Es ist also drei in der Früh und ich knie vor dem Bett, als der Hase mich weckt. Wir müssten aufstehen, meint er und ich bemühe mich meine Beine wieder gerade zu kriegen. Der erbrechende Sohn ist noch blasser geworden. Das weiße Kissen unter ihm ist schon dunkler als er. Wenn man ihm noch eine Möhre ins Gesicht halten würde, dann wäre er ein Schneemann. Ein dünner Schneemann. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, wo ich jetzt eine Möhre herbekommen könnte. Vielleicht hat ja die Küche schon auf. Ach nee, denk ich, das kann man nicht machen. Außerdem, wie sollte man die Möhre da festkriegen.
Der Hase und die Tochter wollen frühstücken. Aha, die Küche hat also doch auf. Mir persönlich ist nicht so nach frühstücken und der Sohn scheint nur noch vor sich hinzudämmern. Eine Stunde Bus nach Antalya und ein Flug nach Istanbul und ein weiterer von Istanbul nach Hamburg und eine Zugfahrt von Hamburg nach Rotenburg und eine kurze Autofahrt von Rotenburg nach Bötersen; das Reiseprogramm heute ist für einen gesunden Menschen schon nicht gerade leicht. Für jemanden, der aussieht wie ein Bettlaken, ist es eigentlich nicht zu schaffen.
Unsere Tochter geht noch für einen Augenblick an den Strand. Sie möchte noch einen letzten Blick auf das nächtliche Meer werfen und ihren Gedanken nachhängen. Nun sind die türkischen Händler, die eigentlich so ziemlich jeden Ort in ihrer Heimat bevölkern, schon ein sehr geschäftstüchtiges Völkchen. Dass aber einer von ihnen sogar nachts um halb vier am Strand auftaucht und unserer Tochter etwas verkaufen möchte, überrascht schon. Jetzt ist es soweit. Die Mädels kommen wieder aufs Zimmer. Wir müssen zur Rezeption. Der Bus kommt ja bald. Der Weg von unserem Zimmer, das in einem Nebenflügel des Hotels liegt, bis zur Rezeption ist ungefähr 250 m lang. Die Mädels schleppen das Gepäck und ich schleppe den ehemalig Würgenden mit mir. Er ist völlig kraftlos und ich habe das unbestimmte Gefühl, dass seine Füße auf dem Boden hinterher schleifen. Wir kommen an. Meine Schwiegereltern, die auch mit uns im Urlaub sind, warten schon auf uns. Der Hase erklärt mit kurzen, aber auch sehr eindrucksvollen Worten den Verlauf der letzten Stunden. Sie schmückt es ein wenig aus. Zum Beispiel durch Farbe und Konsistenz der erbrochenen Masse. „Ihr glaubt ja nicht, was so ein kleiner Kerl alles auskotzen kann…“, höre ich sie zu ihrer Mutter sagen, die bestürzt über die Wortwahl ihrer Tochter mit einem „Aber Micha…“, antwortet. Eine Abkürzung des Hasenvornamens, die immer dann zum Tragen, wenn die Wortwahl des Hasen einen betrunkenen Handwerker noch erblassen lassen würde. Ich fühle mich dann immer ein wenig an Fräulein Rottenmeier erinnert, die zu Heidi immer Adelheid gesagt hat und manchmal noch ein „Erbarmen“ hinzufügte. Mein Schwiegervater ist da eher pragmatisch. Er sieht seinen bleichen Enkel und sagt : „Na wenigstens haste keinen Sonnenbrand.“ Der Hase ist derweil zum Portier gegangen, um ihm die Sachlage zu schildern. Ich glaube der gute Mann verflucht den Deutschkurs, der ihn in die Lage versetzt hat, ihren Ausführungen folgen zu können. Manchmal ist es einfach besser, wenn man nichts versteht.
Es ist soweit, unser Bus kommt. Zusammen mit einer Horde abreisender Urlauber entern wir das Fahrzeug. Der Hase und Juliane sitzen nebeneinander im hinteren Teil des Busses. Das Kalkgesicht und ich nicht weit entfernt von ihnen. Großmutter und -vater haben es vorgezogen, lieber im vorderen Teil Platz zu nehmen. Nicht, dass noch jemand eine Verbindung zu uns herstellen könnte. Das erste was unser Sohn macht, als er sitzt: Er bekommt wieder einen Brechanfall. Ich beruhige die Fahrgäste in unserer unmittelbaren Nähe: „Da ist nix mehr drin. Der hat schon die ganze Nacht gereiert wie ein Kesselflicker.“ Ich werde mir bewusst, dass Kesselflicker in diesem Zusammenhang nicht die passende Metapher ist. Mein Versuch, das Erlebte und Erbrochene auch den uns fremden Personen näher zu bringen scheitert an dem Desinteresse meiner Mitmenschen. Diese Gleichgültigkeit heutzutage ist wirklich ein Problem.
Der Bus fährt los. Draußen ist es dunkel. Im Inneren des Busses ist das Licht gedämpft und ich beginne mich etwas unwohl zu fühlen. Das Herz schlägt eigentümlich und ich beginne zu schwitzen. Ich öffne meine Hose, um etwas Druck von meinem Bauch zu nehmen, was von manchen Mitreisenden missbilligend zur Kenntnis genommen wird. „Hase“, sag ich, „ich glaub mir wird schwindelig.“ „Na dann mach doch Deine Hose auf.“ „Hab ich schon.“ Das gute alte Hausmittel „mach die Hose auf, wenn Dir schwummrig ist“ hat augenscheinlich seine Wirkung nicht erzielt. Ich muss also zu weitreichenderen Maßnahmen übergehen.
„Hase, ich glaub ich muss mich mal hinlegen.“ „Bist du bescheuert, wie willste das denn machen.“ „Mir egal, ich kipp hier gleich eh vom Sitz.“ Mittlerweile habe ich ein Rauschen in den Ohren und sehe Sterne. Ach, das war der Nachthimmel. Aber die Gesamtlage ist schon angespannt. Ich erhebe mich und stelle mich in den Gang. Die ignorante Meute um mich herum befürchtet jetzt, dass ich die geöffnete Hose runterlasse. Dem ist aber nicht so. Ich möchte mich nur einfach in den Gang legen. Das ist allerdings leichter gedacht als gemacht. Der Gang ist derart schmal, dass ich mit meinen Schultern an beiden Sitzreihen hängen bleibe, als ich versuche mich hinzulegen. Durch geschicktes Drehen und Wenden schaffe ich es auf den Boden. Der Schweiß läuft mir in Sturzbächen von der Stirn und ich versuche mir bildlich vorzustellen, wie es so aussieht, wenn ein zur Korpulenz neigender, verschwitzter Mann mit offener Hose auf dem Gang eines Busses liegt. Auch in der günstigsten Vorstellung kein schöner Anblick. Ich kann es jedenfalls auch etwas verstehen, dass mich die Leute so befremdet anstarren.
„Du Mami“, fragt ein kleines Mädchen, „was macht denn der Mann da?“ „Sieh da nicht hin, meine Kleine. Das ist bestimmt ein Perverser“, antwortet die ebenso schockierte wie angewiderte Mutter. „Det heißt eijentlich Iraner“, sagt ein offensichtlich über die Maßen angetrunkener Fahrgast, „die Perser jibt et heutzutaje nicht mehr.“ Er lehnt sich zurück und ist offensichtlich froh, seine umfassende Allgemeinbildung endlich mal gewinnbringend anwenden zu können.
Und so liege ich da und warte darauf, dass meine Körperfunktionen sich wieder normalisieren, während mein männlicher Nachwuchs noch ein paarmal trocken in die Tüte würgt, die vormals ein Duschgel beherbergt hatte. Meine Schwiegereltern wagen es nicht sich umzudrehen. Doch da, ein Lichtblick, es geht mir wieder besser. Ich sammele meine Kräfte und stehe wieder auf. Demonstrativ schließe ich mitten im Gang meine Hose und setze mich wieder zu meinem erkrankten Sohn, der zumindest einen einigermaßen stabilen Eindruck macht. Wir sind jetzt ungefähr eine viertel Stunde unterwegs. Also bleibt noch ca. 45 Minuten Fahrt übrig. Das gute ist, wir sitzen, müssen uns nicht bewegen. So bleibt für den Blassen auch eine Art Erholungsphase. Mir geht es ja wieder gut und ich beginne mich zu entspannen. Da tickt mich der Hase an. „Matzi!“, sagt er mit Nachdruck. „Was ist los?“ frage ich und habe so eine unterschwellige Ahnung, dass unsere Tortour noch nicht zu Ende ist. „Ich glaub, ich krieg Durchfall!“, sagt der Hase ………….
Fortsetzung folgt