Ein Traum in oliv…

…oder eigentlich sollte ich gar nicht hier sein….

Eines unschönen Novemberabends im Jahre 1990

Es regnete und warm war es zu dieser Jahreszeit auch nicht. Ich stand an einer Straße in einem Dorf in der Nähe von Visselhövede und hatte die  Aufgabe, ein Wachtposten zu sein. Überall sah ich beleuchtete Fenster und hin und wieder auch einen Ofen oder einen Kamin, in dem ein gemütliches Feuer loderte. Fernsehbilder, Familien, die sich beim gemütlichen Abendbrot versammelt hatten, Leute, die sich wohlig in Wolldecken kuschelten. Idylle, wohin das Auge auch blickte.  Was hätte ich nicht alles darum gegeben, dort in einem lauschig warmen Zimmer zu sitzen, um frisch geduscht ein wohlschmeckendes Abendbrot einzunehmen. Aber nein, ich musste ja unbedingt Ausschau halten, ob nicht irgendwelche subversive arabische Kräfte versuchten, den Raum Visselhövede einzunehmen. Ich war die letzte Bastion der zivilisierten Welt gegen die Araber! Nur hatte niemand hinter all diesen Fenstern Notiz davon genommen, genausowenig von der Bedrohung durch die Araber. Woher auch, denn wer hätte sie hier vermutet. Subversive arabische Kräfte in Visselhövede, Anfang der Neunziger? Nein, das habe ich mir nicht ausgedacht, sondern mein oberster Kommandant.

Wie sich unschwer erkennen lässt, war ich zu dieser Zeit bei der Bundeswehr (Grundwehrdienst) und der Grund meines Aufenthaltes in dieser Region war ein Manöver. Vor vier Tagen waren wir ausgerückt. 250 Mann und viele Fahrzeuge, die sich in den Ortschaften rund um Visselhövede breit machten. Damit es auch einen halbwegs realen Hintergrund für diese Aktion gab, wurde ein möglichst plausibles Szenario erdacht und dieses wurde uns vor Abmarsch bei einem Appell näher gebracht. Wie wir da so angetreten waren, verkündete unser Kommandant die Sachlage mit den subversiven arabischen Kampfeinheiten, die den Raum Vissel einnehmen wollten. Und ich fragte mich damals, wie ein gebildeter Mensch, der für das Wohl von ein paar hundert Soldaten verantwortlich ist, sich einen derartigen Schwachsinn hat einfallen lassen können.  Mal abgesehen davon, dass es damals nicht im geringsten irgendwelche subversiven Araber gab, war Visselhövede der mit Abstand uninteressanteste Landstrich im Norden. Selbst, wenn es der letzte bewohnte Bereich auf der Erde gewesen wäre, würde nicht einmal der mit Abstand blödeste Araber auf die Idee kommen, dort einzumarschieren  Aber es waren die Zeiten von Glasnost und der Maueröffnung. Der Ostblock war nicht länger das Feindbild der NATO, weswegen man ein Neues suchte. Daher die Araber. Warum Vissel, bleibt ein Rätsel. Den Arabern wahrscheinlich auch.

Ich war zu diesem Zeitpunkt allerdings schon lange genug bei der Bundeswehr, dass ich den Sinn nicht mehr hinterfragte, denn für Sinn und die Richtigkeit allen Tuns war die „ZDV“, die zentrale Dienstvorschrift, verantwortlich. Die „ZDV“ war und ist wahrscheinlich die Bibel, das Manifest, die unumstößliche Wahrheit, das Regelwerk allen Handelns innerhalb der deutschen Wehrmacht, äh, der Bundeswehr (manchmal verwechsel ich das ein wenig) und sie wird es auch immer bleiben. Es gab und gibt einfach keinen Sachverhalt, auf den die „ZDV“ nicht auch die richtige Antwort parat hätte. Für mich persönlich gab es einmal eine Situation, und auch diese entspringt der vollen Wahrheit, wie ich erwähnen, ja sogar beschwören möchte, die mir die Unumstößlichkeit der Regularien der „ZDV“ auf sehr direkte Weise näher bringen sollte.

Ich war schon aus der Grundausbildung raus und in meiner Stammeinheit angekommen. Mein Vorgesetzter, ein Ober-, oder Hauptfeldwebel, der genaue Rang war mir ebenso egal, wie er mir sofort nach Beendigung meiner Dienstzeit auch wieder entfallen ist, erteilte mir einen Befehl. Leider muss ich zu meinem Leidwesen gestehen, dass ich mir nicht gemerkt hatte, was es genau für ein Befehl gewesen ist. Aber es war ein hochgradig schwachsinniger Auftrag. So als wenn man Spiegeleier kochen, oder ein viereckiges Rad erfinden wollte. Einfach nur unglaublicher Blödsinn. Ich bin und war nie ein besonders rebellischer oder gar mutiger Mann, aber das was man hier verlangte, ging mir dermaßen gegen dien Strich, dass ich einfach nicht anders konnte, als nachzufragen. „Volker“, sagte ich zu meinem Feldwebel, den ich zwar duzen durfte, der aber trotzdem einen gehörigen Stock im Arsch hatte, „das ist doch ein komplett blöder Befehl!“ „Ja“, sagte Volker. „Na dann muss ich das ja wohl nicht machen“, sagte ich. „Natürlich machst Du das“, sagte Volker. „Warum?“ „Weil es so in der ZDV steht!“ „Ja aber das ist doch ausgemachter Blödsinn!“ „Ja, das stimmt, aber Du machst es trotzdem so, wie es in der ZDV steht!“ „Aber je länger ich darüber nachdenke….“ „Du bist nicht zum Denken hier. Das übernimmt für Dich die ZDV!“ „Und für Dich übernimmt sie es wohl auch?“ fragte ich. Keine gute Frage anscheinend.

Wenn ich hier weiter einen Vorgesetzten beleidigen wolle, dann könne er auch ganz andere Saiten aufziehen, sagte mein Volker und er wusste, dass vielleicht nicht gerade Sachverstand und Intelligenz auf seiner Seite waren, aber die Macht des militärischen Hyrachieapparates verliehen ihm genügend Befugnisse, mich mundtot zu machen. Ich führte diesen Befehl aus, so schwachsinnig er auch war. Seitdem habe ich aufgehört bei der Bundeswehr zu denken. Was einfacher klingt, als es ist. Genaugenommen machte es mir sehr zu schaffen, das ich meinen Kopf nur dabei haben durfte, damit der Helm draufpasst.

Dazu kam diese Leere. Jeder Tag in meiner Stammeinheit war leer. Es passierte nichts und ich hatte eigentlich auch fast nichts zu tun. Jeden Tag. Obwohl ich nur Dienstzeiten von 7 Uhr bis 16:00 Uhr hatte, waren die Tage lang. Entsetzlich lang. Ich war Heimschläfer, denn die Kaserne war quasi um die Ecke. Jedesmal, wenn ich nach Dienstende nach Hause kam, war ich erschöpft. Erschöpft vom Nichtstun, von der enormen Unterforderung, die mir zu schaffen machte. Ich war der Waffeninstandsetzung zugeteilt, was aufregender klingt, als es ist, denn es wurden in dem Bereich, wo ich untätig herumlungern musste, kaum Waffen zur Instandsetzung abgegeben. Wir, also meine Mitsoldaten und ich, mussten uns jeden Morgen vor dem Kompaniegebäude versammeln. Dann kam ein Zugführer, der so übliche Kommandos gab, von wegen: Stillgestanden, die Augen hierhin, oder dorthin, rechts um, im Gleichschriiiitt (kleine Pause) Marsch! Und dann wurden wir wie eine Horde Kindergartenkinder vom Kompaniebereich in den T-Bereich geführt. Das „T“ stand für Technik und der Bereich war rund zweihundert Meter entfernt. Zweihundert Meter, die wir nicht alleine, oder gar selbstständig zurücklegen durften. Hätte nur gefehlt, dass wir uns noch an den Händen hätten halten müssen, damit auch niemand verloren geht.

Einen der Zugführer kannte ich aus dem Zivilleben vorher. Einst war er mal ein Mitschüler. Ein stilles Kerlchen, mit einer leicht hohen Stimme und einer grundsätzlichen Schüchternheit, die ihn immer daran hinderte vor vielen Menschen zu sprechen. Und nun stand er vor mir und sollte einer Gruppe von rund vierzig Wehrdienstleistenden Kommandos erteilen. Na, da war ich ja mal gespannt. Er baute sich in voller Größe (1,68Meter) vor seinen Untergebenen auf und sprach mit sehr, sehr tiefer Stimme. „Kommpanniiiieee stilllgstann!“ Wo zum Geier holte der denn diese Stimme her? Es klang ein wenig wie das dumpfe Bellen eines sehr großen Hundes und passte so gar nicht zu diesem kleinen Männlein. „Reeeechts umm!“ Das war zuviel, ich musste grinsen. „Iihhmmm Gleischriiittt Maaasch!“ Grinsen reichte nicht mehr, ich lachte. Was denn so komisch wäre, frage er mich und tat so, als ob er mich nicht kennen würde. „Nichts“, antwortete ich und wischte mir die Lachtränen weg. Ja, ein wenig Spaß hatte ich auch, das war aber eher selten.

Die Leere, die mich umgab, die mich beinahe zu verschlingen drohte, die jeden Tag auf mich lauerte, sobald ich das Kasernentor passierte, setzte mir sehr zu. Sie veränderte mich und mein Wesen. Mein Körper wurde schlaff, zumindest fühlte er sich innerlich so an und meine Seele, mein Gemüt wurde träge und müde. Jede noch so kleine Anforderung hatte für mich Krisenpotential und ich stand immer am Rande einer kompletten Überforderung, durch anhaltende Unterforderung. Ein scheinbares Paradoxon, dachte ich und war froh, dass ich wenigstens noch ein Wort wie „Paradoxon“ denken konnte.  Was die Sache komplett machte war, dass ich mit den anderen Rekruten überhaupt nicht klar kam. Nicht dass sie irgendwie blöder waren als ich, nun gut, manch einer schon, aber sie hielten mich für blöd und damit hielten sie nicht hinterm Berg, was mich zu einem Ausgestoßenen machte. Ich fühlte mich wie eine Insel in einem olivgrünen Meer der gleichgeschalteten Willenlosigkeit. Ich glaube der große Unterschied zwischen den anderen und mir war hauptsächlich der, dass ich für mich alles hinterfragte, während die anderen sich einfach mit den Gegebenheiten abgefunden, oder gar angefreundet hatten.

Einzige Abwechslung im täglichen Einheitsbrei war die Fahrschule. Laut irgendeiner Dienstverordnung, die ich nicht kannte, war es in meiner Stellenbeschreibung angedacht, dass ich den Führerschein Klasse zwei (damals hieß das so) benötigen würde. Also wurde ich für sechs Wochen zur Bundewehrfahrschule in meiner Kaserne abkommandiert. Sechs Wochen in denen ich mich wieder wie ein Mensch fühlen durfte. Sechs Wochen mit einer theoretischen und praktischen Ausbildung. Allerdings auch sechs Wochen zusammen mit dem Schützen Lattenbach in einem Fahrschul-LKW.

Schütze Lattenbach war Anfang zwanzig, einsfünfundfünfzig „groß“ und mit einer kindlichen Unbedarftheit gesegnet. Er fuhr einen VW Polo mit mehr PS unter der Haube, als gut für ihn und die Umwelt gewesen ist. Und wenn er am Steuer des Fahrschul-LKW saß und das Gefährt inklusive Anhänger als 18 Meter langen Zug durch die Straßen und Gassen der nächstgelegenen Kleinstadt lenkte, dann tat er dies mit dem gleichen Elan, mit dem er seinen kleinen Polo fuhr: Immer am Rand der physikalischen Gesetze.

Man muss in diesem Zusammenhang wissen, dass der Fahrunterricht so aufgebaut war, dass ein LKW immer zu dritt belegt war. Auf dem Beifahrersitz saß der Fahrlehrer, auf dem Fahrersitz der Fahrschüler und dazwischen, auf einem, leicht erhöhten und sehr unbequemen Notsitz ohne Beinfreiheit davor, saß ein zweiter Fahrschüler. Nach einer gewissen Fahrtzeit wechselten der fahrende und der notsitzende Fahrschüler.

Ich will mich ja nicht rühmen, aber dadurch, dass ich im zivilen Leben schon häufiger einen Siebeneinhalbtonner gefahren bin, hatte ich zumindest die Spur einer Ahnung davon, dass ein LKW größer als ein PKW ist und dementsprechend umsichtig fuhr ich dann auch. Schütze Lattenbach machte da nicht so besonders große Unterschiede. Unser Fahrlehrer war ein ruhiger Mensch. Einer, den nichts aus der Fassung bringen konnte und der seine Anweisungen immer in einer zurückhaltenden, beruhigenden Tonlage sprach. Aber wenn Schütze Lattenbach um die Kurven rauschte, so dass man das Gefühl hatte, eine nicht unwesentliche Anzahl von Rädern würde die Straße nicht mehr berühren, dann wurde auch der Ton unseres ansonsten so ruhigen Fahrlehrers unbeherrschter. Und als Schütze Lattenbach auf eine rote Ampel zurollte und den noch in der Bewegung befindlichen LKW mit der hydraulischen Handbremse, die sofort sämtliche Räder blockierte, quietschend zum stehen brachte, als sowohl mein Fahrlehrer als auch ich von unseren Sitzen gerissen, in Richtung Frontscheibe katapultiert und auf dem Wege dorthin unsanftest durch die jeweiligen Sicherheitsgurte in der Vorwärtsbewegung abgebremst wurden, da war es vorbei mit der Ruhe. „Lattenbach, Du bist ein Vollidiot!“, schrie unser Fahrlehrer, während ich noch wie eine totes Gemüse in meinem Sicherheitsgurt hing.

Rückblickend war die Fahrschulzeit bei der Bundeswehr eine sehr schöne Zeit, auch wenn ich sie beinahe nicht überlebt hätte. Ich bin bei der Bundeswehr danach nie wieder einen LKW gefahren. Schütze Lattenbach auch nicht und ich hoffe, er hat es auch später nie wieder getan.

Weitere Auflockerungen des Dienstalltags waren eine Schießübung (laaanngweilig), ein Leistungsmarsch (20km mit Gepäck….auch laaangweeiilig) und unser Mannöver rund um Visselhövede. Das war nicht nur langweilig, sondern auch kalt, ungemütlich und verregnet.

Und so stand ich da im Regen und mir war kalt. Arschkalt. Ich trug meine normale Kampfuniform und darüber noch regendichte Kleidung. Alles in olivgrün. Die meiste Zeit innerhalb der letzten vier Tage trug ich diese Bekleidungskombination und Waschgelegenheiten waren rar gesät. Wir übernachteten vornehmlich auf Bauernhöfen und das war schon ein Luxus. Bei dem einen Landwirt hätten wir im Stall auch eine Dusche gehabt, aber deren Zustand war nicht gerade sehr einladend. Nicht einmal die Schweine oder Kühe hätten sich dort getraut zu duschen. Dieser hygienische Notstand führte dann dazu, dass die Körperpflege und -reinigung mitunter ein wenig gelitten hatte, während der letzten Tage und unter den regen- und luftdichten Gummiklamotten begann es allmählich zu gären. Man konnte sich selbst nicht mehr riechen.

Nach drei, vier Stunden in Gummi im November am Straßenrand eines Dorfes, dass wahrscheinlich nicht mal auf einer Landkarte war, veränderte ich mich auf seltsame Art. „Kommt her ihr Araber, ich mache Euch alle nieder!“ rief ich. „Wenn ihr meint, ihr könnt ihr hier so einfach einmarschieren, dann seid ihr schief gewickelt!“ „Da habt Ihr Euch mit dem falschen angelegt! Ich bin eine Kampfmaschine, Rambo ist ein Schulmädchen mit Zöpfen gegen mich!“ „Alles in Ordnung Kamerad?“ fragte mein Feldwebel, der mit dem Stock im Arsch, der das Wort Kamerad sehr oft und sehr soldatisch aussprach. Er war gerade auf Inspektionsgang, um zu sehen, wie es seinen Wachtposten so erging. „Ja nee, alles klar“, sagte ich. Er sah mich an, als ob ich irre sei, ging dann aber weiter. Eigentlich hätte ich ihn erschießen müssen, denn er hatte die Parole nicht gesagt. Er hätte sagen müssen:“ Schraube!“ Und ich hätte mit:“fest“ geantwortet. Unser Losungswort:Schraube-fest. Ebenso genial wie eingängig. Dann hätten wir gewusst, dass wir zur selben Einheit gehörten. Niemand sonst hätte von der Existenz dieser Losung gewusst. Ganz bestimmt nicht! Aber so, wie er bei mir auftauchte, so ganz ohne Parole, da wusste ich doch eigentlich nicht, wer er ist. Er hätte auch ein Araber sein können. Immer diese verfluchten Araber……….

Ich schüttelte mich und kam allmählich wieder zu Bewusstsein. „Was zum Geier machst Du hier bloß“ fragte ich mich. „Warum nur hast Du nicht verweigert?“ Ja warum nur? Die Antwort lag auf der Hand. Ich hätte mich darum kümmern müssen. Ich hätte mich um einen zivildienstlichen Posten bemühen müssen und auch darum, den Wehrdienst zu verweigern. Was für ein Aufwand. Und so ging ich den vermeintlich leichteren Weg, denn um zur Bundeswehr zu kommen, genügte die Tauglichkeit. Der Rest lief quasi von ganz allein. Die Wehrmacht holt sich schon ihre Soldaten. Das läuft bei denen. Und wie so oft in meinem Leben sollte sich der vermeintlich leichtere Weg im Nachhinein als der weitaus Schwerere herausstellen.