Die Narkose wirkt. Sie wirkt enorm schnell und enorm gründlich. Ich bin sowas von weg, dass ich es nicht einmal schaffe, etwas zu träumen. Ja, selbst mein Schlaf ist noch unter Betäubung. Ich merke rein gar nichts. Ich bin dem medizinischen Team vollkommen ausgeliefert. Sie hätten mir meinen Arsch nach vorne setzen können, ich hätte es nicht bemerkt und es wäre mir auch nach dem Erwachen total egal gewesen, wenn ich es erkannt hätte. Wow, was für geiles Zeug hauen die einem hier in die Venen.
Ich werde wach, oder besser ich werde wach gemacht. Ich weiß zwar nicht wie, aber es ist, als wenn man von einem unbeabsichtigten Mittagsschlaf aufwacht und nicht weiß, wer man ist, wo man ist und vor allem wann man ist. Ich begreife aber instinktiv sofort, wer und wo ich bin und so stelle ebenso sofort die Frage:“ Wie spät ist es?“ Und die Schwester sagt: „Es ist jetzt in etwa 10.“ „Oh das tut mir aber leid, dass sie wegen mir jetzt soviele Überstunden machen mussten“, sage ich. Und die Schwester und der Dotkor aus Aleppo sehen sich an, grinsen ein bisschen und sie sagt: „Es ist zehn Uhr morgens.“
Ich höre die Worte, aber die Umsetzung in meinem Kopf dauert noch ein wenig. Ich kann mich gerade noch bremsen zu fragen, welcher Tag es ist. Ich mache eine Bestandsaufnahme. Es ist also noch immer derselbe Tag und es sind nur rund 15 Minuten vergangen. Ich fühle mich, als hätte ich ein halbes Jahr geschlafen. Ich erkenne das medizinische Team wieder und Niemand spielt hier Harfe, oder hat einen Heiligenschein, oder Flügel auf dem Rücken. Auch das Himmelstor ist nicht zu sehen. Ich werte alles als gute Zeichen und als der Arzt noch sagt, dass er sehr zufrieden mit dem Verlauf sei und dass wir uns nachher noch unterhalten würden, bin ich komplett beruhigt. Anscheinend habe ich überlebt. Erwartungsgemäß überlebt sollte man eigentlich sagen.
Der Arzt verlässt das Behandlungszimmer und die Schwester entkabelt mich wieder. Was teilweise etwas fies ist, weil die ganzen Sachen recht gut kleben und es sich so anfühlt, als ob beim Abreißen auch immer ein Stück Haut, oder halt ein paar Haare mit abreißen. Ich bin froh, dass ich nicht allzu viele Haare auf der Brust habe. Aber jetzt sind es ein paar weniger. Ich bin ganz klar im Kopf. Ich meine zumindest, dass ich ganz klar im Kopf bin. Also nicht weniger und nicht mehr klar als sonst auch. Sie redet mit mir und erklärt mir jeden Schritt, den sie macht. So wie mir hier wirklich immer alles haarklein erklärt wird, was mit mir gemacht werden soll. Das beginnt mit dem ersten EKG und geht munter so weiter. Und das alles in einer Sprache, für die man nicht 8 Semester Medizin studiert haben muss. Das läuft echt super hier. Muss man mal unbedingt betonen.
Ich sehe alles, ich höre alles, ich rieche alles und ich rede wie ein Wasserfall. Und zwar nur Blödsinn. Es ist so als ob man mein Humorzentrum freigelegt hätte und dabei leider auch jegliche Instanzen lahmgelegt wurden, die mich zu einer gewissen Zurückhaltung oder aber zu einem gewissen Niveau gebracht hätten. Dr. Jeckyll hat man eingeschläfert und Mr. Hyde, die wandelnde Witzgranate ist wieder wach geworden. Ich reiße eine Schote nach der anderen und ich finde sie alle so absolut witzig. Ich möchte mir abwechselnd auf die Schulter und die Schenkel klopfen, so witzig finde ich mich. Ein Alleinstellungsmerkmal, wie sich herausstellen soll.
Ich quatsche der armen Schwester einen Blumenkohl nach dem anderen an ihre Ohren. Sie bemüht sich, meine Entkabelung schneller voranzutreiben. Wenn ich noch lange auf sie einrede, kann sie auf nem Wochenmarkt einen Blumenkohlverkaufsstand aufmachen. Es ist ein komisches Gefühl. Einerseits bin ich total klar und andererseits auf eine ganz merkwürdige Art betrunken. Ich werde mich später nicht genau daran erinnern, was ich hier gerade rede. Aber soviel weiß ich, es ist viel. Sehr viel und ich packe so ziemlich jeden Flachwitz aus, den ich kenne. Und wer mich kennt, der weiß, das sind nicht Wenige. Schließlich habe ich ja auch Publikum. Ein Einpersonenpublikum, um genau zu sein, aber das ist mir egal. Auch ein schlecht besetztes Theater hat einen Anspruch auf Kunst. Und Kunst ist es, was ich hier betreibe.
„Wenn ich gleich fertig bin“, unterbricht die mittlerweile etwas ungeduldige Schwester meinen Redefluss, „können wir Ihre Frau herholen….“ „Ja, das ist gut, der Hase wird sich freuen“, sage ich. Sie wirkt konsterniert und versucht wahrscheinlich das Geheimnis hinter dem Hasen zu ergründen. Noch bevor ich diesen Sachverhalt mit rund 300 knappen Sätzen erklären kann, fährt sie fort: „Dann geht´s für Sie weiter im Haupthaus auf der Station. Dort bekommen Sie etwas zu trinken und eine kleine Mahlzeit.“ Das Wort Mahlzeit bringt mich zum Schweigen. Man muss schließlich bedenken, dass ich nüchtern erscheinen musste. Nichts essen und trinken seit gestern Abend. Schon nachts klebte mir die Zunge am Gaumen und so langsam bekomme ich Hunger. Es ist ja auch schon Viertel nach zehn, oder so. Mein Zeitgefühl ist noch nicht ganz da.
Aber der Hase ist da. Steht vor der Tür des Behandlungszimmers, die in diesem Moment von der Schwester geöffnet wird. Wir kommen raus und ich texte auch erstmal den Hasen zu. Stumm und nur mit ihrem Blick fragt sie die Schwester: „Watt hamse denn mit dem gemacht?“ Die so Angeblickte antwortet mit rollenden Augen: “ Ist der immer so?“ „Naja, nicht ganz so schlimm“, blickt der Hase zurück. „Sie Ärmste“, augenrollt die Schwester. „Was hat man Dir denn gespritzt?“, fragt der Hase mich schließlich. „Cola Korn und Bier“, lalle ich und suche auf dem versteinert wirkenden Gesichtern meiner beiden Zuhörerinnen nach einer Spur von Applaus oder Gelächter. Aber da ist nichts. „Kommt schon“, denke ich, „so schlecht war der nun wieder auch nicht.“ Ich erwähne noch irgenwie Schnitzel mit Champignons und ich kriege es nicht mehr zusammen, was ich damit meine.
Die Schwester tätschelt meine Schulter und wiederholt Teile von dem, was ich gesagt habe. So wie es eine Mutter macht, wenn ihr fünfjähriger Sohn ihr gerade gesagt hat, dass er morgen eine Rakete bauen und zum Mond fliegen will. „Jaja, Bier und Cola und Korn“, sagt sie und ich merke, dass sie Cola Korn dabei als zwei einzelne Getränke ansieht. Dabei handelt es sich doch um ein Mixgetränk. Das ist ein Fehler, den ich umgehend richtig stellen möchte. Nicht dass die Gute irgendwann in irgendeiner Bar mal das Falsche bestellt. Aber irgenwie interessiert sich gerade niemand für mich. Der Hase und die Schwester, die wahrscheinlich froh ist, sich mit einem normalen Menschen zu unterhalten, unterhalten sich angeregt über das weitere Prozedere. Niemand interessiert sich für den Fünfjährigen, der doch morgen mit einer Rakete zum Mond fliegen will. Wie gemein.
Der Weg von dieser ambulanten Behandlungsstation bis zu der eigentlichen Station, also da wo auch die Betten stehen, also da wo ich nun hin soll, ist weit. Zu weit, dass jemand in meiner Verfassung ihn zu Fuß gehen sollte. Also wird ein Transport für mich organisiert. Ich werde auf einen Stuhl mit Rollen, der aber kein Rollstuhl ist, sondern eher eine Art mobiler Behandlungsstuhl, für was auch immer, gesetzt und eine weibliche Pflegekraft hat die ehrenvolle Aufgabe mich zu meinem Bestimmungsort zu bringen. Sie wirkt von Anfang an nicht gerade glücklich über ihre Aufgabe. Also sehe ich meine Aufgabe darin, sie sofort aufzuheitern. Wieder rede ich wie ein Wasserfall und haue ein „Best Of“ meiner schönsten Flachwitze raus. Witze so flach wie der Wasserstand vor Duhnen bei Ebbe. Und der Hase schämt sich wieder ein wenig.
Ich weiß nicht, ob meine schiebende Pflegekraft, also die Schubkraft, wenn man so will, mich möglichst schnell loswerden möchte, aber das Tempo, das sie an den Tag legt, lässt diese Vermutung zu. Mit einer raketenhaften Beschleunigung, die mir die Falten aus dem Gesicht treibt, sausen wir den Flur entlang. Direkt auf die drei Stufen zu. „Na gebense mal ordentlich Gas, dann machen wir da gleich mal einen Weitsprung“, scherze ich. „Und führe mich nicht in Versuchung…..“beginnt sie ein Gebet.
Der Sprung bleibt aus und wir biegen mit knapper Not und ohne erkennbare Tempoveringerung kurz vor den drei Stufen ab. Daneben ist direkt ein Fahrstuhl, den wir nehmen. Wir fahren runter, das merke ich deutlich, steigen aus und schieben irgendwo lang. Aber wo, kann ich nicht genau sagen. Es rauscht an mir vorbei. Einerseits wegen der Narkose und andererseits, weil meine Schubkraft hier Geschwindigkeitsrekorde brechen will. Es bleibt mir keine Zeit, den Menschen, die wir unterwegs sehen, ein Gespräch angedeihen zu lassen. Wofür der Hase dankbar ist.
Wir erreichen wieder einen Fahrstuhl in den wir einsteigen und außerdem noch eine ältere Dame in einem Rollstuhl nebst einem Pfleger. Natürlich möchte ich auch hier ein paar Witze raushauen. Ich werde später nicht mehr wissen, ob ich es gemacht habe, aber ich hoffe mal, dass ich geschwiegen habe. Ich bin bis in die Spitzen euphorisch und möchte die ganze Welt umarmen. Und alle Menschen sind jetzt gerade meine Freunde. Mein Freund der Arzt, der mich behandelt hat, meine Freundin die Schwester, die gerade den Blumenkohl vom Ohr erntet. Mein Freund der Patient, der mir entgegen kommt und gerade so aussieht, als trüge er seinen Kopf unterm Arm. Ihm möchte ich ein „Kopf hoch“, entgegen rufen. Lasse es aber sein. Und natürlich meine Freundin und Ehefrau, der Hase. Sie leidet ein bisschen, weil ich mich so benehme und sie entschuldigt sich mit Blicken, wo immer es geht.
Wir erreichen das Ziel und meine Schubkraft, der ich mittlerweile auch einen regelrechten Gemüsegarten ans Ohr gequatscht habe, katapultiert mich aus meinem rollenden Stuhl. Dem Hasen drückt sie die Papiere in die Hand, die man braucht, damit man für eine relativ kurze Zeit und eine kleine Mahlzeit hier aufgenommen werden kann. Dann ist sie verschwunden. Es herrscht eine gewisse Hektik und überall sind Leute. Und alle sind sie meine Freunde. Das werde ich denen am besten gleich sagen. Und weil ich nicht im Weg rumstehen soll und weil meine Beine noch ein wenig wie Pudding sind, pflanzt der Hase mich erstmal in eine Art Wartezimmer.
Dort sitze ich an einem Tisch, während der Hase sich um die administrativen Dinge kümmert. Mir gegenüber sitzt ein Mann. Mein Freund, höchstwahrscheinlich. Er ist nicht mehr so ganz jung. Über 50 würde ich schätzen. Aber ich bin ja auch über 50. Also er sieht älter aus als ich. Dann wird er wohl schon um die 60 sein. Und er ist auch dicker als ich. Und er wirkt auch noch benommen. Er sitzt krumm wie ein Fragezeichen auf seinem Stuhl und murmelt Sachen, die ich nicht verstehen kann. Zwischendurch kippt sein Kopf manchmal nach hinten, sein Mund öffnet sich und er schnarcht. Irgenwie bin ich auch gerade müde.
Der Hase kommt zurück und ist irgendwie nicht ganz zufrieden: „Die wussten nicht dass Du kommst. Und hier ist gerade großes Chaos. Ein Bett haben die nicht für Dich und man versucht noch ein Frühstück für Dich zusammen zu kriegen. Für Mittag bist Du nicht gemeldet.“ Ich höre die Worte zwar, aber der Sinn erschließt sich mir nicht vollkommen. Nur dass ich kein Mittag kriege, das verstehe ich und es betrübt mich ein bisschen. Der Hase geht noch auf die Pirsch und holt mir zumindest eine Flasche Wasser. Was gut ist, weil meine Zunge immer mehr am Gaumen klebt. Nach ein paar Schluck Aqua Minerale hat sich die Zunge buchstäblich gelöst und ich beginne meinen neuen Freund von gegenüber vollzutexten.
„Du weißt schon, dass Du nur Unsinn redest, oder?“, fragt der Hase, Und ja, ich weiß es. Und ja, ich finde es auch irgendwie ganz toll, dass ich das mache. Aber so langsam erwacht ein Teil in mir, der mich selbst beobachtet. Und ein klein bisschen Scham überkommt mich schon. „In welchem Stockwerk sind wir denn?“, frage ich. Der Hase meint es wäre der zweite Stock. Ein Blick aus dem Fenster sagt mir, dass es nicht der zweite ist. Wir sind höher. „Ich glaube wir sind in der sechsten Etage“, antworte. Obwohl meine Augen ganz genau sehen, dass es auf gar keinen Fall die sechste sein kann, schafft es diese Botschaft nicht so weit in mein Gehirn, dass ich sie verarbeiten kann. Genauso wie ich weiß, dass ich nur Blödsinn rede, diese Information aber nicht nutzen kann, um mich zu bremsen. Es ist irgenwie gespenstisch.
Das Frühstück für mich kommt noch nicht und weil ich seit gestern Abend keinen Krümel mehr gegessen habe, werde ich hungrig. Der Hase fragt nochmal nach. Man würde versuchen, noch etwas zu finden. Man findet schließlich noch ein Brötchen. Ein ganzes Brötchen wohlgemerkt. Und dazu eine Scheibe Käse und eine Scheibe Kochschinken und ein kleines Päckchen Erdbeermarmelade. Ich bin beeindruckt von der großen Menge und frage mich, wie ich das alles nur runterkriegen soll.
Ich esse das Brötchen und den Schinken und die Marmelade und den Käse. Und das obwohl ich keinen Käse mag. Wahrscheinlich hätte ich auch noch ganz andere Dinge gegessen. Schließlich esse ich dem Hasen noch die halbe Portion von ihrem Nudelsalat weg. Sie hat ihn mir angeboten und ich konnte nicht nein sagen. Nicht wenn der Mund mit dem Salat so voll ist. Ansonsten hat hier niemand etwas zu essen, dass ich klauen und dann kauen könnte. Ich fühle mich langsam etwas kräftiger und wir gehen den Weg zurück zu der Station, wo ich behandelt worden bin.
Wir gehen den Weg, den wir gekommen sind und ich kann mich kaum daran erinnern, hier schonmal gewesen zu sein. manche der Leute, die uns begegnen, springen in Deckung, wenn sie mich zu erkennen scheinen. Mir unerklärlich, was die alle haben. Wenn man es zusammenfasst, waren wir nur auf der stationären Station, damit ich ein Brötchen, das sie wahrscheinlich einem anderen Patienten gemopst haben, essen konnte. Da wäre es doch einfacher gewesen, man hätte auf der Behandlungsstation irgendeinen Stullen Oskar hingestellt, der da seine belegten Semmeln verkauft. Wäre vielleicht noch günstiger. Schließlich kostet auch der teilstationäre Aufenthalt einen Eigenanteil von 10 Euro. Da kriegt man schon ein paar Stullen bei Oskar.
Aber natürlich hat das alles auch seinen Sinn. Es hätte mir ja schlecht gehen können, nach der OP und dann hätte man auf der stationären Station irgendwen aus irgendeinem Bett geworfen, damit ich mich hätte hinlegen können. Wir haben noch ein Abschlussgespräch mit dem netten Doktor, der mich ein bisschen schelmisch ansieht und sich ein wenig darüber beömmelt, dass ich wohl etwas wirr war. Eine Art Wirrwarr, wenn man so will. Wir besprechen den weiteren Verlauf in den nächsten Wochen und Monaten und der Hase fragt noch mal nach dem Narkosemittel. Der Name ist mir wieder entgangen, aber sowohl Arzt als auch Hase, wissen, dass das genau das Mittel ist, mit dem sich Michael Jackson von Neverland ins Nirwana katapultiert hat. Allerdings hatte der da wohl eine erheblich höhere Dosis erfahre ich zu meiner Beruhigung.
Es ist Mittag, wir verlassen die Räumlichkeiten und fahren los. Zum nächsten Mäckes. Schließlich haben wir nun beide Hunger. Ich bin den Rest des Tages noch irgendwie müde und so langsam werde ich klarer im Kopf. Zusammengefasst war das alles eine ebenso seltsame wie eigentlich auch nicht ganz unschöne Erfahrung und mal ehrlich, soviel Publikum wie da, kriege ich nicht wieder.