Erste Eindrücke können täuschen und so wollte ich mich nicht gleich ins Bockshorn jagen lassen. Ja, mein Zimmer und ich hatten einen schlechten Start, aber ich war bereit, dem Ganzen noch eine zweite Chance zu geben. Vielleicht würden wir im Laufe der Zeit lernen, einander zu lieben. Es gibt ja Kulturen in denen einem ein Ehepartner bestimmt wird, ohne dass man ihn vorher kennenlernen konnte. Was mit Sicherheit nicht ganz einfach ist, aber es gibt auch immer wieder Fälle, wo es gut geht, wo die Zeit die einander Liebenden sich näher bringt. So war der Plan mit mir und diesem Zimmer. Außerdem hatte ich die Hoffnung, dass hinter all diesen Zimmertüren, es waren acht oder zehn in der ersten Etage und im Erdgeschoss noch mal ein paar weitere, lauter junge Menschen, Studenten lebten und man hier auch mal ein bisschen Party machen könnte. Geduld war also das Gebot der Stunde und ich bin ein sehr geduldiger Mensch.
Was mir relativ schnell auffiel war, dass es im gesamten Wohntrakt muffig war. Wenn man unten die Außentür aufschloss, zog einem das komplette Gegenteil von Frühlingsfrische entgegen. Zusammen mit dem fehlenden Lichteinfall, wurde man gleich ein bisschen niedergeschlagener, wenn man die Treppe hochging. Dann kam der noch dunklere Flur und die Beine wurden immer schwerer, bis man völlig entkräftet die eigene Zimmertür erreichte. Unschlüssig stand ich dann vor der Tür und rang mit mir, ob ich wirklich aufschließen und eintreten, oder lieber weinend im Regen auf dem Hinterhof kauern wollte. Der Kompromiss war, dass ich dann doch lieber in meinem Refugium blieb. Weinen konnte ich da ja auch.
Ich ging nie barfuß durch die Wohnung. Ich bin kein Kind von Traurigkeit, was alte Teppiche angeht. Schließlich war ich als Handwerker auf Montage schon in vielen zweifelhaften Hotels und Pensionen gewesen, aber der Bodenbelag hier, erweckte noch weit weniger Vertrauen, als ich es sonst irgendwie erlebt hatte. Ob Ungeziefer anwesend war, konnte ich nicht erkennen. Vermutlich eher nicht. Eine Kakerlake hat schließlich auch ihren Stolz und geht nicht überall hin. Das einzige, was ich mit nackten Füßen betrat, war die Dusche. Naja, ganz nackt waren sie nicht, sie steckten in Badelatschen, aber ich spielte mit dem Gedanken hier Gummistiefel zu tragen. Wer wusste schon, wie hoch Bakterien springen konnten.
Der Kühlschrank ratterte einigermaßen laut, wenn er kühlte und nach einiger Zeit konnte ich ohne dieses Geräusch nicht mehr richtig in den Schlaf finden. Das Muffige aus dem gesamten Wohntrakt steigerte sich in meinen vier Wänden erheblich. Was natürlich zu einem Großteil an den alten Möbeln, Teppichen und dergleichen lag. Aber in der Hauptsache war es das Waschbecken, was meiner Nase zu schaffen machte. Wie ich relativ schnell herausfand, war der Abfluss der Grund allen Übels. Es fehlte ein Siphon unter dem Becken. Also dieser gebogene Abfluss, in dem immer ein bisschen Wasser steht. Als Geruchsverschluss sozusagen. Ohne diesen hatte mein Waschbecken einen direkten Duftzugang zur Kanalisation. Eau de Toilette mal etwas wörtlicher genommen.
Getreu dem alten Handwerkermotto, man kann ja blöd sein, man muss sich nur zu helfen wissen, kam ich auf die bahnbrechende Idee, einfach den Stöpsel in den Abfluss zu stecken. Müsste ja gehen. Ging auch, aber durch den Überlauf am oberen Rand des Beckens müffelte es ungeniert weiter. Diesem Problem ging ich mit Frischhaltefolie und Klebeband an den Kragen. Geruchsfrei war es dann zwar noch immer nicht in meinem Verlies, aber es wurde erträglicher. Und so verbrachte ich unschöne Tage und unruhige Nächte inmitten von alten Möbeln, einem ratternden Kühlschrank auf einem suspekten Schlafsofa. Das wiederum wurde am ersten Tag einmal ausgeklappt, so dass man liegen konnte und danach nie wieder eingeklappt. Wenn ich von der Hochschule heimkam, dann setzte ich mich nicht, sondern legte mich hin, schaltete den Fernseher ein und war auf dem besten Wege so weit abzurutschen, dass ich die Körperhygiene zumindest vernachlässigen würde. Ich sah es direkt vor mir, wie ich nur noch Jogginghosen tragen, Proletentalkshows ansehen und mein Haar verfetten lassen würde. Mein Zimmer war eine Art schwarzes Loch, das alle positive Energie absorbierte und es war sehr schwer sich dem zu entziehen.
Wer hinter all den vielen anderen Türen wohnte, das habe ich nie erfahren. Dass die Zimmer aber bewohnt waren, das war eindeutig. Ich habe bloß nie jemanden zu Gesicht bekommen. Also war ein Kennenlernen von Leidensgenossen nicht möglich. Manchmal sah man die ein oder andere finstere Gestalt durch den Flur huschen, oder im dunkelgrauen Treppenhaus hatte man vielleicht mal Gegenverkehr. Aber das waren nie junge Menschen. Wahrscheinlich illegale Einwanderer, oder erfolglose Kleinkriminelle. Man blickte sich nie in die Augen und grüßte einander auch nicht. Es war schon höchstseltsam, wo ich hier gelandet war.
Seltsamer wurde es, als in einer der unteren Wohnungen, die auch über eine schmucklose Terrasse verfügten, eine Art Trinkgelage stattfand. Ausnahmslos männliche Stimmen schallten zu mir hoch und ich wurde den Verdacht nicht los, dass es hier einige merkwürdige Strömungen gab, die unter erheblichen Alkoholeinfluss noch merkwürdiger wurden. Das Ganze steigerte sich so weit, dass die Jungs irgendwann die ersten ein paar Lieder anstimmten. Das klang alles militärisch zackig und rutschte dann ziemlich direkt in die rechtsextreme Richtung ab. Mit ein paar lautstarken „Sieg Heil“ Rufen endete das Beisammensein des Neonazi Ortsverbandes und ich fragte mich, ob die nun bei mir einmarschieren wollten.
Der nächste zweifelhafte Kontakt, oder das was einem Kontakt mit einigen Abstrichen am nächsten kam, war zu meinem Nachbarzimmer. Es hing damit zusammen, dass es hier im „Haus“ auch ein wenig hellhörig war. Und wenn ich auf meinem Schlafsofa lag und ganz still war, konnte ich hören, wie auf der anderen Seite der Wand, sich jemand beim Einschlafen hin und her wälzte. Man traute sich nicht, diese Wand zu berühren, weil sie wahrscheinlich nur aus zwei Tapeten bestand, die aneinander geklebt waren. Ich war mir nicht sicher, ob ich nicht auch ganz schwach die Silhouette meines Nachbarn als Schatten in der Wand sehen konnte. Was sich aber nicht überhören ließ, war sein Husten.
Es gibt sehr viele Arten von Husten und mein unbekannter Wand-an-Wand-Nachbar beherrschte sie alle. Vom leisen Röcheln, über ein mittelschweres Keuchen bis hin zu dieser Sorte Husten, bei der der Pneumologe Sorgenfalten auf der Stirn bekommt, es gab nichts auf der Klaviatur des ungesunden Ausatmens, was er nicht von sich gegeben hätte. Das Ganze hatte auch irgendwie etwas Tröstliches, denn so fühlte man sich nicht ganz einsam und verloren in dieser Wohnstätte. Eines Abends, ich hatte mich mal wieder meinen Einschlafschwierigkeiten hingegeben, ertönte ein neuer Hustenanfall von der anderen Seite der Tapete. Aber dieser war anders als die anderen alltäglichen Attacken.
Er begann zu husten und steigerte sich dabei fortwährend. Schleim löste ich lautstark und wie ein knatterndes Maschinengewehr kamen die Hustgeräusche durch die Wand. Das ging so gefühlt drei Minuten lang, ohne dass er erkennbar eingeatmet hatte. Und ich fragte mich gerade, wie lange ein Mensch am Stück ausatmen konnte, ohne das Bewusstsein zu verlieren, als plötzlich, nach einem ekel-und schwindelerregenden Anstieg der Keucherei, Stille eintrat. Eine furchtbar plötzliche und sehr leise Stille. Wie abgeschnitten war auf einmal Ruhe. Kein Piep mehr von der anderen Seite und ich machte mir wirklich große Sorgen. Was wenn der jetzt seinen letzten Atemzug getan hat? Sollte ich irgendwie versuchen den Notarzt zu rufen? Wie gesagt, es gab damals noch keine Handys -zumindest kannte ich niemanden, der eines gehabt hätte und ich selbst wusste nicht, dass es sowas überhaupt gab. Und dann, was sollte ich sagen? „Hallo, meine Name ist…. und ich glaube der Bewohner aus meinem Nachbarzimmer hat für immer ausgehustet.“
Oder sollte ich mal anklopfen und fragen, ob alles gut ist? Was, wenn ich keine Antwort bekäme, sollte ich dann die Tür aufbrechen, oder einfach ein großes Loch in die Wand hauen? Letzteres schien mir bei dem offensichtlich hauchdünnen Gemäuer beinahe die einfachere Lösung zu sein. Und dann, müsste ich dann eine Mund zu Mund Beatmung machen? Allein der Gedanke, diesen Husten/Schleimmund mit meinen Lippen zu berühren war beängstigend. Oder aber, sollte ich ihn seinem Schicksal überlassen? Schließlich wusste ja keiner, dass ich ihn gehört hatte. Und wenn nach ein paar Tagen Verwesungsgeruch aus dem Zimmer träte, könnte ich immer noch scheinheilig und unwissend tun. Ich befand mich offensichtlich in der Zwickmühle und nur ein erneutes Husten, nach ungefähr vier Minuten Pause, bescherte mir die Gewissheit, dass noch Leben vorhanden war. Offensichtlich kein gesundes und langes Leben, aber das war nun wirklich nicht mehr mein Problem.
Das mit mir und meinem Studium hat letzten Endes nicht hingehauen. Gründe dafür waren mangelnde Intelligenz, fehlender Fleiß und in einem nicht unerheblichen Maße meine Wohnsituation. Ich habe noch versucht etwas anderes zu finden, damals in Oldenburg. Zusammen mit einem Mitstudenten wollte ich sowas wie eine WG aufmachen. Aber so sehr wir uns auch mühten, es war nichts zu finden. Relativ weit außerhalb von Oldenburg hatte man uns eine Art Gartenhäuschen zum Bewohnen angeboten. Für nicht gerade wenig Geld. Haben wir aber nicht genommen. Ich selbst habe dann noch ein Casting bei einer WG gehabt, aber da war die Konkurrenz enorm groß. Man fand einen Mitbewohner, der wohl besser geeignet war als ich. Unvorstellbar, aber wahr.
Und so zog ich aus, aus dem Tempel der Verzweiflung. Mit gemischten Gefühlen. Ich bin weder in der Kneipe, noch in dem Kino gewesen. Auch wenn beide wirklich um die Ecke lagen. Ich musste erkennen, dass Oldenburg nunmal eine Stadt ist und ich ein Landei bin und bleiben werde. Ich ging also wieder zurück und mir war klar, dass ich nicht mehr zu Hause bei meinen Eltern wohnen wollte. Auch wenn sie schrecklich war, hatte meine erste eigene Wohnung das Gefühl in mir erweckt, dass es an der Zeit war, sich auf die eigenen Beine zu stellen. Und ich war mir mit dem Hasen einig, dass wir schnellstmöglich zusammenziehen würden und dass ihr Appartement nicht für zwei Personen ausreichen würde.