Manchmal sind es die kleinen Anlässe, die das eigene Leben gehörig durcheinander bringen. Am schlimmsten ist dabei die Rubrik „Was wir schon immer mal machen wollten“. So wollten wir schon immer mal das Schlafzimmer neu gestalten. Ich wollte auch schon immer mal 52 Wochen im Jahr Urlaub haben, aber man kriegt nicht immer das, was man will. Aber jetzt haben wir uns entschieden Nägel mit Köpfen zu machen und das Schlafzimmer in Angriff zu nehmen. Und weil wir auch noch einen Wasserschaden mit ein paar Wänden im Flur und einem Kinderzimmer mit Schimmelbefall hatten, und weil das alles im Obergeschoss war, kam uns der leichtfertig Gedanke: Warum nicht gleich die ganze Etage. Kann ja so schlimm nicht sein.
Und weil unser Haus schon fast 20 Jahre alt und der Teppich oben auch schon ein bisschen durch mit allem ist, kam uns der noch leichtfertigere Gedanke: Warum machen wir nicht auch noch neue Bodenbeläge? Komischerweise mussten wir deswegen sämtliche Möbel aus den Räumen schaffen. Der Bodenleger wollte sie nicht anheben müssen, um darunter den Bodenbelag zu belegen. Die spannende Frage war, wohin mit allem? Und so groß ein Haus auch ist, es wird erschreckend klein, wenn nicht alles an seinem Platz steht und man erkennt plötzlich, wie viel Kram man hat, den man eigentlich nicht braucht. Ich möchte ja nicht jammern, aber es ist jede Menge Arbeit und seit Wochen ist irgendwie nur Chaos überall. Wir sind jetzt mitten in dieser Renovierungsmaßnahme und ich sitze im Wohnzimmer zwischen Möbeln, die eigentlich in irgendwelche Räume im Obergeschoss gehören und schreibe diese Zeilen.
Wie man erkennt, haben wir ein Haus. Ein eigenes Haus. Aber das war nicht immer so und der Weg dahin war nicht unbedingt immer ganz geradeaus. Und nach einer Grenzerfahrung in Sachen schrecklich wohnen (Oldenburg), einem Zusammenzug mit dem Hasen (Sottrum 1), einem Umzug in eine größere Wohnung (Sottrum 2), waren wir nach Bötersen gezogen. In ein Haus. Ein ganzes Haus, nur für uns. Nicht das Haus, was wir gebaut haben. Das kam später, aber in ein Haus, das wir gemietet hatten. Die Miete war verhältnismäßig günstig, das Haus schön, das Grundstück groß und die Vermieter sehr nett. Die Lage war auch super. Wenn ich oben aus dem Fenster sah, konnte ich die nächste Kneipe sehen. Und ja, Kindergarten und Schule waren auch nur einen Steinwurf weit entfernt. Eine Tatsache, die im Vergleich zur Kneipe ein bisschen sekundär war. Alles in allem hatten wir unser Domizil gefunden und würden hier so lange wohnen, bis wir ins Altenheim abgeschoben, oder mit den Füßen voraus weggetragen würden. Das war unumstößlich. Dachten wir zumindest.
An das Haus habe ich noch lebhafte Erinnerungen. An die offene Bauweise, bei der Wohn- und Esszimmer in den Flur und das Treppenhaus übergingen. Ich erinnere mich an die Küche, an einen HWR mit Tür nach draußen in den großen Garten, an ein Arbeitszimmer. Das alles war das Untergeschoss und oben gab es noch mehr Räume. Auch hier weiß ich noch ziemlich genau, wie alles ausgesehen hat. Aber komischerweise sind die Erinnerungen an das Bad auch hier eher verschwommen. Auch wenn die gegenteilige Vermutung nahe liegt, benutzt hatte ich es schon. Auch häufiger. Der Bedarf war halt da. Aber ich vermute, dass wir eine Badewanne und eine Dusche hatten und ich sie auch in der notwendigen Frequenz genutzt hatte.
Es war so neu für uns als kleine Familie in einem ganzen Haus zu wohnen und es war noch neuer in einem anderen Dorf zu leben. Wir kannten nicht viele Leute, aber meine Schwester wohnte im Nachbardorf und ein paar wenige Gestalten kannte der Hase auch schon. Der Hase kennt überall und immer irgendwie ein paar Leute. Und wenn nicht, dann dauert es nicht sehr lange, bis es soweit ist. Das war hier in Bötersen auch nicht anders. Schließlich hatten wir ein kleines Kind. Und das ist auf´m Dorf die Eintrittskarte. Und weil der Hase kontaktfreudig ist, kannte sie nach zweimal Kinderturnen schon gefühlt ein Dutzend anderer Mütter von kleinen Kindern. Kinderturnen, oder besser Mutter-Kind-Turnen ist so etwas wie die Kontaktbörse auf dem Land. Für sowas ist mein Hase geschaffen.
Und wenn wir durchs Dorf gingen, wurde sie andauernd von allen möglichen Leuten gegrüßt. Was nicht ganz unwahrscheinlich war, weil hier jeder jeden grüßt und egal ob man sich kennt oder nicht, ein Moin sagt man immer. Nur konnte der Hase schon von vielen Leuten sagen, wer wer ist und warum. Ich war noch nicht so weit. Auch wenn ich hin und wieder den Hasen beim Kinderturnen vertrat. Was eigentlich immer sehr nett war, aber nicht zu hundert Prozent zu mir passte. Man musste da viele Sachen aufbauen, auf und an denen die Kinder dann einfache Turnübungen machten. Aufbauen konnte ich und das hat mir auch gefallen. Und auch Hilfestellung bei den Übungen zu geben. Aber dieses Gesinge immer. Das war nicht so meine Welt.
Am Anfang saß man mit den Kindern im Kreis auf dem Boden. Damals war ich noch vergleichsweise jung und konnte noch schmerzfrei auf dem Boden sitzen. Dann wurde immer was erzählt von irgendwelchen Erbsen, die über die Straße rollen und dann platt sind. Ah, dachte ich, Verkehrserziehung. Aber die Metapher der Erbsen konnte ich nie so richtig deuten. Und es war erschreckend mit welchem Spaß das Überfahren der Erbsen, nachgestellt wurde. Das wurde zwar nie so richtig gesagt, aber warum hätten sie denn auf dem Weg über die Straße platt werden sollen? Und wenn die Kinder das Wort „platt“ sagten, klatschten sie mit den Händen auf dem Boden. Und dann wurde kurz ein Bedauern geheuchelt: „Oh wie schade, jammer jammer schade…“ bevor das Plattsein noch einmal bejubelt und beklatscht wurde.
Heidnische Bräuche, die darin mündeten, dass die Kinder am Ende des Turnens auf den Mattenwagen gesetzt wurden und die Eltern (zu 97,8 % alles Mütter), mit dem Gefährt über einige Schlangenlinien durch die Halle gezogen wurden. Und weil Mütter anscheinend immer gerne singen und weil Kinder es anscheinend immer gerne hören, wenn die Mütter singen, wurde diese Fahrt mit dem Mattenwagen immer zu einer Musicaldarstellung einer Eisenbahnfahrt umfunktioniert. Also intonierte dieser weibliche Ableger der Fischerchöre den Smashhit „Eisenbahn, Eisenbahn fahre nicht so schnell voran!“. Das an sich war schon nicht mein Ding, aber dann noch diese Tonlage….Nee, ich würde hier nicht mitsingen, so viel war mal sicher.
Aber meine Tochter, die mit Blicken viel mehr sagen konnte, als mit Worten, sah mich an und sprach nonverbal: „Du singst da jetzt mit.“ Und ich blickte zurück: “ Natürlich werde ich da nicht singen!“ „Wirst Du doch, sonst ist es mir peinlich vor meinen Freunden.“ „Es wird Dir viel peinlicher sein, wenn ich singe. Ich kauf Dir auch ein Eis, wenn Du mich so durchkommen lässt.“ „Es ist Winter und ich will kein Eis. Sing, sonst sage ich es Mama!“ Okay, sie hatte gewonnen. So wie Kinder eigentlich immer gewinnen.
Nun kennt man das Phänomen, dass Frauen bei niedlichen Tieren oder kleinen Kindern immer ein Stück höher sprechen als gewöhnlich. Wenn sie aber beim Kinderturnen singen, dann erreichen sie Oktaven für die man mich hätte kastrieren müssen, damit ich mithalten könnte. Und komischerweise war ich dazu nicht bereit. Irgendwo hört das mit der Vaterliebe auch auf. Also stimmte ich mit meiner brummig brüchigen Stimme in den Chor mit ein. Worauf erstmal Schluss war mit Singen. „Oh, wir müssen wohl eine Tonlage tiefer anfangen“, sagte die Leiterin des Kinderturnens und so arrangierte man sich mit mir. Und dann kam noch dieses „Tuut Tuut“. Und ich sagte wortlos zu meiner Tochter: „Das mach ich nicht! Alle hat seine Grenzen und ich bin ein erwachsener Mann und als solcher tute ich ganz bestimmt nicht!“ Natürlich habe ich getutet und das mit derartiger Inbrunst, dass manch ein Kind leicht traumatisiert nach Hause kam.
Dieses fragwürdige Turnereignis endete dann immer damit, dass ein Schlusskreis gebildet wurde. Und ich bin mir nicht sicher, ob da nicht nochmal die Sache mit den Erbsen dran kam. Für die Väter, die es beim ersten Mal nicht so ganz begriffen hatten. Und dann wurde nochmal gesungen. Warum wunderte das mich nicht? „Alle Leut, gehen jetzt nach Haus“ war das Lied und dann wurden alle Leute besungen, die nun nach Hause gehen würden. Große Leute, kleine Leute, laute Leute, leise Leute, dicke Leute….(warum nur blickten in diesem Moment alle zu mir rüber?) und so weiter. Und dann war Feierabend und wir gingen los. „Und nächste Mal bringst Du dann wieder die Mami mit“, sagte die Turnleiterin mit einem leisen Hauch von Erschütterung in der Stimme. Und ich sagte: „Ja, das wird sie.“
Wie man also unschwer erkennt, war das Kinderturnen nicht die Plattform für mich, um neue Kontakte zu knüpfen. Ich musste mich also mehrheitlich auf meine Kernkompetenzen konzentrieren. Und die lagen im Allgemeinen in meiner Ausdauer. Also auf Feiern. Ich war schon immer ein Mensch, der sich bei Bällen, Partys und Festen aller Art zusammen mit anderen müden Trinkgenossen im Morgengrauen aus dem Saal fegen ließ. Und wenn dann noch irgendwo bei irgendwem Eier gebacken wurden, dann war ich mit dabei. Wenn ich schon nicht in den Schützenverein oder die freiwillige Feuerwehr eintreten würde (ich mochte nichts was mit Uniformen zu tun hat), dann konnte ich wenigstens auf dieser Ebene punkten. Und wenn es notwendig war, dann sang ich auch. Geht nach dem elften Bier ja auch wesentlich leichter. Tuut Tuuuuut.
Ja, wie man sieht, lebten wir uns ein. Erste freundschaftliche Bande wurden geknüpft und da wir keine direkten Nachbarn hatten, stellten wir uns den Leuten von gegenüber vor und hatten auch hier ein nettes Verhältnis. Wie gesagt, wir waren angekommen. Unser Lebensmittelpunkt war für immer gefunden. Was in aller Welt sollte uns veranlassen, hier wegzuziehen? Nun, es ist manchmal so, dass die Dinge nicht in der eigenen Macht liegen.
In unserem Fall war es so, dass unser Vermieter eine neue Liebe gefunden hatte und sich deswegen von seiner Ehefrau, also unserer Vermieterin, trennte. Und weil es bei einer solchen Trennung auch mal schnell um die Vermögenswerte geht und darum, wie man das alles auseinander rechnet, muss vielleicht auch mal ein bisschen Geld generiert werden. Und das geht vielleicht auch am Besten, wenn man mal ein Haus verkauft. Eines, das man vermietet hat. Und unser Pech war, dass wir in so einem Haus wohnten. Aber nicht mehr für sehr lange.