„Wie, Du glaubst Du kriegst Durchfall? Was soll das heißen“, frage ich. Eine blöde Frage, aber sie muss gestellt werden. „Na, dass ich Durchfall kriege !“ „Und Du bist Dir sicher?“ „Willste ein Attest haben?“ „Nein, aber…“ „Aber?“ „Aber du kannst jetzt keinen Durchfall kriegen. Wir fahren noch ´ne dreiviertel Stunde“, gebe ich zu bedenken. „Da scheiß ich drauf!“ Mir scheint, der Hase ist etwas angespannt. „Der Bus muss jetzt anhalten“, fordert der Hase. „Der kann nicht anhalten. Wir sind in der Türkei und das ist hier sowas wie eine Autobahn und wenn er da anhält, werden wir bestimmt alle verhaftet.“ “ Das ist mir egal, und wenn ich mich vor den Bus ins Scheinwerferlicht setzen muss, ich halte das nicht mehr aus.“ „Du musst aber!“ „Ich KANN aber nicht!“ Es herrscht Krisen-stimmung. Ich sondiere verzweifelt die Möglichkeiten. Da es keine Bordtoilette gibt, sämtliche Sitzreihen belegt sind, niemand einen Eimer dabei hat und auch keiner seine Reisetasche für einen solchen Zweck hergeben würde, gibt es nur eine Lösung: „Du musst wohl in die Hose machen“, erkläre ich mit einer Mischung aus Begeisterung über mein Krisenmanagement und Unwohlsein, über den Vorschlag, den ich machen musste.
So gewagt der Vorschlag auch war und so sehr die Frau, die im Moment nicht mehr weiß, warum sie mich geheiratet hat, mir die Pest an den Hals wünscht, es scheint eine gewisse Wirkung eingetreten zu sein. Der Hase krümmt sich noch ungefähr zwanzig Minuten, aber der Durchfall-Anfall geht vorüber, ohne dass der Vulkan zum Ausbruch gekommen ist (wie da wohl die Lava ausgesehen hätte). Ich spüre eine Erleichterung, die auch bei den Mitreisenden wahrzunehmen ist. Der Bus fährt monoton weiter durch die frühen Morgenstunden. Meine Schwiegereltern sind schon ganz klein in ihren Sitzen geworden. Sohnemann wirkt apathisch, muss aber kaum noch würgen. Der Hase krümmt sich nicht mehr. Unsere Tochter wünscht sich momentan eine andere Familie und ich warte darauf, dass sich die nächste Katastrophe ankündigt. Vielleicht fällt ja einem von uns das Bein ab oder unserem blassgesichtigen Nachkommen wächst eine Möhre im Gesicht. Aber nichts dergleichen passiert. Sehr zu meiner Überraschung, denn ich habe sowohl das abgefallene Bein, als auch die Möhre nicht für undenkbar gehalten, wenn man den bisherigen Verlauf so betrachtet. Wir erreichen den Flughafen ohne weitere besonderen Vorkommnisse.
Der Bus hält an und ich schwöre, dass die Türen nicht normal aufgehen. Nein, sie springen förmlich auf und sämtliche Fahrgäste, bis auf uns vier, springen ebenfalls aus dem Bus. Alle sind sehr darum bemüht, einen möglichst großen Abstand zu uns zu bekommen. Sie schnappen sich ihr Gepäck und sprinten zum Flughafenterminal. Sie erreichen dabei ein erstaunliches Tempo. Meine Schwiegereltern überholen sie problemlos. Es fällt uns schwer mit ihnen Schritt halten zu können.
Der Flughafen selbst ist groß. Sehr groß. Um einchecken zu können, müssen wir durch eine Ausweiskontrolle und dann zum anderen Ende des Terminals. So sehr ich mich auch anstrenge, ich schaffe es nicht, das andere Ende mit bloßen Augen zu erkennen. Mit dem gesunden Optimismus, der mir zu eigen ist, sage ich: „Ich glaub, das schaffen wir nie mit dem Klotz am Bein.“ „Bin kein Klotz!“, stammelt mein farbloser Sohn. „Wir müssen aber“, sagt der Hase. Wir machen uns auf den weiten, weiten Weg, und alle Leute, an denen wir vorbei gehen, schütteln entweder den Kopf oder suchen verzweifelt nach ihren Impfbüchern, um sicher zu gehen, dass sie medizinisch gegen uns geschützt sind. Wir erreichen den Schalter, an dem wir unser Gepäck abgeben müssen. Ich bin mir nicht sicher, ob es noch der selbe Tag ist. Der Magenkranke kann nicht einmal mehr sitzen. Er legt sich auf eine Reihe von Sitzen. Die Mädels gehen zum Schalter, der noch knapp 30 Meter weiter ist. Töchterchen kommt zurück. „Ihr müsst mal eben da hinkommen“, sagt sie und ich sehe, wie der Hase aufgeregt mit dem Schalterangestellten diskutiert. Ich habe beschlossen, meinen Sohn jetzt zu tragen. „This is my sick son and that is his father“, erklärt der Hase schnaubend und zeigt auf uns beiden. Der Mann am Schalter wird immer kleiner. Es geht nur darum, dass er uns sehen musste, im Vergleich mit unseren Ausweisen. 30 Meter weit gucken konnte der Gute wohl nicht.
Es bleiben uns noch gut zwei Stunden Zeit bis zum Abflug und wir müssen uns nun verstärkt darum kümmern, dass der Kranke wieder auf die Beine kommt. Er wird auch immer schwächer. Wir diskutieren die Möglichkeiten. „Den kriegen wir so nicht in den Flieger. Da muss was gemacht werden. Wir sind an einem Krankenzimmer vorbeigekommen, vielleicht solltet ihr es da mal versuchen“, meldet sich mein Schwiegervater, der nebst Gattin bisher unbemerkt in gebührendem Abstand von uns sitzt. Ach, da sind die beiden, denke ich. Der Vorschlag scheint aber vernünftig zu sein. Die Tochter bleibt bei ihren Großeltern und wir anderen drei marschieren los. Das Gute ist, wir haben Hoffnung. Das Schlechte, die Hoffnung befindet sich genau auf dem anderen Ende des Flughafens. Dahin schleppen wir die Hülle dessen, was einst unser Sohn war. Wir erreichen die Örtlichkeit mit knapper Not. Es ist eigentlich schon eine kleine Krankenstation mit Warte- und Behandlungs-zimmer und ohne Personal. Niemand da. Kein Arzt , keine Schwester. Nichtmal eine Putzfrau. Was tun? Ich bleibe mit ihm da und der Hase begibt sich einerseits auf die Suche nach kompetenten Fachpersonal und andererseits haben wir eine Apotheke in annehmbarer Entfernung entdeckt.
Wir Männer warten und ich versuche ihn aufzumuntern: „Ich hatte mal eine Salmonellenvergiftung. Da konnte ich eimerweise…“. Er unterbricht mich wortlos und sieht noch blasser aus als vorher. Hmh, war wohl nicht die richtige Geschichte. Eine Frau kommt herein. Ihre Tracht lässt darauf schließen, dass sie zu dieser medizinischen Abteilung gehört. Endlich! Hilfe ist da! Ich sprudel los wie ein Wasserfall und erkläre mit knappen Worten und ausführlichen Gesten, die Gesamtproblematik. „Nix deutsch!“, antwortet die Gute. Ok, dann halt auf Englisch. Seit meinen seligen Realschulzeiten habe ich nie wieder einen Brocken Englisch gesprochen. Es ist ausgesprochen peinlich, was ich vor mich hin stammele, aber irgendwie müssen wir die Kuh vom Eis kriegen. „Englisch auch nix“, erklärt mir die verstört dreinblickende Krankenschwester. „Mein Türkisch ist aber sehr stark eingerostet“, bemerke ich und erkenne, dass der dahinter verborgene Sarkasmus komplett an ihr vorbeigegangen ist. Das Telefon an der Anmeldung klingelt und sie geht ran. Eine weibliche Stimme, die augenscheinlich auch türkisch sprechen kann, ist aus der Muschel zu hören. Und im Hintergrund die Stimme vom Hasen. „Watt?“ denke ich und frage mich, was passiert sein mag. Augenscheinlich hat der Hase die Telefonzentrale des Flughafens mit Waffengewalt eingenommen und erpresst eine Telefonistin, als Übersetzerin zu fungieren. Wir werden hier nie wieder rauskommen…..
Fortsetzung folgt