Manchmal liegen Ursache und Wirkung weit auseinander, sehr weit mitunter. Manchmal vergehen sogar rund 17 Jahre, bis zwei Ereignisse zusammen passen. Und man sagt sich, wäre dies nicht gewesen, hätte es das nicht gegeben, oder umgekehrt. Im nun folgenden Fall war ein Sturm im Sommer 2008 die eigentliche Ursache für einen Abend der etwas anderen Art im späteren Frühling 2025.
Der Sturm damals war einer dieser Stürme von denen man später sagen würde, dass selbst die Alten so etwas noch nicht erlebt hatten. Eine Art Windhose, die sich laut Zeugenaussagen eher waagerecht als senkrecht fortbewegte (eine Windwalze, wenn man so will), bretterte über einige Dörfer und Gemeinden in der erweiterten Umgebung und hinterließ wirklich eine Schneise der Zerstörung. Es war das Wetterereignis schlechthin und wer war nicht zu Hause, um es mit eigenen Augen zu sehen? Genau, ich! Und der Hase und unsere Kinder. Wir kamen aus dem Urlaub zurück und überall lagen umgestürzte Bäume. Der Katastrophentourist in mir, hätte liebend gerne gesehen, wie sie umgeweht wurden, aber man kann ja nicht alles haben. Es gab noch einige Schäden an Gebäuden und Autos, aber weder Tote noch Verletzte. Eine Katastrophe light. Gottseidank!
Das Gute daran war, dass es jede Menge Feuerholz gab und ich günstig an einen großen Haufen davon gekommen war. Nun hatten wir mehr Holz, als wir unterbringen konnten und streng genommen keinen Platz, wo wir es lagern könnten. Also baute ich eine Art Anbau an unser Gartenhaus in dem ich dann das meiste unterbringen konnte. Bis hierhin war noch alles gut.
Doch die Jahre vergingen, der Holzvorrat wurde kleiner und der Anbau umfunktioniert, als eine Art Schuppen für alles, was man sonst nicht unterbringen konnte. Allerdings habe ich das Dach nie ganz dicht bekommen. Der Schuppen hatte also einen Dachschaden und der Zahn der Zeit nagte doch sehr an ihm. Wir waren uns so ähnlich, mein Schuppen und ich. Und bevor er nun vor meinen Augen weggammeln würde, habe ich in diesem Jahr den Entschluss gefasst, ihn abzureißen. Das heißt, der Hase hat den Entschluss gefasst, dass ich ihn abreißen möchte. Es ist bei uns also wie in jeder guten Ehe.
Der Abriss selbst machte mir mehr Spaß, als ich vermutet hatte und ich war mit einem gewissen Eifer dabei. Wundersam war nur die Anzahl der Nägel, die dieses, mittlerweile etwas marode gewordene, Bauwerk zusammenhielten. Es musste mir vor rund 17 Jahren eine helle Freude gewesen sein, die unterschiedlichsten Nägel ins Holz zu treiben. Lange Nägel, kurze Nägel, Nägel in verzinkt und Nägel naturbelassen, all diese und noch viel mehr musste ich augenscheinlich in einem gewissen Fieberwahn damals verarbeitet haben. Es steckten derart viele Nägel in den Brettern, dass kaum noch Platz für Holz geblieben war.
Das hatte damals vielleicht eine gewisse Bewandtnis, schließlich sollte der Anbau ja mindesten ewig, wenn nicht noch länger halten. Aber beim Rückbau war das alles dann auch ein bisschen hinderlich. Und weil ich wusste wie gefährlich Nägel werden können, die aus dem Bauholz herausragen, war ich ziemlich akribisch darauf bedacht, sämtliche Nägel zu ziehen, oder aber wenigstens krumm zu hauen. Zumindest für die meiste Zeit des Rückbaus. Es entstand ein ziemliches Chaos, das man bei derartigen Arbeiten nicht vermeiden kann und ich hatte alle Hände voll zu tun, es zu beseitigen.
Da kam der Hase zu mir und wollte helfen. Das wollte sie eigentlich schon von Anfang an, aber ich arbeite gerne alleine und hatte ihre Angebote bisher immer abgeschlagen. Aber nun bestand die Hauptarbeit darin, das alles aufzuräumen und wenn es einen Menschen gibt, der ein Ass im Aufräumen ist, dann ist es mein Hase. Da beißt die Maus keine Möhre, äh, keinen Faden ab. Und so ließ ich mich erweichen, sie doch mit ans Bord zu nehmen. Und ich sagte noch: „Vorsicht, da könnten eventuell auch noch ein paar Nägel rausgucken!“ Und der Hase sagte: „Ich glaube ich habe einen gefunden.“ Und der Hase zeigte auf einen Schuh, an dem ein kleines Brett an der Sohle steckte.
„Ich bin wohl auf einen Nagel getreten“, vervollständigte der Hase seine Angabe und klang dabei relativ gelassen. Was mich dann zu der Annahme verleitete, dass die Sache nicht so schlimm wäre. Aber trotzdem tauchte schon die erste Frage auf: Nagel rausziehen, oder nicht? Das Brett war kurz und man könnte ja mit damit zum Arzt, damit der das rauszieht. Allerdings, was wäre, wenn es ein langes Brett gewesen wäre? Wahrscheinlich wäre der Nagel bei einem Schritt, den man getan hätte auch von selbst wieder draußen gewesen. Wir beschlossen, dass es schon in Ordnung wäre, wenn wir das Teil in Eigenregie entfernten.
Der Hase hob den Fuß an und ich machte mich daran, das Brett inklusive des Nagels vom Schuh zu entfernen. Wie lang der Nagel war, konnte ich nicht sehen. Der Hase hielt sich an meinem linken Oberarm fest, als ich das Corpus Delicti herauszog, um das Gleichgewicht zu halten. Zumindest dachte ich das für einen kurzen Moment. Richtig ist aber, dass mein Hase mit aller Gewalt meinen Bizeps von meinem Oberarm reißen wollte. Sie krallte die Finger in den Muskel und zog wie wild daran. Und, alles was Recht ist, aber das tat wirklich weh. Warum tat mein Hase so etwas?
Die Tat könnte auch mit der Länge des Nagels am Brett zusammenhängen. Ich konnte vorher nicht sehen, dass es ein 65er Nagel war, wobei die 65 für die Länge in Millimeter stand. Zieht man das Brett ab, in dem er steckte, dann blieben noch rund 45mm übrig, die sich in den Fuß bohrten. Abzüglich der Sohle von den Gartenkrogs, die ziemlich dick war. Das was übrig war, reichte immer noch für ein gutes Stück vom Fuß und beim Herausziehen dachte ich, der Widerstand, den ich beim Ziehen verspürte, käme in erster Linie von der Schuhsohle. Das es aber zu großen Teilen das Innere des Hasenfußes war, wurde mir etwas später bewusst.
Ich jammerte wegen des zerfetzten Oberarms und der Hase jammerte, weil da irgendwas mit irgendeinem Nagel war. Aber mein Arm tat schon weh. Wahrscheinlich würde es einen megagroßen blauen Fleck geben. Wochenlang könnte ich kein T-Shirt tragen, damit keiner auf die Idee kommen könnte, dass ich ein Opfer von häuslicher Gewalt geworden wäre. Ich war gefangen von meinem Schmerz und meinen Gedanken. „Ob du mir vielleicht mal helfen könntest?“, unterbrach mich der Hase und aus einem Fuß blutete es. Warum nur? Ach ja, der Nagel, das Brett, oha: „Na klar, was brauchst du?“ fragte ich und meine Besorgnis war wirklich echt, ich schwöre. Denn es blutete schon nicht ganz unerheblich.
Und wie immer in Notsituationen kamen die Anweisungen vom Hasen knapp und zackig. „Geh hoch, hol mal Verbandsmaterial und eine Jodsalbe. Du weißt ja, wo alles liegt“, sagte der Hase und ahnte schon, dass ich selbstverständlich nicht wüsste, wo alles liegt. Also im Groben schon, denn wir haben ein paar Fächer in einem bestimmten Schrank in denen unsere Arzneien lagern und alles was Recht ist, aber manch eine Apotheke würde neidisch werden, bei unserem Sortiment. Und das ist das Problem. Die Auswahl an Dingen ist zu groß und die Sortierung ist für mich irreführend.
Den Verband fand ich schnell, fehlte nur noch die Salbe und die zu finden, war eine Herausforderung allererster Kajüte. Besonders wenn von unten ein gewisser Druck aufgebaut wurde. Der Hase war nämlich ein wenig ungeduldig. Mir schleierhaft, ist sie doch sonst nicht (hüstel). „Wird das heute noch was?“, erschallte eine Frage von unten, während ich mich hektisch durch Tuben und Packungen aller Art wühlte. Nach einer gefühlten Ewigkeit von 3,25 Minuten wurde ich fündig. Ich fand die Salbe bei der Sonnencreme, wo auch sonst, und sprintete nach unten. Soweit ich altersbedingt zum Sprinten in der Lage war. Ich würde mit meinem Hasen mal ein Gespräch darüber führen müssen, nach welchem Prinzip sie die Dinge sortiert, aber das verschob ich auf später. Jetzt war die Wundversorgung wichtig.
Die Blutung war gestoppt und der Hase nicht ohnmächtig. Gute Nachrichten soweit. Und nun kamen die nächsten Fragen auf. Arzt konsultieren oder nicht? Man ist ja ein wenig unsicher, wenn sich ein alter Nagel in einen Hasenfuß bohrt. Immerhin war er verzinkt und deswegen nicht rostig. Aber war er auch sauber genug? Was wenn sich das alles entzündet? Wenn der Fuß gammelig wird und der Hase wochenlang ausfällt? Wer geht dann einkaufen? Um alles andere im Haushalt könnte ich mich schon kümmern, aber Einkaufen ist die Hölle. Aber das nur am Rande. Mit einem Gemisch aus echter Sorge um meinen Hasen und ihre Arbeitskraft, überlegte ich, was nun das Beste wäre. Der Hase überlegte auch und wir kamen zu dem Schluss, dass wir den ärztlichen Notdienst aufsuchen würden.
Es war in etwa 17:30Uhr als wir dort eintrafen und der Hase ging zur Anmeldung, legte das kleine Brett mit dem Nagel auf den Tresen und sagte: „Der steckte in meinem Fuß, was muss ich jetzt machen?“ „Erstmal im Wartezimmer Platz nehmen“, sagte die etwas überraschte Helferin von der Anmeldung. Wir gingen also in das Wartezimmer und das erste was der Hase nach einer knappen Begrüßung der anderen Wartenden sagte, war: „Gott ist das stickig hier. Hier ist ja überhaupt kein Sauerstoff mehr. Hat irgendwer etwas dagegen, wenn ich ein Fenster öffne?“
Letztere Frage war eher rhetorisch, denn im gleichen Moment war sie auch schon zum Fenster gehumpelt und öffnete es auf Kipp. Der Rest der Leute im Zimmer war sichtlich überrascht, wie aus einer Lethargie erwacht und bevor noch irgendwer irgendwie zustimmen oder ablehnen konnte, hatte der Hase auch schon die Wartende, die direkt am Fenster saß, gefragt, ob sie mal ein Stück rutschen könnte, damit der Hase das Fenster auch weit öffnen könnte. Was dann sofort umgesetzt wurde. Niemand traute sich abzulehnen.
Es hatte ein bisschen was von einem Einmarsch, wie mein Hase ins Zimmer kam, aber danach war die Luft spürbar besser. Der Wartebereich wurde voller und ich ging ins Auto, damit ich keinen Platz für Bedürftige blockiere. Das gefiel mir gut, denn hier konnte ich wenigstens Musik hören. Aber nicht lange, das Wartezimmer leerte sich und ich wollte wieder zur moralischen Unterstützung zum Hasen zurück.
Der Reihe nach wurden Namen von Patienten gerufen, die dann auch aufstanden und zum Behandlungszimmer gingen. Irgendwann war es dann soweit und der Ruf: „Der Hase bitte!“ erschallte. Nein, natürlich wurde sie mit echtem Namen aufgerufen, wäre aber mal schön gewesen. Ich blieb im Wartebereich, konnte aber einen Blick auf den behandelnden Arzt werfen. Und wenn dein Arzt einen Strohhut mit Federn dran auf dem Kopf hat und auch sonst irgendwie seltsam und verhuscht wirkt, dann wirft das Fragen auf. Zumindest bei mir. Man hat ja schnell seine Vorurteile und bei dem Outfit, war ich mir nicht sicher, ob der Typ noch alle Latten am Zaun hat.
Hatte er aber doch und das erste was er sagte war: „Grundregel eins: Nie Bretter mit Nägeln nach oben auf dem Boden liegen lassen!“ Tja, da hatte er wohl Recht. Er verschrieb noch ein Antibiotikum, das präventiv eingenommen werden sollte und ich hatte immerhin so viel Vertrauen gewonnen, dass ich schon glaubte, er würde wissen, was präventiv und Antibiotikum bedeutet. Prima, dachte ich, dann können wir ja gleich wieder nach Hause. Was gut war, denn dort wartete ein Kartoffelsalat, ach was sage ich, der Kartoffelsalat vom Hasen gemacht, auf uns. Und ich war und bin ein großer Fan von diesem Kartoffelsalat und außerdem war es schon halb sieben, da kann man auch schon mal Hunger haben. Ich sah es direkt vor mir, wie wir nach Hause kämen, der Hase sich auf das Sofa legen würde und ich den Kühlschrank öffnete, aus dem dieses magische Leuchten des Kartoffelsalates……
„Wir sollen noch zum Krankenhaus fahren“, ließ der Hase meinen Traum zerplatzen. Der Arzt war sich unsicher, ob der Fuß nicht noch eingehender untersucht werden müsse und wollte zur Sicherheit abklären lassen, ob da nicht noch irgendwelche weiteren Gefahren drohen. Wer wagt es da zu widersprechen. Kartoffelsalat hin oder her, der Hasenfuß ist wichtiger. Ein bisschen zumindest. Soweit die Vorgeschichte, nun kommt der zweite Akt: das Krankenhaus.
Wir holen noch das Antibiotikum und fahren dann zum Krankenhaus. In der Notaufnahme ist man sehr nett und schickt uns gleich in die chirurgische Ambulanz. Ich habe einen Plan. Wenn es voll ist, setze ich den Hasen ab, fahre nach Hause und sie meldet sich dann, wenn sie fertig ist. Aber irgendwie macht alleine Kartoffelsalat essen auch nur den halben Spaß, also komme ich zumindest in die Ambulanz und blicke ins Wartezimmer. Eine junge Frau in einem Trainingsanzug und ein mittelalter Mann mit zwei Kindern im Grundschulalter, das sind die einzigen Wartenden, die wir sehen. Kann ja nicht so schlimm werden, denke ich und bleibe beim Hasen. Auch ein bisschen deshalb, weil ich ein wirklich geduldiger Wartender bin. Das bin ich wirklich und damit auch manchmal das Gegenteil vom Hasen. Und ich denke, dass ein bisschen Unterstützung dem Hasen auch gut tun wird.
Es ist mittlerweile ungefähr 20 Uhr und der Vorfall ist schon ein bisschen über drei Stunden her. Aber wenn ich eins weiß, dann dass es im Krankenhaus dauern kann und es hat eigentlich nichts zu heißen, ob da nun drei oder zwölf Personen im Wartezimmer sitzen. Da muss nur mal ein Notfall kommen und der Bereitschaftsdienst am Samstagabend ist erstmal ausgebucht. Da ist ein Loch im Fuß nicht die Prioritätsstufe 1 und das ist auch gut so. Das weiß der Hase genauso gut wie ich und wir richten uns auch ein bisschen darauf ein. Ich mache noch ein paar Scherze, dass wir dann um 23.14 Uhr drankommen, die der Hase nicht zwingend hören will.
Und dann passiert nichts. Also rein gar nichts. Hin und wieder geht mal irgendein Arzt oder Pfleger oder eine Schwester über irgendeinen Flur, tritt durch eine Tür und verschwindet. Und manchmal kommt auch irgendwer wieder raus. Das Ganze ist so spannend, wie der Englischunterricht in der 7. Klasse. Ich habe den seinerzeit mit offenen Augen verschlafen. Und wenn man so sitzt und nichts zu tun hat, beobachtet man ein bisschen die Leute um sich herum. Da ist zunächst mal der Hase, mir bekannt und noch erstaunlich geduldig. Dann die junge Sportlerin, die sich hin und wieder mal auf dem Stuhl ein bisschen aufsetzt, was augenscheinlich sehr schmerzhaft ist. Sie weint dann leise. Und der Mann mit den beiden kleinen Mädchen sitzt zusammengekrümmt und hat irgendwas mit seinem linken Handgelenk. Scheint auch weh zu tun, er hat so einen schmerzverzerrten Blick und wirkt auch etwas unruhig.
Er spricht mit seinen Töchtern, dass sie wohl mal jemanden holen sollen, weil es ihm nicht so recht gut geht. Die Mädchen gehen los und er steht auf, nur um sich dann auf den Boden zu legen und seine Beine auf einem kleinen Stuhl hochzulagern. „Hmmh“, denke ich,“ eigentlich sollte ihn mal jemand fragen, ob alles in Ordnung ist.“ Ich wäge das Für und Wider ab und komme nach kurzer Unterredung mir mir zu dem Schluss, dass ich ja eigentlich auch selbst mal fragen kann, wie es ihm da so geht, unten am Boden. Selbstverständlich ist der Hase wesentlich schneller und hat sofort nachgefragt. Ich glaube ich bin als Ersthelfer eine ziemliche Niete. Also wer mal ohnmächtig werden möchte, sollte vorher nachsehen, ob ich in der Nähe bin und sein Ansinnen verschieben.
Der Angesprochene sagt, dass alles soweit ok wäre, ihm sei nur ein bisschen schlecht geworden. Seine Töchter kommen wieder und sind besorgt. Eine Schwester sieht um die Ecke und kriegt erstmal einen Schreck, als sie ihn liegen sieht. „Der ist nicht hingefallen, er hat sich selbst hingelegt“, sagt der Hase und klärt die Situation auf, lange noch, bevor ich überhaupt den Gedanken fasse, hier mal etwas zu sagen. Wenn also irgendwer in meiner Nähe ohnmächtig werden möchte und der Hase ist bei mir, dann stehen die Chancen besser. Ich wollt, ich könnte auch so spontan diese Art von Situation meistern. Ich habe andere Qualitäten. Geduld zum Beispiel, aber das sagte ich ja schon. Aber da ist der Hase heute auch ganz weit vorn. Ich bewundere sie ein bisschen dafür.
In Windeseile sind drei Schwestern und ein Hightech-Krankenbett zur Stelle und der Mann darf sich hinlegen und wird abtransportiert, auf dass er behandelt werden kann. Die Taktik ist gut, denke ich und überlege, ob der Hase sich auch mal auf den Boden legen sollte, verwerfe aber im Sinne eines fairen Wettbewerbs meinen hinterhältigen Gedanken, dem Hasen diesen Vorschlag zu machen. Also warten wir weiter. Und es passiert mal wieder nichts. Im Hinterkopf hat man immer dieses latente Verlangen danach, dass eine Stimme erschallt und die junge Dame aufruft, die schon vor uns hier gelandet ist. Dann wüsste man wenigstens, dass irgendwer noch da ist. Es ist einfach gespenstisch ruhig und so lausche wir den Hits von Radio Antenne. Ist nicht schön, hätte aber schlimmer kommen können.
Ein junges Pärchen kommt dazu. Er hat einen leichten Vollbart und sie ein schmerzendes Knie. Da er bestimmt nicht rasiert wird, ist sie dann wohl der Anlass für deren Hiersein. Ich weiß nicht, wie viel Zeit schon vergangen ist, aber über den ersten großen Hunger bin ich hinweg. Ich halte mich mit einer angebrochenen Packung „Fishermans Friend“ über Wasser indem ich mir einrede, sie würden nach Kartoffelsalat schmecken. Und außerdem hat mein Bauch offensichtlich noch genug Reserven.
Wir verharren in einer Stille, die man sonst nur vom Sonntagmorgengottesdienst aus der eigenen Konfirmationszeit kennt und ich kann nicht direkt sagen, wie viel Stunden schon vergangen sind. Aber es wird wohl schon längst dunkel sein. Eine Frau kommt dazu und setzt sich. Offensichtlich hat sie Knieprobleme. Sie sitzt kaum, da wird sie auch schon aufgerufen. Verwunderung macht sich breit. Schließlich warten wir anderen ja schon viel länger. Ich nehme mal an, sie kommt vom Röntgen oder sowas und beschwichtige den Hasen. Kurz darauf tauchen noch vier weibliche Personen auf. Zwei Frauen und zwei Mädchen im Grundschulalter. Auch die sitzen kaum 10 Minuten, da werden sie auch schon wieder aufgerufen.
Danach ist wieder Stille. Ich meditiere. Also, ich denke ich würde es machen. Meine Gedanken schweifen ab und landen ausnahmsweise nicht beim Kartoffelsalat. Sondern beim Hasen. Man könnt ja mal fragen, wie es ihr geht. Ihr Fuß würde schmerzen, sagt der Hase und ich frage mich beinahe, wieso er dies tut. Man wird doch ein wenig rammdösig, wenn man so sitzt. Es gibt einen Wasserspender und in unregelmäßigen Abständen fragt der verletzte Hase, ob ich ihm ein bisschen Wasser holen könne. Das sind dann schon die aufregenden Momente. Das Highlight ist aber ein Automat für Kaffeegetränke und Suppen, der neben dem Wasserspender steht.
Und wir lassen uns dann doch irgendwann hinreißen, dass ich 2 Euro investiere und dem Automaten eine Suppe entlocke. Der Automat ist ein wenig störrisch, wahrscheinlich hat er keinen Bock auf Samstagsabenddienst und verweigert mir die Herausgabe von einer Hühnersuppe, die aber ausdrücklich angeboten wird. Nachdem ich gefühlt 38 Mal auf die dazugehörige Taste gedrückt habe, ohne dass ich ein Ergebnis erziele, kommt der Hase auf den revolutionären Gedanken, dass ich es vielleicht mal mit einer anderen Suppentaste versuchen sollte. Zielsicher wähle ich die Rindervariante, die erstens vorhanden ist, zweitens mir auch serviert wird und drittens eigentlich nichts anderes ist, als ein überteuerter Brühwürfel, der in einem kleinen Schluck Heißwasser aufgelöst wurde.
Die Suppe/Brühe schmeckt aber eigentlich ganz lecker und ich meine Spuren von Kartoffelsalat herauszuschmecken. In der Zwischenzeit ist das Knieproblem, also die dazugekommene Dame, noch einmal für einen kurzen Moment zu uns gekommen und wird dann wieder aufgerufen. Und mit den anderen vier Späterscheindenden ist es ähnlich. Wird alles seine Richtigkeit haben, ist aber auch irgendwie merkwürdig. Und so warten wir drei Parteien: das Knie im Sportanzug, das Knie mit dem bärtigen Freund und der Hase mit dem Nagel im Fuß darauf, dass irgendwann mal irgendwas passiert.
Das ist dann der Zeitpunkt, an dem die Augsburger Puppenkiste ein Gastspiel gibt. Also nicht wortwörtlich, aber es kommt jemand um die Ecke, der in höchstem Maße merkwürdig ist. Im ersten Moment wissen wir nicht, ob da ein Mann oder eine Frau auf Krücken um die Ecke brettert. Wutentbrannt stößt er/sie die Gummikappen der Unterarmgehstützen in den Boden, kommt in den Wartebereich und pfeffert erstmal eine große Plastiktüte mit Klamotten auf den Boden. Die Krücken werden dann boshaft an die Wand geschmettert. Das verpeilte Wesen hat ziemlich wirre und ungepflegte dunkle Haare und trägt eine fliederfarbene Jogginghose. Es trägt auch ein Oberteil, aber ich bin zu sehr fasziniert, auf eine eher unangenehme Weise, als dass ich mir merken könnte, in welcher Farbe dieses ist.
Aber relativ schnell stellt sich heraus, dass es ein Mann ist, was wir hier so vor uns haben. Er bückt sich, die Hose rutscht und erlaubt dem interessierten Beobachter einen ungetrübten Blick auf einen offensichtlich haarigen Hintern. Dinge, die die Welt nicht sehen will. Der Mann ist recht jung, Mitte zwanzig würde ich sagen und, naja, ein wenig verhaltensauffällig. Er trägt keine Schuhe und statt Socken hat er Verbände an beiden Füßen. Sowohl die Füße als auch die Verbände sind schwarz vor Dreck und seine Hände sehen ähnlich aus. Und er ist rastlos. Er rennt mal hin, mal her. Mal läuft er raus aus dem Wartezimmer, nur um sofort danach wieder reinzukommen. Und er stapft so unnatürlich mit den Beinen und wedelt dabei auch immer mit den Armen, dass man meint, er wäre eine Marionette. Bei Jim Knopf von der Augsburger Puppenkiste sind alle so gelaufen.
Er spricht mit sich, mit dem Kaffeeautomaten, setzt sich hin und liest ein Kinderbuch, legt es sofort wieder hin, nimmt es wieder und liest und steht auf und wackelt wieder los. Schimpft mit einem leicht süddeutschen Akzent, Badisch würde ich mal meinen, und rennt wieder zum Automaten und wieder weg und wieder hin. Ich überlege, ob man ihn vielleicht mit einem Betäubungsgewehr niederstrecken sollte. Er nimmt zwei Euro in die Hand, steckt sie in den Automaten und liest sich die Schilder darauf durch. „Hühnersuppe ist alle“, möchte ich sagen, traue mich aber nicht. Vielleicht beißt er mir in den Hals, wenn ich ihn anspreche.
Er zieht sich eine Tomatensuppe und tigert damit und mit rudernden Armen durch die Gegend. Es ist faszinierend, dass er sie nicht verschüttet. Das Pärchen Vollbart mit Knieschmerzen hat genug. Die lange Wartezeit hat sie mürbe gemacht und dann noch dieses verstrahlte Menschenwesen war offensichtlich zu viel des Guten. Sie strecken die Waffen und verlassen die Klinik. Bleiben also nur noch der Trainingsanzug mit Knieschmerzen und das Wesen von einer anderen Welt. Der Hase möchte, dass ich gehe und sie dann abhole, wenn sie fertig ist. Ich weigere mich. Möchte den Hasen unter diesen Umständen nicht zwingend allein lassen. Es ist fast 23 Uhr und wir einigen uns darauf, dass ich kurz nach Hause presche, ein bisschen Kartoffelsalat hole und mit diesem dann wiederkomme. Ich stehe auf und will gerade los, da wird der Trainingsanzug aufgerufen. Sie ist schon seit 18.30 Uhr hier und hat echt zu kämpfen.
Da sie nun weg ist, wäre der Hase allein mit der Puppenkiste und das kann ich nun doch nicht zulassen. Ich bleibe. Und es geschieht ein Wunder. Der Hase wird aufgerufen. Sie möge in Raum 14 gehen, sagt eine Lautsprecherstimme. Raum 14 ist übrigens der beinahe hinterste in einem langen Flur und der Hase humpelt los. Nun bin ich allein mit dem Marionettenmann, der im Übrigen eine medizinische Maske trägt, diese aber nicht ganz über die Nase kriegt. Und als er nun, neben seinen Wanderschaften und seinen gemurmelten Hasstiraden, auch noch das Husten anfängt und man nicht weiß, ob da nicht vielleicht auch mal ein ausgehusteter Brocken durch die Gegend fliegt, wird es mir auch ein bisschen zu bunt.
Ich stehe auf und laufe den Flur in Richtung Zimmer 14. Das Husten und Schimpfen wird ein wenig leiser und ich sehe einen Wartebereich mit ein paar Stühlen. Da nehme ich Platz. Der Trainingsanzug kommt dazu und hat mittlerweile ein paar Krücken bekommen. Der Hase schreibt mir aus Zimmer 14, dass eine Schwester da war, Blut abgenommen hat und dass die Ärztin auf der Intensivstation noch zu tun hat. Der Hase meint, ich könne ruhig in das Zimmer kommen, es wäre eh niemand da, außer ihr. Es ist mittlerweile wieder eine Stunde vergangen.
Ich gehe in Zimmer 14 und wir warten gemeinsam. Irgendwann kommt die Ärztin und die ist sehr nett. Der Hase zeigt ihr das Corpus Delicti und sie sieht sich den Nagel genau an und dann auch den Fuß. Die gute Nachricht: Es muss nicht gespült oder weiter behandelt werden. Da der Hase schon Antibiotikum hat, reicht eine einfache Wundversorgung für die nächsten Tage und ein bisschen Schonung für den Fuß. Insgesamt sieht es wohl ganz gut aus. Man muss es aber ein bisschen beobachten und der Hase soll am Montag zum Hausarzt.
Wir sollen nur mal eben noch auf den Arztbrief warten, dann können wir los. Jetzt in echt! Ich bin gerührt und frage mich, ob schon ein anderer Monat ist. Nur noch der Brief, das kann so schlimm nicht sein. Also warten wir, mal wieder und wirklich Hut ab, mein Hase ist auch jetzt immer noch die Geduld in Person. Respekt. Ich schlafe zwischenzeitlich auf einem Stuhl sitzend ein, während der Hase auch ein bisschen schnarcht. Aber es ist ja nur noch der Brief, das kann ja so lange…..aber das hatten wir schon. Der Hase steht auf und öffnet die Tür zum medizinischen Bereich und schnappt sich die nächste Schwester, die sie findet, fragt nach dem Brief und nur wenig später verlassen wir das Krankenhaus.
Es ist viertel vor drei am Morgen, als wir nach Hause fahren. Erinnerungen an meine Zeit als junger Mann werden wach. Da ist man zu dieser Zeit von irgendeiner Disco nach Hause gekommen. War ähnlich schön, wie unser kleines Happening heute. Die Straßen sind leer und neben dem ruhigen Motorgeräusch des Autos hört man auch immer wieder meinen Magen knurren. Aber ich glaube mit ein bisschen Kartoffelsalat kriegen wir auch das wieder hin.