Mein zweiter Kuss war (k)ein komplettes Desaster und er sollte meine Einstellung dem weiblichen Geschlecht gegenüber nachhaltig beeinflussen. Oder auch nicht, ich bin mir da nicht sicher. Seit dem ersten Desaster waren ungefähr sieben bis acht Jahre vergangen. Zeit genug für ein paar grundlegende Erkenntnisse. Die wichtigste von ihnen lautete: Mädchen sind anders als Jungs. Dieser bahnbrechende Lichtblick ereilte mich bereits in der vierten Klasse, als ich damit begann für ein Mädchen zu schwärmen. Selbstverständlich behielt ich diese Angelegenheit für mich, denn es handelte sich bei der umschwärmten Person, wie erwähnt, um ein Mädchen und die waren eigentlich eher doof. Für Jungs schwärmte ich aber nicht, auch wenn sie weniger doof waren als die Mädchen.
Dass Mädchen natürlich nicht doof waren, zumindest nicht alle, also mein Schwarm war auf jeden Fall die ganz große Ausnahme, war mir schon klar, aber ich hätte es niemals öffentlich zugegeben. Was also tun, mit den Schwärmereien? Sollte ich es ihr sagen? Einem Wesen, das offensichtlich von einem fremden Planeten kam und mit einer engelsgleichen Erscheinung gesegnet war? Niemals! Mein Ruf wäre hinüber gewesen. Ich wusste zwar nicht was die Sache mit dem Ruf zu bedeuten hatte, aber es klang wahnsinnig wichtig. Schlimmer noch war die Ungewissheit über die Reaktion der heimlich Angehimmelten. Was würde sie tun? Wahrscheinlich würde sie mich auslachen. Das wäre mein Tod und für den war ich noch nicht bereit. Ich beschloss das Ganze für mich zu behalten und entdeckte die Welt der Tagträumereien für mich.
Wie ich aus einschlägigen Filmen wusste, waren Mädchen, im Allgemeinen dazu da, hübsch auszusehen und von einem Held gerettet zu werden. Popeye war da ein Paradebeispiel. Olivia wurde von Bonzo bedroht und schrie „Hilfe Popeye!“ Der Gerufene pflügte sich Spinat aus Dosen rein, bekam Muskeln wie Hammer und Amboss, vermöbelte Bonzo, rettete Olivia und dann….. Dann hat er sie in den Arm genommen. Glaube ich zumindest. Ich hoffte, dass sie nicht auch noch geknutscht hatten. In den Arm nehmen reichte völlig. Das mit dem Knutschen war ja eine heikle Sache, wie ich wusste.
Ich wollte auch ein Held sein und meine Olivia retten. Wovor auch immer. Es gab nur ein paar Probleme. Ich mochte keinen Spinat und meine Muskeln waren nicht Hammer und Amboss. Eher Nadel und Faden, oder Wackel und Pudding. Wenn ich ehrlich sein soll, hatte ich zwischen den Oberarmknochen und der Haut nicht einmal den Ansatz von Muskeln. Da war nichts. Absolut nichts! Vielleicht nicht ungewöhnlich in meinem Alter, aber sehr hinderlich, wenn man einen Schurken niederschlagen wollte. Ich musste also andere Tagräume haben. Vielleicht sollte ich meine Holde vorm Ertrinken retten. Ja, das war viel besser.
Es dauerte lange bis ich mir in meiner Träumerei eine Szenerie ausgedacht hatte, in der sie auf logisch begründete Weise ins Wasser fiel und zu ertrinken drohte. Todesmutig sprang ich hinterher, in die eiskalten Fluten von diesem Gewässer, dass meinen Schwarm verschlingen wollte. Aber noch während der Flugphase ereilte mich die Erkenntnis, dass ich gar nicht schwimmen konnte. Und weil ich ein realistischer Tagträumer war, kam ein großer Junge aus der fünften, oder vielleicht sogar der sechsten Klasse und rettete uns beide. Mir wurden Vorwürfe gemacht, weil ich so dämlich war und ins Wasser sprang ohne schwimmen zu können und er verschwand Arm in Arm mit meiner Angebeteten in Richtung Sonnenuntergang. Ich hätte vorher einen Tagtraum mit Schwimmkurs haben sollen, aber man kann ja nicht an alles denken. Ach, Tagträume waren auch nicht das Wahre. Aber die Schwärmerei blieb noch ein Weilchen.
Es gibt ein Phänomen, das sich am besten am Beispiel von schwangeren Frauen erklären lässt. Man sieht sie im Alltag eher vereinzelt, aber sobald die eigene Frau schwanger ist, sieht man sie überall. Die ganze Welt scheint nur noch aus Schwangeren zu bestehen. An jeder Ecke lauert eine von ihnen. Das geht dann nahtlos in den Kinderwagenmodus über. Sobald der Nachwuchs auf der Welt ist und man mit dem Kinderwagen durch die Stadt, das Dorf , den Ort schiebt, sind da überall Kinderwagen.
Genauso war es bei mir und den Mädchen, nur ohne dicke Bäuche und Kinderwagen. Es geschah in etwa mit Eintritt in die siebte Klasse. Lange hatte ich Mädchen, bis auf eine Ausnahme, eher beiläufig registriert. Aber dann, mit einer gewissen Urgewalt, waren sie plötzlich überall . Aus dem Boden geschossen wie die Pilze im September. Was war passiert? Woher kamen sie so plötzlich? Waren sie vielleicht Raupen, die sich an einen Baum gehängt hatten um dann zu Schmetterlingen zu werden? Die Vorstellung mit den Raupen wollte mir so gar nicht gefallen und ich beschloss, diesen Gedanken nicht weiter zu verfolgen.
An jeder Ecke waren jetzt Mädchen und sie sahen allesamt toll aus. Der Wahnsinn. Ich wünschte mir mindestens acht Augen und den Hals einer Eule. Da ich beides nicht hatte, musste ich mit dem arbeiten, was mir Mutter Natur gegeben hatte. Ich beanspruchte meine Augen und die Nackenmuskulatur bis aufs Äußerste. Dass meine schulischen Leistungen zu dieser Zeit den Bach runter gingen, war ein unangenehmer Nebeneffekt. Wesentlich schlimmer war es aber, wenn mein Blick erwidert wurde, denn ich war entsetzlich schüchtern. Ein Blick zurück von jenen Fabelwesen, die elfengleich über die Korridore der Schule schwebten und mein Kopf wurde rot wie das Haltesignal einer Ampel. Ich bekam auch sonst häufig einen roten Kopf, bei jeder passenden und erst recht unpassenden Gelegenheit. Manchmal wäre ich lieber grün vor Neid oder bleich vor Schreck gewesen, aber man kann sich die Farben nicht immer aussuchen. Leider. Warum ich so schüchtern war, konnte ich mir nicht komplett erklären, aber meine körperliche Erscheinung war bestimmt ein wesentlicher Faktor.
War ich in der vierten Klasse dünn, so verstärkte sich dieser Zustand in den kommenden Jahren erheblich. Das Wachstum hatte mich erreicht. Ich wurde immer größer, ohne dabei großartig an Gewicht zuzulegen. Ich war so dünn, dass meine beiden Beine locker in ein Hosenbein gepasst hätten. Röhrenjeans waren damals schwer angesagt, weil sie so eng am Bein lagen, aber auch in der kleinsten Größe schlackerten sie an meinen Beinen herum. Ich hatte schmale Schultern, strohblondes Haar und meine Bizeps glichen einer Erbse. Es gab Jungs in meiner Klasse, bei denen waren es Tennisbälle. Da konnte ich mit dem Pickel auf dem Oberarmknochen nicht mithalten. Ich mochte meine strohblonden Haare und meinen dünnen Körper nicht. Ich wollte eine anderen Haarfarbe haben und nicht mehr so dünn sein. Hat mittlerweile geklappt, ist aber auch nicht das Wahre. Man sollte grundsätzlich vorsichtiger sein mit seinen Wünschen.
Wenn man also optisch schon nix hermachte und auch nicht durch übermäßige Intelligenz hervorragte, dann war Sport die Fahrkarte in die Glückseligkeit. Du konntest als Junge dumm wie Brot sein, aber wenn Du einen Lederball vernünftig treten konntest, warst du ein gemachter Mann. Wenn man so auf die Bundesliga schielt, hat sich daran aber auch gar nichts geändert. Aber ich war eine Niete im Sport. Besonders beim Fußball. Wenn im Sportunterricht Mannschaften gewählt wurden, dann nahm man zuerst die Sportskanonen unter den Jungs, ging zu den halbwegs Tauglichen über, um dann nach den männlichen Nieten die Mädchen zu wählen. Mich nahm man erst, wenn die Mädchen aus der Parallelklasse keine Zeit hatten.
Aber natürlich war nicht alles blöd damals. Es bildeten sich Cliquen, so nannte man damals die Ansammlungen von Jugendlichen, die sich zum Herumlungern und allem was Jugendliche so taten, zusammenfanden. Wir hatten auch eine Menge Spaß und ich hatte einige weibliche Bekannte, die im Allgemeinen sehr nett waren, aber ansonsten nichts von mir wollten. Wer sollte es ihnen verübeln. Aber ich war jetzt so weit. Ich hatte das Trauma der weißen Lederjacke überwunden. Überall um mich herum bildeten sich Pärchen, die sich küssten und wer weiß was sonst noch machten. Ich mochte es mir nicht ausmalen, aber Dr. Sommer sagte, das sei alles normal. Ich persönlich wollte in dieser Hinsicht nicht mit der Tür ins Haus fallen und beschloss, dass ich mich auch mit der Küsserei zufriedengeben würde. Das konnte nicht besonders schwer sein. Schließlich verfügte ich über eine einschlägige Erfahrung, wenn sie auch nur sehr kurz war. Was mir fehlte war nur ein passendes Gegenstück.
Da ich ja entsetzlich schüchtern war und den Charme einer geschlossenen Auster versprühte, war die Suche nach einer Kusspartnerin ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. Alle mir bekannten Mädchen zogen es vor, sich einen richtigen Mann, äh Jungen zu suchen. So einen mit Bizeps und vielleicht auch schon ein paar Barthaaren. Nicht, dass sie mich nicht nett fanden, aber auf diesen Zetteln mit „Willst du mit mir gehen? Ja? Nein? Vielleicht?“ hätte bei mir noch „Was isn das für ´ne bescheuerte Frage?“ gestanden.
Die Wende kam aus Frankreich. Genaugenommen war es ein Schüleraustausch mit einem Ort in Südfrankreich, in dessen Zuge eine Delegation der dort ansässigen Schüler für 14 Tage zu uns kam. Es war Sommer. Es waren die frühen Achtziger mit allen modischen Entgleisungen und einer Musik, die oftmals wesentlich besser war als ihr Ruf. Und diese Jugendlichen aus einem Weit entfernten Land waren für uns der Gipfel der Exotik. Da sie auch am regulären Unterricht teilnahmen, war es für diese zwei Wochen Essig mit dem Lernen. Die Mädchen himmelten diese dunkelhaarigen fremden Jungs an, als wenn sie vom anderen Stern kämen und wir, die einheimischen männlichen Jugendlichen benahmen uns noch alberner als sonst, um den Französinnen zu imponieren. Die müssen uns für komplette Idioten gehalten haben. Womit sie der Wahrheit erstaunlich nahe kamen.
Auch außerhalb der Schule verbrachten wir viel Zeit mit unseren Gästen. Eine tolle Zeit. Wir hatten mehr Spaß als wir erhofft hatten und die sprachlichen Barrieren nahmen wir mit dem uns eigenen Humor. „Par les Vous Pommes Frites?“ war in diesem Zusammenhang noch der Gipfel des Einfallsreichtums.
Das Leben erschien mir mit einem Mal so unbeschwert und leicht. Ich fühlte mich derart befreit, dass ich mir ein Herz fasste und es mir gestattete eine Französin toll zu finden. Doch damit nicht genug, ich sprach auch mit ihr. Das Erstaunlichste daran war, dass ich weder auf der Stelle tot umfiel, noch einen roten Kopf bekam. Wir unterhielten uns mit einer Mischung aus Deutsch, Englisch, Französisch (von dem ich nicht eine Silbe verstand) und Händen und Füßen. Wir waren einander sympathisch, das merkte selbst ich sofort und es beflügelte mich sehr. Eine nicht geahnte Leichtigkeit überkam mich, wenn ich mit ihr „redete“. Zaghaft näherte ich mich an und während ich noch damit beschäftigt war, mir eine Strategie zurechtzulegen, die es ihr unmöglich machte, mir einen Kuss zu verweigern, kam einer unserer Fußballasse mit Hammer und Amboss in den Armen vorbei, redete zwei, drei knappe Sätze mit ihr und kurz darauf knutschten die beiden, als ob es kein Morgen gäbe. Was zum Henker hatte der ihr bloß erzählt? Schoss es mir durch den Kopf. Gefolgt von: „Du musst Dich in Zukunft kürzer fassen!“
Natürlich war ich nach dieser offensichtlichen Niederlage geknickt, aber es gab ja noch andere französische Mädchen und außerdem blieben sie noch ungefähr eine Woche. Da ich selbst meiner Leichtigkeit beraubt war, bildete sich unter unseren Mädchen eine Samariterabteilung, die meinem ersten (oder besser zweiten) Kuss auf die Sprünge helfen wollten. Man trat in Geheimverhandlungen mit der französischen Seite, mit dem Ergebnis, dass eine Französin gefunden wurde, die sich bereit erklärte, mit mir ein kleines Techtelmechtel einzugehen. Sie hatte jede Menge Sommersprossen und einen recht breiten Mund wie mir schien.
Ort der Handlung war ein Partykeller und ungefähr dreißig Mitglieder unserer deutsch- französischen Freundschaft waren anwesend. Es war beschlossene Sache, sie und ich würden uns küssen. Jetzt und hier. Mein Herz schlug wie wild und mir wurde ein wenig schwarz vor Augen. Aber schließlich fasste ich mir ein Herz (offensichtlich hatte ich mehrere) erhob mich und ging unsicheren Schrittes auf das französische Lager zu. Dort erhob auch sie sich und kam mir entgegen, offensichtlich genauso schüchtern wie ich. Die Gedanken rasten durch meinen Kopf. „Wie küsst man eigentlich?“ „Muss der Mund offen oder geschlossen sein?“ „In welche Richtung neige ich meinen Kopf?“ „Habe ich Mundgeruch?“ „Kriegt man vom Küssen Kinder?“ „Was hatte Dr. Sommer noch gesagt?“ „Wo ist der Notausgang?“. Das Schlimmste war, dass ich genau wusste, dreißig Augenpaare würden uns beobachten.
Und dann kam ich auf sie zu, mit geneigtem Kopf und dem Mund eines Karpfens. Sich in ihr Schicksal ergebend, kam sie mir entgegen, bis schließlich unsere Köpfe bedrohlich dicht beieinander waren. Und dann war es soweit, unsere Lippen berührten sich. Das heißt meine legten sich wie ein Pömpel über die ihren. Egal wie groß ihr Mund auch war, meiner passte noch darüber. Auch wenn es mir wie eine Ewigkeit vorkam, verharrten unsere Münder nur für wenige Augenblicke aneinander. Leidenschaftslos, wie ich vermute, aber dennoch intensiv genug, dass sich meine Gedanken und Gefühle überschlugen. Ich hatte schon häufig von Küssen gelesen, die nach Erdbeere oder Honig schmeckten. Das konnte ich so nicht bestätigen. Eigentlich schmeckte ich gar nichts. Im Gegenzug war es höchstwahrscheinlich, dass sie sich über den herben Geschmack von Mettbrötchen mit Zwiebeln, garniert mit kaltem Zigarettenrauch erfreuen durfte.
Ich hatte es also getan. War doch gar nicht mal so übel. Wie der Rest des Tages verging weiß ich nicht mehr, aber ich fühlte mich irgendwie großartig. So als wäre ich in einen exklusiven Club aufgenommen worden, bei dem ich bisher nur ins Schaufenster geblickt hatte. Ich befand mich in einer mir bis dahin unbekannten Hochstimmung. Auch noch, als ich mich auf den Heimweg machte. Ich ging nach draußen und erhaschte noch einen Gesprächsfetzen. Irgendeinen Harald, oder Jens, oder Olaf hörte ich sagen „…. und dann hat der mit ihr rumgeknutscht. Die hat voll die Sommersprossen und nen breiten Mund. Würde ich nicht mal mit der Kneifzange anfassen….“
Da war sie dahin die gute Stimmung. Der Zauber war verflogen. Es blieb bei dem einen Kuss. Wahrscheinlich hatte auch jemand aus dem französischen Lager etwas Ähnliches über mich erzählt. Meine Kusspartnerin und ich gingen uns für den Rest der Zeit aus dem Weg. Was eigentlich blöd war. Denn die Sommersprossen und der Mund sahen auf eine gewisse Art sehr schön aus. Erst am Tag der Abfahrt wurde ich mir dessen bewusst. Zu spät.
Ein paar Wochen später erreichte mich ein Brief von der Französin, die mit dem Fußballer rumgemacht hatte. Sie würde mich doch sehr nett finden und ob wir nicht eine Brieffreundschaft beginnen wollten. Nein, ich wollte nicht.
Und der Harald, Jens, oder Olaf oder wie auch immer er heißt, dessen Urteil mich so beeinflusste, ist ewiger Junggeselle geblieben und hat wahrscheinlich niemals irgendwen geküsst. C´est la vie