Man kann als Mann so alt werden, wie man will, man bleibt immer der Sohn seiner Mutter und ist durch eine imaginäre Nabelschnur auf ewig verbunden. Und wenn der Sohn heranwächst und in die große weite Welt hinaus geht, dann ist das für ein Mutterherz nicht immer leicht zu verkraften. Als ich nach Oldenburg zog, war das nicht so wild, weil ich an den meisten Wochenenden wieder im Lande war und als der Hase und ich zusammenzogen, wohnten wir zumindest im selben Ort. Dieses Maß von wohnen in der Fremde, war für meine Mutter kein Problem. Die spannende Frage war, wie würde sie reagieren, wenn ich mal aus Sottrum weg zöge und seien es auch nur ein paar Kilometer.
Genaugenommen war es eigentlich auch für mich schon ein Ding der Unmöglichkeit, dass ich irgendwann Sottrum verlassen würde. Nicht dass Sottrum jetzt besonders schön gewesen wäre. Es war allerdings auch nicht hässlich. Was sich im Lauf der Jahre allerdings ein wenig geändert hat. Aber damals kannte ich hier jeden Grashalm und wie ich festgestellt habe, ist es manchmal egal, wie schön ein Ort, eine Stadt, eine Landschaft ist, wenn man lange genug da lebt, ist es die eigene Heimat und die muss nicht zwingend schön sein, um sie zu mögen. Wäre ja fatal, wenn es anders wäre. Dann würden sich alle Leute da tummeln, wo sie sonst Urlaub machen. Als wir nun dieses Haus in Bötersen besichtigten und es uns auf den ersten Blick unglaublich gut gefiel, schlugen zwei Herzen in meiner Brust und eines davon rutschte ein bisschen in die Hose, als ich meiner Mutter erzählen wollte, oder musste, dass ich da hin ziehen würde.
Dieses Telefonat ist mir auf ewig im Gedächtnis geblieben. Ich wählte die Nummer, es tutete zweimal, bis der Hörer abgenommen wurde. Was gut war, weil ich dann nicht meinen Vater am Apparat haben würde. So schnell war der nie am Apparat und das war in diesem Fall besser für alle Beteiligten. Er war ja ohne Telefon schon nicht sehr gesprächig, aber mit dem Hörer am Ohr, wurde seine Kommunikationswilligkeit auf ein Mindestmaß heruntergefahren. Ein paar knapp hingenuschelte einsilbige Wortfetzen von ihm und man wusste hinterher nie, ob er einen wirklich verstanden hatte. Auch weil gern im Hintergrund das nachmittägliche Trash TV lief, dass er sich immer ansah. Warum auch immer. Eigentlich war er nicht der Typ für sowas, aber man kann sich auch mal täuschen.
Jedenfalls war meine Mutter dran und freute sich, dass ihr Sohn sich endlich mal wieder meldete. Drei Tage waren schließlich schon seit unserem letzten Gespräch vergangen. „Es gibt Neuigkeiten“, begann ich das Telefonat und ließ die Katze noch ganz bewusst im Sack. „Na, was denn?“, fragte sie ebenso freudig wie ahnungslos. „Wir haben ein Haus gefunden, dass wir mieten können“, sagte ich. Ja, ein bisschen um den heißen Brei geredet war das schon. Ich suchte noch nach einer günstigen Formulierung, um sie schonend auf die nackten Tatsachen vorzubereiten. „Das ist ja toll, das freut mich“, sagte sie und mir war klar, dass das mit der Freude gleich vorbei sein würde. „Allerdings steht das Haus in Bötersen“, sagte ich. Schweigen am anderen Ende der Leitung. „Das ist wirklich schön und hat ein großes……“ „Und wollt ihr da hin ziehen?“, unterbrach sie mich mit einem leichten Hauch von Panik. „Ja“, sagte ich. Wieder Schweigen am anderen Ende. „Jetzt wirklich?“, fragte eine gebrochene Stimme vom anderen Ende der Leitung.
Ich glaube, wenn ich gesagt hätte, ich würde mit meinem Hasen eine Lehmhütte in Burundi beziehen, wäre die Überraschung nicht größer gewesen. Wobei ich natürlich nicht weiß, ob es in Burundi überhaupt Lehmhütten gibt. „Bist Du noch dran?“, fragte ich, als für gefühlt drei Minuten kein Wort aus dem Mund meiner Mutter kam. „Ganz nach Bötersen?“, fragte sie zur Sicherheit noch einmal nach. „Ja, ganz nach Bötersen, die vollen 7km“, sagte ich. Wieder Schweigen. Ich konnte beinahe sehen, was da an Subtext mitschwang. Zwischen den Zeilen, oder in den langen, langen Gesprächspausen sagte sie wortlos Dinge wie: „Willst Du Deine alte Mutter einfach so allein lassen? Hast Du Dir das gut überlegt? Haben die da überhaupt fließend Wasser? Ihr könnt doch auch bei uns wohnen…….“ Es folgten einige Minuten in denen ich ihr erklärte, warum das Haus ideal für uns wäre und dass ich mit 31 Jahren durchaus alt genug sei, um diesen Schritt zu wagen. Letzteres wurde schweigend angezweifelt.
Für meine Mutter war es der Ernstfall. Ihr mittlerer Sohn, der, wie sie dachte, für immer in Sottrum bleiben würde, wollte plötzlich weg. Nach Burundi, oder Bötersen, egal, irgendwas mit „B“ und außerhalb des Dorfes. Wir waren 5 Kinder zu Hause und wenn meine Mutter es hätte beeinflussen können, wären wir alle im Ort geblieben. Allerdings mindestens so weit entfernt, dass man schon mit dem Rad los müsste, um sich zu sehen. Einzig meine große Schwester ist im Ort geblieben. Wir anderen verstreuten uns um die Orte drumrum, bis auf meinen kleinen Bruder, der es sogar bis nach Regensburg schaffte. Was im Endeffekt weiter weg war, als Bötersen. Aber der Schock darüber war nicht wesentlich größer als bei meinem Umzug. Es war, als ob ich einmal über den Äquator ziehen würde. Doch unser Entschluss stand fest. Wir wollten dieses Haus und dieses Haus wollte uns.
Die zweite Hürde war, die Helfermannschaft wieder zu mobilisieren. Die Bereitschaft war schon da, aber man mochte schon gar nicht mehr fragen. Es war immerhin schon unser dritter Umzug und die Möbel kannten unsere Verwandten und unsere Verwandten kannten die Möbel schon auswendig. Allerdings wurde unser Mobiliar mit jedem Umzug auch umfangreicher. Neu im Programm waren ein komplettes Kinderzimmer und eine Einbauküche, die wir mitnehmen würden, weil im neuen Haus keine war. Dazu noch ein paar Gartenmöbel und jede Menge Schnickschnack. Wobei der Schnickschnack Anteil von Wohnung zu Wohnung exponentiell anstieg. Die Zeiten in denen man so einen Umzug mit einem Transporter und zwei PKW gestalten konnte, waren eindeutig vorbei.
Das Schöne war, dass wir unseren gesamten Plunder auf viel mehr Fläche verteilen konnten. Wir hatten ja nun ein ganzes Haus, was den Schwierigkeitsgrad mit sich brachte, dass ein großer Teil der Möbel ins Obergeschoss getragen werden musste. Denn wir hatten nun ein richtiges Obergeschoss. Mehr schöner Wohnen geht nicht. Vielleicht noch in einem Penthaus, aber Penthäuser waren und sind in Bötersen rar gesät. Wir mussten die Küche umbauen. Sie war ursprünglich in L-Form und musste nun in zwei geraden Fronten aufgebaut werden. Das bedeutete neue Arbeitsplatten und viel Arbeit beim Aufbau.
Was noch auffiel war, dass es mit jedem Umzug auch ein bisschen mehr Chaos gab und man so viele Kartons hatte, in denen nur unnütze Dinge waren. Ja, wir merkten, so ein richtiger Umzug ist ein hartes Stück Arbeit und die ging erst richtig los, wenn alle Helfer weg waren. Und wir schworen uns, dass dies unser letzter Umzug sein würde. Ein eigenes Haus war zwar unser großer Traum, aber wir waren Realisten genug, um zu wissen, dass das wohl nie was werden würde. Dieses Haus, das wir mieteten, war groß und schön genug, dass man darin alt werden könnte. Unser Vermieter meinte damals, dass bisher alle Leute, die in diesem Haus zur Miete gewohnt hatten, irgendwann ein eigenes Haus bauen konnten. Na, dann würden wir die Ausnahme von der Regel sein. Es war schön hier und wer oder was sollte uns schon vertreiben können? Eher würde es einen Präsidenten der USA mit schlechter Frisur und orangener Haut geben, als dass wir hier wieder wegziehen würden. Beides sind enorm große Unwahrscheinlichkeiten und trotzdem ist beides irgendwann einmal Realität geworden.
Wir sind irgendwann wirklich aus diesem Haus ausgezogen und es war nicht unsere Schuld……