber irgendwie werde ich das unbestimmte Gefühl nicht los, dass das Leben nur noch aus Arbeit und Einkaufen und dem Verbrauch des Eingekauften besteht. Dazwischen bleibt nur Fernsehen, Schlafen oder Warten. Warten in Wartezimmern, Warten in Warteschleifen, Warten im Stau, Warten vor der Ampel oder Warten an der Kasse im Discounter. Was letzteren Punkt angeht, habe ich ein gewisses Talent. Es ist egal wie viele Kassen der Markt geöffnet hat und es ist auch egal, wie lang die Schlange vor jeder Kasse ist, ich erwische immer die, bei der es mit Abstand am längsten dauert. Aber trotzdem versuche ich jedesmal wieder mein Glück. Mit dem geübten Blick eines Kassenschlangenbeschwörers beobachte ich die Wartenden vor jeder Bezahlstation und ermesse anhand ihrer Einkäufe die zu erwartende Abkassierdauer. Mittels eines komplexen Algorithmus, ergibt sich durch diese Anhaltspunkte in Konstellation mit der Anzahl der Wartenden eine ungefähre Gesamtzeit. Diesmal war es aber auch völlig egal, ob ich etwas berechnete oder auch nicht, denn vor Kasse drei vier und sieben waren elend lange Schlangen und die Einkaufswagen allesamt zum Bersten gefüllt. „Herrgott was wollen die bloß mit dem ganzen Plunder?“ dachte ich, während ich meine zwei übervollen Wagen mit mir schob und zog. Die anderen Kassen waren geschlossen. Ich reihte mich also ein in den Tross der Genervten. Und das behaupte ich nicht nur so, es ist eine Tatsache. Man muss mal darauf achten. Niemand ist glücklich beim Einkauf. Ich habe zumindest seit Jahren niemanden dabei lächeln sehen. Warum sollte man auch?
Ich stellte mich an Kasse sieben an. Die war am dichtesten am Ausgang. Dann könnte ich wenigstens nach dem Bezahlen schnell flüchten. Plötzlich ertönte aus einem unsichtbaren Lautsprecher die schlafzimmerige Stimme einer informativen Dame: „Verehrte Kunden, in Kürze wird auch Kasse eins für sie geöffnet.“ Mit einem Schlag war es still im Supermarkt. Aus der Ferne war das monotone Surren der Kühlaggregate zu vernehmen. Alle hielten inne. Kasse eins also. Es winkte die Chance darauf, die langen Schlangen zu umgehen. Man musste nur schnell genug sein, um als erster an der Kasse zu stehen. Es ist wie bei einer Olympiade. Der zweite Platz ist für Verlierer. In Sekundenbruchteilen berechnete ich die Entfernung von Kasse eins zu Kasse sieben. Kasse eins war mit bloßem Auge nur noch schemenhaft zu sehen. Sollte ich das Risiko wagen und mit einem Sprint dorthin hechten? Ein gewagtes Unterfangen. Aber, wenn ich nur rechtzeitig genug, also noch vor allen anderen los liefe, hätte ich noch berechtigte Chancen. Mit den Worten:“Lassen Sie mich durch, ich bin Arzt!“ schoss ich durch die Reihen. Welche sich allerdings just in diesem Moment in ihrer Auflösung befanden. Wie zu befürchten war, hatten auch dutzende anderer Kunden den gleichen Einfall. Mit ungeahnter Rücksichtslosigkeit machten sich die gehetzten Horden auf den Weg, der eigentlich mein Weg war. Frauen schrien, Kinder weinten und Einkaufswagen karambolagierten. Mittendrin ich! Im Endeffekt stand ich genauso weit hinten wie vorher, nur dass ich jetzt vor Kasse eins war. An Kasse sieben ging es derweil zügig voran. Eine Rückkehr dorthin verwarf ich aber.
Ob ich sie vielleicht vorlassen könnte, fragte eine alte Dame, die nur eine kleine Tasche mit zwei drei Sachen bei sich trug. Ich ließ sie gewähren. Man ist schließlich kein Unmensch. Sie bedankte sich höflich und lotste ihre Enkeltochter, die in einem der ganz großen Einkaufswagen die 127 zusätzlichen Artikel beherbergte, an mir vorbei. Oma und Enkelin breiteten die Einkäufe auf dem Laufband aus. Es blieb kein Quadratzentimeter Platz mehr übrig. Die einer absoluten Erschöpfung offensichtlich sehr nahe befindliche Kassiererin, zog stoisch einen Artikel nach dem anderen über den Scanner, der mit einem verträumten „Büp“ signalisierte, dass er den Strichcode des Produkts gelesen hatte. Nach dem letzten „Büp“, ich hatte meinerseits das Laufband in Beschlag genommen, sprach die Discounterangstellte die magischen Worte: „Das macht 148 Euro und 17 Cent! Zahln se bar oder mit Karte?“ Oma, die offensichtlich nicht wusste, welche Karte gemeint sein könnte, war es Pik sieben oder eine Postkarte oder was, nuschelte dass sie bar bezahlen wolle und begab sich sofort auf die Suche nach dem Portemonnaie. Eine leichte Ungeduld legte sich auf mein Gemüt, wie der Morgentau auf einen Grashalm.
Die Geldbörse war aber erstaunlich schnell gefunden. Doch jetzt begann das Zählen. „Dreißich, Vierzich, Siebzich“, murmelte Großmütterchen, während sie die Geldscheine zählte und die Enkelin gelangweilt Kaugummi kauend der Dinge harrte, die da kommen würden. „Zähl schneller Du alte Schrippe“, dachte ich. Beklemmungen machten sich breit in mir und ich wollte am liebsten aus dem Laden laufen. Meinetwegen auch ohne Einkäufe. „Fünfundneunzich, Hundert!“ Die Ungeduld erfasste auch die Wartenden hinter mir. „Geht´s da vielleicht mal schneller?“ „Watt dauert das denn so lange?“ „Kann man sich da vielleicht mal beeilen? Ich hab noch Essen auf dem Herd!“ „Das trifft sich, ich hab Hunger, da komm ich doch gleich mit“,sagte ich. Aber Großmütterchen focht das nicht an. Sie zählte seelenruhig weiter. Jetzt kam das Kleingled dran. „Hundertsiebenundreißich, Hundertachtundreißich, Hundertneunundreißich. So, geschafft. Stimmt so. Den Rest könnse behalten!“ „Nee Muttchen, das reicht nicht“, sagte die Kassiererin und wiederholte die 148 Euro und 17 Cent. „Ja nee, das reicht dann ja wirklich nicht“, sagte Oma, „na dann zahl ich mit Karte!“ Die Kassiererin rollte mit den Augen und ich mit den Fußnägeln.
„Sie müssen die Karte hier reinstecken!“ „Wie? So?“ „Nee, andersrum. Der Magentstreifen muss rechts oben sein!“ „Ich hab jetzt aber keinen Magneten dabei“, sagte Omi und an ihre Enkelin gewandt: „Laura Schatz, hast Du einen Magneten für mich?“ „Oh Mann Oma“, pampte die verzogene Göre zurück, “ die Tussi meint den schwarzen Streifen auf der Karte!“ Genervt half der Teenager der Mutter eines ihrer Elternteile bei dem Einführen der Karte in den dafür vorgesehenen Kartenleser. „So jetzt müssn se noch ihre Geheimzahl eingeben“,sagte die Verkäuferinnentussi. „Welche ist das denn?“ fragte Oma „Wissen Sie das vielleicht?“ „Nee woher denn!“ „Laura Schatz, magst Du Deine Mama mal eben anrufen, ob sie meine Geheimzahl vielleicht weiß?“
Die angesprochene und noch mehr genervte Enkelin tat ihrer Oma widerwillig den Gefallen und siehe da, sogar mit Erfolg. Sie flüsterte der Großmutter ins Ohr „Eins Null Zwei Sieben?“ fragte Oma so laut, dass es auch der Letzte in der Reihe hören konnte. Die Enkelin korrigierte flüsternd. „Ah, Drei Null Zwei Sieben!“, wiederholte die Großmutter und tippte die Zahlen ein. Und oh Wunder, sie waren richtig. Die Transaktion näherte sich ihrem Ende. Der Wagen war bepackt, die Rechnung beglichen und Oma und die verzogene Göre machten sich auf den Weg. Jetzt war es soweit. Ich war an der Reihe. Dachte ich zumindest. „Nee, diese Kasse ist jetzt geschlossen! Hamse das Schild nicht gesehen?“ fragte die Kassiererin. Das Schild, auf dem stand, dass man sich nicht mehr anstellen solle, weil diese Kasse schließen würde, hatte ich unter meinen Einkäufen begraben. „Kasse sieben hat noch offen, stelln se sich doch da einfach an!“
Im später anschließenden Prozess wurde ich wegen des tätlichen Angriffs auf ein Laufband vor der Kasse eines Discounters zu 70 Sozialstunden verurteilt. Mein Therapeut sagt, ich sei aber insgesamt auf einem guten Weg.