Es ist zwar nicht ganz Lummerland, aber eine Insel ist es doch

Es gibt eine Erinnerung an unsere Zeit auf Rhodos vor rund 26 Jahren, die mir unauslöschlich im Gedächtnis geblieben ist. Wir hatten uns damals ein Auto gemietet und sind damit einmal rund um die Insel gefahren. Die Erinnerung beginnt damit, dass wir bergauf fuhren. Und zwar ziemlich lange. Ich übertreibe jetzt nicht, wenn ich sage, dass wir mehrere hundert Meter hoch gefahren sind. Rhodos ist nämlich teilweise ziemlich bergig. Das war damals so und hat sich bis heute nicht geändert. Wir fuhren also diese Straße, die erstens recht schmal und zweitens nicht im besten Zustand war, hoch und höher und noch höher. Manchmal ging es geradeaus, oft aber war es kurvig und ich war irgendwie froh, dass wir wenig Gegenverkehr hatten. Und nachdem wir bis an den Rand der Stratosphäre hochgefahren waren, erschien vor uns eine sehr scharfe Kurve und dahinter war nur der makellos blaue Himmel zu sehen. Wenn die Erde eine Scheibe wäre, dann war ich mir sicher, dass sie dort zu Ende gehen würde.

So ganz aus er Luft geholt ist das jetzt nicht, denn diese Kurve dieser schmalen und renovierungsbedürftigen Straße markierte an dieser Stelle das Ende der Insel. Ein Rand, der hoch war und von dem es so steil runter ging, dass es steiler nicht ginge. Das Ganze war so hoch, wenn man da runterfallen würde, hätte man unterwegs genug Zeit noch das eigene Testament zu verfassen und von einem Notar verlesen zu lassen, wenn denn einer vor Ort wäre. Wir fuhren also auf diese Kurve zu, die eine Linkskurve war und somit den unglücklichen Umstand erzeugte, dass wir an der Außenseite der Straße und somit nur wenige Zentimeter vom sicheren Verderben entfernt waren. Ich bin ja nicht gerade pingelig, aber das war dann doch schon ein kleiner Schockmoment für mich und mein Atem ging schneller, auf eine eher außergewöhnliche Art und Weise. Für einen kurzen Moment gab ich mich einer inneren Unruhe hin und bekam Angst, das muss ich mal ungeschminkt zugeben. Für die richtig echte Panik war, wie immer in solchen Situationen, der Hase zuständig : „Wir werden sterben!“ „Nein, werden wir nicht“, startete ich einen lahmen Versuch sie und letztendlich auch mich zu beruhigen. Es war wichtig, dass wir rational an die Sache herangingen. Ich hyperventilierte ein wenig und des Hasens Vertrauen in mich schwand zusehends.

Die Straße verlief noch eine lange Weile auf diesem todbringenden Niveau und wir hatten keine Chance, wir mussten da lang fahren. Wenden war unter diesen Umständen der wirklich sichere Weg zu einem doch sehr verkürzten Leben. Natürlich ist so ein gähnender Abgrund per se jetzt nicht gefährlich. Solange man da nicht runterfällt, kann eigentlich gar nichts passieren. Aber wenn, dann ist es wirklich zappenduster. Mit einer gehörigen Portion Respekt fuhr ich unsicher und ein bisschen nervös weiter. Bis ich in der Ferne etwas sah, das unser Schicksal besiegeln könnte: Ein Bus kam uns entgegen. Was in zweifacher Hinsicht fatal war. Denn erstens war so ein Bus breiter als ein normales Auto und auf dieser engen Straße, mit dem Abgrund auf der einen und einem Felsmassiv auf der anderen Seite, könnte der Platz dann doch recht knapp werden. Das zweite Fatale war, dass wir wussten, wie die Busfahrer hier auf Rhodos ihre Busse fahren. Sie bremsten für Niemanden und für Touristen erst recht nicht. Für einen Busfahrer gab es nur das Gaspedal. Gebremst wurde nur zu Feierabend. Wenn man einen Bus auf sich zukommen sah, war es immer ratsam zur Seite zu springen. Was in diesem Moment an dieser Stelle natürlich nicht ging. Einerseits war es technisch nicht machbar und wo hätten wir auch hinspringen sollen?

Der Bus kam näher und näher und ich wurde langsamer und langsamer. Es war wie eine Art Hasenfußrennen, bei dem allerdings von vornherein fest stand, wer hier der Hasenfuß ist. Erwartungsgemäß wurde der Bus nicht langsamer. Nein, als er uns anvisiert hatte, gab der Mann am Steuer auch noch Gas. Er kam beschleunigend auf uns zu und ich blieb stehen. Gefühlt waren die rechen Räder schon ein kleines Stück über dem Abgrund und dem Hasen wurde beinahe schlecht. Bis kurz vor dem Moment, als der Bus uns passierte, hatte ich einen pausenlos hämmernden Gedanken: „Ob das wohl so alles passt?“ Was, wenn das jetzt mein letzter Gedanke war? Dachte ich und war der Meinung, ich hätte dann doch etwas niveauvoller denken können. Irgendwas Weltbewegendes. So, als hätte ich im letzten Moment auf Erden noch die Frage aller Fragen stellen und lösen können. Aber ich dachte nur: „Ob das wohl so alles passt?“ Famous last words.

Aber wo sollte man jetzt plötzlich noch Niveau herkriegen, das hatte ich schließlich bisher auch nicht gebraucht. Als der Bus so ziemlich bei uns war, kniff ich die Augen zu. Ohne zu wissen, was das denn bitteschön bringen sollte. Würde der Bus, falls er uns rammen würde, uns nicht rammen, nur weil meine Augen geschlossen sind? Ich glaube nicht. Ich spürte förmlich, wie er uns rammen würde und wir dann in den Abgrund, der immer noch gähnte, fallen und auf einem Felsvorsprung unten, direkt am Wasser zerschellen würden. Noch Monate später würden Teile von dem Auto und von uns an irgendwelche Badestrände angespült und kleine Kinder würden dann vielleicht mal eine Hand als Zugbrücke für ihre Sandburg nehmen. Meine Phantasie ging ein bisschen mit mir durch.

Es wird jetzt wahrscheinlich wenig überraschen, wenn ich sage, dass wir heil aus diesem Dilemma hervorgegangen sind. Wir hatten augenscheinlich überlebt! Wie sonst sollte es mir möglich sein, diese Zeilen zu schreiben. Ich bin schließlich kein Ghostwriter. Das Leben zog nicht an uns herüber, aber der Bus. Er streifte uns nicht und wir sind auch nicht von dessen Fahrtwind in den Abgrund katapultiert worden. Das Ganze hatte positive Auswirkungen. Wir hatten überlebt und für mich waren wir fortan unverwundbar. Also fuhr ich den Rest der Inselrundfahrt mit einer gewissen Unbekümmertheit, die dem Hasen Angst machte. Aber ich war mir sicher, nichts konnte uns noch was anhaben. Und so fuhren wir an einigen markanten Punkten vorbei oder hielten an, wenn es zu schön zum Vorbeifahren war. Aus der Ferne sahen wir ein Kloster namens „Monolithos“, das gefühlt aus einem Fels gehauen war, der steil aus dem Meer hervorragte. Es erschien damals eine recht abenteuerliche Fahrt dorthin zu werden und nach dem Busvorfall hatten wir Abenteuer genug für diesen Tag. Wir fuhren weiter bis ans untere Ende der Insel.

Das untere Ende der Insel war eine riesige Sandfläche. Der größte Strand, den ich je gesehen hatte. Und das Tollste war, es gab hier keine Menschen. Außer uns war niemand da. Es war so himmlisch still und friedlich und wir fühlten uns, als hätten wir eine neue Welt entdeckt. Und so stand ich da mit dem Hasen und der Wind umspielte uns und es waren keine Stimmen zu hören. Man hätte hier einfach für immer bleiben können. Für immer an diesem traumhaft schönen Ort und die gesamte Hektik der Welt und des Alltags waren wir weggeblasen. Es war perfekt. Zumindest so lange, bis mir auffiel, dass es hier einen eklatanten Mangel an Hotels, Restaurants oder Kneipen gab. Was auf der einen Seite zwar recht idyllisch war, mir aber auf der anderen Seite Kopfzerbrechen bereitete. Was wenn ich mal Hunger kriegen sollte. Also gefühlt alle 15 Minuten? Die Idylle ist nur dann eine schöne Idylle, wenn man auch einen Platz zum Schlafen und einen gedeckten Tisch hat. Weit genug weg. um sich noch so richtig einsam zu fühlen und dicht genug dran, um problemlos die wichtigsten Bedürfnisse stillen zu können. Aber für den Moment, als wir hier standen und mal so richtig alleine waren, war es der tollste Ort der Insel und ich schwor mir, wenn ich jemals wieder nach Rhodos käme, würde ich auch hierher zurückkehren. Ein bisschen Einsamkeit ist Balsam für die vom hektischen Alltag gezeichnete Seele.

Eine weitere Station war damals das Schmetterlingstal. Wie der Name schon sagt, ist dieses ein Tal mit Schmetterlingen. Millionen, ach was sage ich, Milliarden von Schmetterlingen, die hier im Sommer an jeder Felswand, jedem Baum und jedem Irgendwas hingen und an diesem Ort so eine Art Sommerpause machen. Wir waren damals zur richtigen Zeit dort und deshalb sahen wir auch diese unfassbar vielen Schmetterlinge. Wir waren nicht allein. Der Zugang war damals nur mit einer Führerin (ohne kleinen Schnurrbart und Seitenscheitel) gestattet. Und das erste was die gute Dame uns erzählte war, dass man die Tiere möglichst nicht stören sollte: „Vermeiden sie laute Geräusche, sprechen sie leise und klatschen sie nicht in die Hände.“ Wir waren ein kleines Grüppchen, zu dem auch eine Familie mit einem kleinen, dicklichen Sohn gehörte. Und er sah mit großen Augen diese enorme Vielzahl an bunten Flattermännern und er war derart überwältigt, dass er vor Verzückung laut in die Hände klatschte und noch lauter rief: „Guck mal Mama, guck mal Papa, die fliegen alle!“ Und ich denke: „Schon mal „Es“ von Stephen King gelesen? Da fliegen auch alle, Du Spacken!“ Oder habe ich es gesagt? Ich weiß nicht mehr, man sah mich jedenfalls unfreundlich an.

Unser Hotel damals war etwas vom Wasser entfernt und wenn man eine kleine geteerte Straße hinunterging, dann kam man zu einer recht hübschen Bucht, in der man auch baden konnte. Der Strand war, naja, ein bisschen steinig und ungemütlich, weswegen wir auch manchmal mit dem Bus, oder Taxi, das damals sogar fast günstiger war als der Bus, nach Faliraki fuhren. Dort gab es einen schönen Sandstrand und ungefähr 17.000 Liegen mit Sonnenschirmen. Faliraki selbst hatten wir damals am Tag der Ankunft gesehen, als uns ein Shuttlebus zum Hotel fuhr und wir durch Faliraki mussten. Und ich erinnere mich gut, dass ich diesen Ort eher schäbig und unschön gefunden habe. Ein touristisches Moloch mit einer Kneipenmeile im Zentrum. Dort waren auf der einen Seite Deutsche und auf der anderen Seite Englische Lokale. Wo Barnabys Pub in direkter Konkurrenz zu Ulis Schnitzelbude gewesen ist. Die Straße selbst war bevölkert von Betrunkenen, die, ihrer Muttersprache beraubt, umhertorkelten und nicht mehr wussten, ob sie Männlein oder Weiblein, Kraut oder Thommy waren. Und genau da ist unser Bus durchgefahren und er ist nicht langsamer geworden. Busse werden hier wirklich nicht langsamer, das ist jetzt keine Erfindung.

Die alkoholisierte Menge brachte sich durch beherzte Sprünge an die Seiten in Sicherheit, während der zielorientierte Busfahrer unbeirrt seinen Weg fortsetzte. Wir fuhren durch Faliraki, das zu 98% aus irgendwelchen Läden bestand, die alle nur darauf ausgerichtet waren, den Touristen das Geld aus der Tasche zu locken. Nein, schön war es hier wirklich nicht. Außerdem gab es diese Kneipenmeile, ein paar hässliche und ein paar sehr schöne Hotels und eben diesen Sandstrand, zu dem wir noch häufiger fuhren. War ja nur ein paar Minuten per Taxi vom Hotel entfernt. Vielleicht tue ich Faliraki auch Unrecht und es gibt hier auch richtig schöne Ecken, aber wenn, dann sind sie wirklich gut versteckt. Der norddeutsche Fachbegriff dafür lautet: Da möchte man nicht tot überm Zaun hängen. Mal ganz abgesehen davon, dass ich auch lebendig nicht über irgendeinen Zaun hängen möchte.

Eine weitere Seehenswürdigkeit damals war die „Antony Quinn Bucht“, die zwar eigentlich anders heißt aber immer mit dem berühmten Schauspieler in Verbindung gebracht wird, der hier in den frühen 60er Jahren bei Dreharbeiten für den Film „Die Kanonen von Navarone“ diese Bucht entdeckt hat und es die Legende gibt, dass er sie vorübergehend sogar geschenkt bekommen hatte, weil…..keine Ahnung…..weil er hier badete, oder so. Ich habe im Übrigen auch einmal hier gebadet und der Hase auch, aber trotzdem hat man uns nicht gefragt, ob wie diese Bucht haben möchten, oder sie sogar in „Hasenbucht“ umbenannt. Und das, obwohl es „der“ Hase war, der hier gewesen ist.

Die Anthony Quinn Bucht war damals eine Art Geheimtipp und in der Hauptsache von Einheimischen frequentiert. Sie liegt nicht weit von unserem damaligen Hotel entfernt, war damals aber fußläufig nicht ohne Weiteres zu erreichen. Ich glaube man musste da schon eine Stunde hinwandern, oder aber, so wie wir an jenem Tag, mit dem Auto hinfahren. In Erinnerung geblieben ist sie mir als fast nicht touristisch erschlossenes Kleinod, eingerahmt von schroffen Felswänden und mit dem klarsten Wasser, dass ich bis dahin gesehen hatte. Das Wasser war so klar, dass man meinte, den Erdkern sehen zu können. Und auch hier schwor ich mir, wenn ich jemals wieder nach Rhodos kommen würde, dann auch ganz gewiss wieder hierher.

Und jetzt, etwas über 26 Jahre später, haben wir uns wieder ein Auto gemietet und gehen, oder besser, fahren wir auf eine Tagestour in unsere Erinnerungen. Das eben diese Erinnerungen löchrig sein können, haben wir auf zwei Ausflügen nach Rhodos Stadt gemerkt. Wir dachten, wir würden hier viele Dinge wiedererkennen, aber Pustekuchen. Wir wussten nicht einmal mehr, dass über der Altstadt eine riesige Festung thronte. Ein irrsinnig großer und beeindruckender Apparat, von dem behauptet wird, dass er schon seit dem 14. Jahrhundert hier stehen sollte. Ich hatte da so meine Zweifel. Wenn man den nicht erst in den letzten 25 Jahren hier gebaut hatte. Ich bin mir ziemlich sicher, so einen Komplex hätte ich mit Sicherheit nie vergessen. Aber auf der anderen Seite hatte ich schon ganz andere Sachen vergessen. Ich bin Weltmeister darin, Dinge zu verlegen und mich nicht daran erinnern zu können, wo ich sie gehabt habe, sofern ich mich überhaupt daran erinnern konnte, sie jemals besessen zu haben.

Aber unsere erneuten Besuche haben bleibendere Eindrücke hinterlassen. Malerische Gassen, die, wie in Faliraki, gesäumt waren von diesen Läden für Souveniers, Lederwaren, Geschäften für Modeimitate, Weine, Taschen und allem, was man irgendwie verkaufen konnte. Nur sieht das alles hier in der Altstadt von Rhodos Stadt wesentlich malerischer aus als in Faliraki. Außerdem gibt es hier an wirklich jeder Ecke, auf wirklich jedem Platz und in wirklich jeder noch so kleinen Gasse ein Restaurant, eine Taverne, eine Bar oder einen Imbiss. Und vor jedem Lokal steht mindestens ein, mehr oder weniger aufdringlicher, Mann und versucht jeden der vorbeiläuft in das jeweilige Etablissement zu lotsen.

Wenn ich es recht verstanden habe, war jedes Lokal das Beste seiner Art und alle würden sich freuen, den Hasen und mich bewirten zu können. Das waren viele nützliche Informationen auf einmal für mich und ich arbeitete an einer Taktik, wie wir möglichst wenige dieser netten Herren enttäuschen würden. Aber wer kann schon 250 (oder sind es noch mehr? ich weiß es nicht) Lokalitäten an einem Tag aufsuchen. Aber auf jeden Fall hat man mich hungrig gemacht und wir haben uns dann doch aktiv auf die Suche begeben. Oder besser gesagt, wir haben versucht einige Läden miteinander zu vergleichen. Wir haben uns dann für einen entschieden, der offen mit seiner Preisgestaltung umgeht und im Außenbereich die Speisekarte in verschiedenen Sprachen und mit den dazugehörigen Preisen ausliegen hat. Das Essen ist auch einigermaßen lecker und nicht über die Maßen teuer. Uns ist schon klar, dass man in einer derart schmucken und höchst frequentierten Altstadt auch immer einen etwas höheren Preis in Kauf nehmen muss. Das schöne Leben kostet auch immer ein bisschen mehr Geld. Was für uns eigentlich auch kein Problem ist, aber wenn man für einen Cocktail (alkoholfrei und in einer anderen Bar), der wahrscheinlich zu 95 % aus crushed Eis besteht, schon fast 10€ hinblättern muss, und der Drink auch keine Übergröße hat, dann ist die Schmerzgrenze doch überschritten und wir verlassen das Lokal bevor wir bestellen. Aber trotzdem sind alle, auch die Überteuerten, irre gemütlich und haben malerischen Außenbereiche. Das fasziniert mich genauso wie diese übergroßen Biere, die man an jeder Ecke kriegt. Überall sehe ich Leute vor diesen Gläsern sitzen, die mindestens anderthalb Liter fassen. Ich merke, das Paradies ist nicht weit weg von hier, nehme aber Abstand davon auch einen dieser löschteichgroßen Humpen zu leeren. Erstens haut man sich keine Tonnen Bier rein, wenn man zu zweit unterwegs ist und die eigene Partnerin kein Bier trinkt (irgendeinen Makel muss der Hase ja auch haben) und zweitens habe ich keine Lust hier im Viertelstundentakt pinkeln zu müssen.

Wir schlendern zweimal durch die Altstadt von Rhodos (einmal auch im Dunkeln, was noch eine Ecke idyllischer und schöner ist) und wenn ich ehrlich bin gibt es nicht viel, was wir wieder erkennen. Weder die Festung, die Gassen und Plätze, noch die Moschee in der Nähe der Festung ist irgendwo vor 26 Jahren so abgespeichert worden, dass wir sie jetzt wieder erkennen würden. Genaugenommen erkenne ich nur die zwei verzierten Sockel in der Hafeneinfahrt wieder, auf denen der Sage nach der Koloss von Rhodos gestanden haben soll und der Hase meint den Busbahnhof wiedererkannt zu haben, den wir auch damals genutzt haben. Es ist beeindruckend wie schön das hier alles ist und es ist noch beeindruckender wie viel wir davon wieder vergessen haben. Daher ist es für uns auch sehr spannend, wie die Fahrt mit dem Auto in die eigenen Erinnerungen verlaufen wird.

Zunächst einmal habe ich die grandiose Idee, genau andersrum zu fahren wie damals. Dann müsste die Kurve des Todes für mich auf der anderen Seite liegen und wir müssten nicht am Abgrund entlang fahren. Und so viel kann ich schon verraten, der Plan ist wahrscheinlich auch aufgegangen. Zum Teil zumindest, denn statt dem einen gefährlichen Streckenabschnitt, den ich an diesem Tag irgendwie nicht wiedererkenne, gibt es gut zwei Dutzend anderer Strecken, die nicht minder aufregend sind. Aber hinter mir liegen ja auch 26 Jahre mehr Fahrpraxis und Wagemut. Was den Hasen aber nicht im Geringsten zu beruhigen scheint. Aber das ist ja alles erst später an der Reihe. Wir starten bei unserem Hotel in nördlicher Richtung, biegen kurz vor Rhodos Stadt links ab und kommen auf die Westseite der Insel. Die Ortschaften sind anders als bei uns. Die Häuser sind eher größere weiß verputzte Mehrfamilienbunker. Rasenflächen gibt es hier nirgends. Außer in Ferienanlagen oder rund um Villen, die auch vereinzelt zu sehen sind. Freileitungen, die über einfachen Holzmasten führen sind hier nicht selten und man kann selten erkennen, wann ein Ort beginnt und wann er aufhört. Häufig stehen hier auch nur vereinzelt ein paar Häuser an den Straßenrändern.

Die Landschaft wechselt von karg und schroff über gebirgig, bis wieder hin zur kargen Variante mit einigen ausgetrockneten Flussbetten, die steinig die Straße unterqueren. Es regnet nicht oft auf Rhodos. Überall stehen die Skelette von unfertigen Häusern, die entweder noch irgendwann weiter gebaut werden, oder aber langsam verfallen, bis man sie irgendwann für altertümliche Ruinen halten könnte. Vielleicht ist das auch der Plan dahinter, dass man sie so verrotten lässt, oder es hat einfach das Geld gefehlt, man weiß es nicht. Auch wenn es nicht immer schön aussieht, gefällt es uns. Wenn man schonmal ein paar tausend Kilometer von der Heimat entfernt ist, möchte man auch, dass es irgendwie anders aussieht, egal ob schöner oder nicht.

Was aber immer und auch ausnahmslos toll aussieht ist der gesamte Bereich der Westküste. Ein beeindruckend schöner An- und Ausblick jagt den anderen. Es ist zuweilen unwirklich schön und man kann kaum glauben dass das alles echt ist. Wir haben uns vorgenommen uns nicht zu hetzen und immer da wo es schön ist anzuhalten und einfach das Hier und Jetzt zu genießen. Nach dem 25. „Jetzt und Hier Genießerstopp“ innerhalb des ersten Achtels der Strecke, überdenken wir ein wenig die Strategie. Man kommt keine paar hundert Meter weit ohne ein Ausruf des Entzückens und Erstaunens. Manches erscheint nicht real zu sein, was es aber dann doch ist. An einigen Stellen sehen wir das Ganze von weit oben und dann sind wir manchmal direkt am Wasser, das in hohen Wellen, die sich in Ufernähe überschlagen, ans Land rauscht. Und auch hier werden wir bestimmt vor 26 Jahren gewesen sein und wir erkennen…….Nichts…was aber nicht schlimm ist, denn so ist es fast noch schöner.

Die Zeit schreitet voran und mit ihr auch die unterschiedlichen Prioritäten vom Hasen und mir. Während ich so langsam mal Hunger kriege (was sonst sollte ich kriegen) sieht der Hase unsere Felle davon schwimmen und macht sich Sorgen darum, dass wir nicht alle Ziele, die wir angepeilt haben, auch wirklich erreichen können. Ich verkneife mir das mit dem Essen, möchte aber unbedingt noch an das Südende der Insel. Mir ist nach dieser fast unendlichen Einsamkeit. Für mich der Inbegriff der Erholung. Es führt ab einem gewissen Punkt nur eine Straße zu diesem Punkt und sie ist einige Kilometer lang und führt auch an ein paar schönen Ecken vorbei. Ich merke die ganze Zeit schon, dass der Hase diesen Termindruck verspürt. Sie möchte noch nach Tsambika Beach und wir beide noch zu unserem Hotel von damals und zur Anthony Quinn Bucht. Schließlich haben wir auch ein bisschen Zeit für Monolithos gebraucht, dem Kloster, das wir diesmal wirklich angesehen haben.

Genaugenommen eher eine Klosterruine auf einem schroffen Felsen, ein paar hundert Meter über dem Meeresspielgel und ein sagenhafter Aussichtspunkt, den man noch so rund 30 Meter hoch über halb verfallene Treppen erreicht und von dem man keine Steine mitnehmen darf. Bitte was? Das mit den Steinen steht auf einem Schild in verschiedenen Sprachen und ich denke mir so: Wie ticken die Leute, dass man so ein Schild hinstellen muss? Wer macht sowas? Sind es die gleichen Leute, die auch im letzten Jahr sich um Klopapier geprügelt haben? Was um alles in der Welt möchte man mit einem Stein von einem halb verfallenen Gemäuer? Unverständlich so ein Verhalten, finde ich. Obwohl der eine Stein da im Mauerwerk, der scheint locker zu sein. Den sollte irgendwer mal rausnehmen, bevor er runterfällt und noch jemand zu Schaden kommt. „Was machst Du da?“, fragt der Hase, als sie mich dabei erwischt, wie ich an diesem Stein herumnestele. „Nichts“, lüge ich und gehe zu ihr, den Ausblick genießen.

Nach dem kleinen Intermezzo steigen wir uns Auto und fahren weiter. Mal ohne Navigationshilfe. Kann von hier aus ja so schwierig nicht sein. Die Straße ist, im Vergleich zu allen anderen heute, schmal, schlecht ausgebaut, holprig, staubig und an einigen Stellen recht gefährlich. Erinnerungen an damals werden wach. Aber dies hier scheint noch etwas spezieller zu sein. Es geht kurvenreich und steil talwärts und mein ganze fahrerisches Können ist gefragt und wir brauchen wohl demnächst einen Seelsorger für den Hasen. Aber bald sind wir unten und dann wird es bestimmt auf einer weniger anspruchsvollen Strecke wieder weiter gehen. Dass ich mich nicht daran erinnern kann, hier jemals langgefahren zu sein, ist nicht weiter von Belang. Ich kann mich an so Vieles nicht erinnern. Unten angekommen müssen wir erkennen, dass es eine Sackgasse ist und wir denselben Weg wieder zurückfahren müssen. Der Hase freut sich nur verhalten und kann den tollen Strand, an dem wir landen, nicht vollständig genießen.

Das Alles führt zu unplanmäßigen Verzögerungen, die im krassen Gegensatz dazu stehen, dass wir uns heute einfach mal nur treiben lassen wollen. Ganz ohne Druck, aber doch immer mit einem gewissen Zeitplan, den der Hase im Hinterkopf behält. Was dazu führt, dass meine Anregungen, vielleicht doch mal eine Kleinigkeit zu essen, immer wieder ungehört verhallen. Als ich dann auf diese einsame Straße gen Süden abbiege und wir an den entlegensten Punkt gelangen wollen, hat sich beim Hasen eine innere Unruhe aufgebaut. Aber ich bleibe hartnäckig und freue mich auf diese Einsamkeit, die uns gleich erwartet.

Eine Einsamkeit, die wir mit gefühlt 2.376 Leuten, einer Unzahl von Autos und Kitesurfern auf der einen Seite der Landzunge und Windsurfern auf der anderen Seite teilen. Ein Hotspot (wie man so schön sagt) für diese Sportarten. Der Menschenauflauf hier ist ein gehöriger Dämpfer für mich. Auch dass es hier auch Lokale und Läden für Surferzubehör (warum nur) gibt, ist ziemlich ernüchternd. Ich fühle mich, als habe man mir in der Vergangenheit meine Schatzkarte geklaut und nun die Höhle geplündert, in der das ganze Gold lag. Und wie immer in solchen Momenten des Schreckens kriege ich Hunger. Eigentlich habe ich schon eine ganze Weile Hunger. Und Lokale gibt es ja nun auch hier. Aber der Hase ist einsilbig und weil ich diese eine Silbe sehr gut lesen kann (man lernt solche Dinge in langen Beziehungen), ist mir klar, dass wir hier nicht länger bleiben, als irgend nötig. Und so laufen wir im Stechschritt über diese enorm große Sandfläche bis zu dem Punkt, an dem das Mittelmeer der Ostseite mit dem Mittelmeer der Westseite zusammentrifft. Auch wenn es mittlerweile hier eine Invasion von Touristen gibt, bin ich froh an dieser Stelle zu stehen und den Augenblick zu genießen. Der Hase hoppelt wieder zum Auto zurück und ich beschließe, dass ich mich mit dem Genießen beeilen werde.

Es ist jetzt nicht so, dass die Ostküste von Rhodos nicht schön ist. Es gibt auch hier einige wirklich tolle Bereiche, aber die Westküste ist eindeutig schöner. Die Landschaft beeindruckender, das Mittelmeer wilder und insgesamt gibt es ein paar tolle Aussichtspunkte mehr. Was zur Folge hat, dass wir insgesamt im Osten etwas schneller vorankommen. Aber wie damals lassen wir auch diesmal die Stadt Lindos aus. Lindos soll die schönste Stadt auf Rhodos sein und ein Blick aus der Ferne scheint das Ganze zu bestätigen. Weiß verputzte Häuser mit flachen Dächern, die ineinander zu greifen scheinen und an den Hängen verschachtelt aufgereiht stehen, werden von einer mächtig großen Akropolis behütet. Eigentlich möchte ich auch gerne mal hoch zu dieser Akropolis, aber dass es über hundert Meter über steile und brüchige Treppen hinaufgeht, schreckt mich ein bisschen ab. Das hole ich nach, wenn wir irgendwann mal wiederkommen werden. Bis dahin erfreue ich mich an den vielen Olivenbäumen, die wild oder auf Plantagen überall das Landschaftsbild bestimmen. Und an Ziegen, die es fast noch mehr gibt als Olivenbäume und die zuweilen auch die Verkehrsgesetze mal in die eigene Hand oder Hufe nehmen. Wenn mal so drei Dutzend Ziegen die Straße überqueren, dann wird halt gewartet. Ziege müsste man sein. Auf mich wartet niemals irgendwer.

Wir erreichen Tsambika Beach in einer noch sehr annehmbaren Zeit und die Ziele, die wir noch haben, werden langsam übersichtlicher. Der Hase entspannt und am Tsambika Beach ist dann Zeit für eine kleine Mahlzeit. Ich danke Gott und dem Hasen und bin nicht sicher, ob es sich dabei nicht nur um ein und dieselbe Person handelt. Bei Tzatziki, Brot, Pommes und zwei Pepsi sitzen wir in direkter Nachbarschaft zu Strand und Meer und stellen fest, dass selbst so ein kleiner Imbiss bei diesem Ambiente eine tolle Sache ist. Den ganzen Tag ruft eine lautlose Stimme das Wort „Urlaubsfeeling“ und wir freuen uns, es überall hören zu können. Unser großes Ziel bei allem was wir hier in diesen Tagen auf dieser Insel machen ist, dass wir den Alltag vergessen wollen, zumindest für einen kurzen Moment. Und wie ich hier nun so sitze und verträumt an einem Pommes herumnuckel, kann ich mich nicht daran erinnern, jemals einen Alltag gehabt zu haben. Jedenfalls keinen der ohne Mittelmeer ist.

Es bleiben noch zwei Anlaufpunkte die auf unserer Liste sind und die wir mit Spannung erwarten. Einmal unser Hotel von damals und dann noch die Anthony Quinn Bucht. Und war bisher unsere Fahrt in die Vergangenheit insofern enttäuschend verlaufen, als dass wir einfach keine Erinnerungen erkennen konnten, sind wir nun guter Dinge dass es diesmal anders sein wird. Schon die Fahrt zum Hotel, das etwas abseits von Allem liegt, kommt uns gänzlich unbekannt vor. Ich kann mich noch an ein paar Gegebenheiten erinnern. An einen Bereich, an dem man immer vorbeigehen musste, wenn man runter zum Meer ging. Der war etwas offen gestaltet und es standen Billardtische und Tischtennisplatten dort. Das Ganze war in dem Bereich der Einfahrt und des Einganges zum Hotel angesiedelt. Wir haben weder den Parkplatz (ein schmuckloser Schotterplatz), noch den Einfahrts- Eingangsbereich wiedererkannt und da wo einst die Tischtennisplatten waren, befindet sich nun ein geschlossener Fitnessbereich.

Die gesamte Hotelhalle ist uns fremd und ich erkenne in Teilen nur den Speisesaal wieder. Was sonst sollte ich auch wiedererkennen. Am Pool scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Nicht dass wir hier eine Erinnerung erkennen würden, aber es scheint so als wäre in den letzten 26 Jahren nicht viel gemacht worden. Vielleicht mal sauber, aber nicht unbedingt erkennbar. Das Wasser ist bevölkert von ein paar toten Fischen, die bäuchlings an der Oberfläche treiben und vielen anderen Grundlagen für ein paar dermatologische Katastrophen. Natürlich ist das nicht richtig, was ich hier schreibe. Es ist schon sauber hier, aber alles ist irgendwie lieblos behandelt worden. Nichts erweckt den Eindruck dass man auch nur im Entferntesten gern ins Wasser möchte. Das ganze Hotel erweckt auf mich einen ähnlichen Eindruck. Und an dieser Stelle merke ich, dass ich vielleicht doch so bin wie alle anderen Touristen. Ich bin ein Snob, der gerade mal die Luft von oben schnuppert und schon verächtlich nach unten sieht. Wie dem auch sei, das Hotel wirkt nicht mehr so toll.

Also ab zur Bucht. Rein ins Auto und zunächst diese geteerte Straße lang, die wir damals immer runter gegangen sind, wenn wir zum Meer wollten und dann einfach mal nach links abbiegen. Ging damals nicht, da bin ich mir sicher. Und nach 250 Metern gelangen wir an einen Parkplatz, der damals auch noch nicht da war und der für die Besucher der Anthony Quinn Bucht angelegt wurde. Die Anthony Quinn Bucht ist also nur einen Steinwurf entfernt von unserem damaligen Hotel und wir hatten es nicht gewusst. Aber egal. Etwas irritiert darüber, dass wir hier auf einem sehr großen Parkplatz parken, gehen wir zur Bucht. Oben steht ein hipper Schuppen, wo es alles an Getränken und Speisen gibt, was der Tourist sich vorstellen kann. Der Hase ist entsetzt und ich bin zunächst wieder hungrig, bevor Entsetzen sich in mir breit macht. Früher führte hier ein wilder Trampelpfad nach untern, der durch einen angelegten Weg mit ein paar Holzgeländern ersetzt wurde. Es stehen auch wesentlich mehr Sonnenliegen und -Schirme untern und wir müssen zweimal hinsehen, bis wir die Schönheit der Bucht wieder entdecken. Die vielen Leue die hier überall sind (und wir sind zwei davon) erzeugen eine gewisse Hektik und Ungemütlichkeit und wir verlassen diesen letzten Ort der Enttäuschung.

Bleibt noch Zeit für einen Wunsch von mir. In direkter Nähe zu unserem Hotel gibt es auch ein paar kleine Berge und auf diese führt höchstwahrscheinlich eine Straße und eben jene möchte ich gerne hochfahren. Das machen wir auch. Oben stehen ein paar verfallene große Gebäude und auf der Straße gibt es Schlaglöcher in die das ganze Auto reinpasst. Aber wir kommen hoch und haben ein letztes Mal einen schönen Ausblick. Und auch wenn wir gerade erst Halbzeit haben, merken wir, dass wir die eher außergewöhnlichen Dinge schon größtenteils hinter uns haben. Eine erste Ahnung vom Ende unseres Urlaubs überkommt uns und mir wird ein bisschen Wehmütig. „Komm, lass uns losfahren, es gibt bald Abendessen“, sagt der Hase. Mein Hase findet immer wieder die richtigen Worte. Ich beschließe die Wehmut noch ein bisschen auf die lange Bank zu schieben und wir fahren zum Hotel.