Betreutes Trinken, oder mit Kukident und Dosenbier Teil 3

Meine Gemütslage ist nicht wesentlich besser geworden. Auch nicht, als ich mich erleichtert habe. Die Trostlosigkeit liegt über mir, wie eine muffige Pferdedecke und ich stapfe mut- lust- und kraftlos wieder zum Zelt. Der Typ, mein guter Bekannter, also der Ordner oder was auch immer, vom Festivalteam, sieht mich rechtzeitig genug ankommen, um sich gelangweilt wegzudrehen. Wahrscheinlich hat er Angst, dass ich ihm etwas mit meinen Stricknadeln antun würde. Ich verzichte darauf, ihm zu erklären, dass ich gar keine Stricknadeln dabei habe und er scheint sehr dankbar zu sein, dass ich ihn nicht anspreche. Ich vernehme zumindest ein deutliches Aufatmen, als ich an ihm vorbei gehe.

Ich erreiche das Zelt, ziehe meine Schuhe aus und knie mich hin, um zu meinem ungemütlichen Schlafplatz zu gelangen. Eine selbstaufblasende Luftmatratze, die nicht annähernd genug Luft in sich hat, um mein Gewicht abzufedern. In dem Moment, als ich mich auf sie werfen möchte, ereilt mich wieder ein Krampf (schon wieder einer…diesmal allerdings im Oberschenkel und zwar auf der Innenseite, rechtes Bein) und ich stöhne laut auf. Mehrfach! Für jemanden, der zufällig am Zelt vorbeiläuft, würde es sich wahrscheinlich eher lustvoll als schmerzhaft anhören, aber ich bin weit entfernt davon, irgendwie Lust zu verspüren. Ich vermute aber, dass niemand gerade jetzt hier vorbeigeht, also muss ich mich auch nicht erklären. Mein Leben scheint ein einziger Krampf zu sein. Meine Mitbewohner im Zelt (Tochter, Schwester, Bruder) schlafen tief und zeigen sich gänzlich unbeeindruckt von den schweren Strapazen, die ich durchmache. Vielleicht sollte ich sie mal wecken? Aber ich verwerfe die Idee und schlafe still leidend ein.

Wenn es eine bevorzugte Tageszeit für mich gibt, dann ist es ganz gewiss nicht der Morgen. Der Morgen ist trostlos. Der Morgen ist so etwas wie der Abend davor, nachdem er verdaut wurde. Das ist hier und jetzt auch nicht anders. Man hat einen schlechten Geschmack in dem Mund, aus dem es auch dementsprechend riecht. Die Schminke des Vorabends hängt abgenutzt im Kissen, das Bier, das man trank drückt auf die Blase, der Alkohol entweicht unter großen Entbehrungen aus dem Körper und selbst das leckerste Abendessen ist nicht mehr das, was es gestern noch war. Nicht mal ansatzweise. Es ist jetzt im Bauch und wird da verarbeitet und das Endprodukt möchte dann auch irgendwann mal wieder an die Luft. Der Körper ist in weiten Bereichen noch längst nicht wieder hochgefahren und alles tut irgendwie weh. Zumindest tut es das bei mir. Hier und jetzt. Der Morgen zeigt ungekünstelt, wer Du bist und wie alt Du bist. Und ja, ich fühle mich immer alt am Morgen. Keine Ahnung, was manche Menschen am Morgen schön finden. Der Morgen ist ein Arschloch und er kann mich mal. Und zwar kreuzweise. Aber trotzdem werde ich immer früh wach. Auch zu Hause. Auch wenn ich Urlaub habe. Wehmütig denke ich an meine Zeiten als Teenager, als ich sonntags auch gern mal bis elf oder vierzehn Uhr schlafen konnte. Ach, es waren schöne Zeiten.

Ich werde immer zur toten Stunde wach, auf einem Festival. So auch diesmal. Es ist irgendwas bei halb acht rum. Manchmal bin ich auch schon um sieben wach gewesen. Aber das spielt keine Rolle. Wenn ich wach werde, dann ist das der einzige Zeitpunkt, an dem es still ist auf dem Campinggelände. Der Zeitpunkt, an dem die Schlafenden noch schlafen und die Langstreckentrinker und -Trinkerinnen gerade eingeschlafen sind. Größtenteils. Manche von ihnen haben es ins Zelt geschafft. Andere sitzen, oder liegen inmitten von einem Wust aus halb gegessenen Dosenravioli, angeknabberten Nackensteaks, offenen Getränkedosen und manchen Dingen, die derart schmutzig sind, dass man gar nicht erkennen kann, was das im Ursprung gewesen ist. Ein schönes Bild, eine attraktive Kombination, wenn man den Kopf zwischen Papptellern und durchnässter Grillkohle abgelegt hat. Ja, die Trostlosigkeit der Nacht ist geblieben, nur dass da jetzt noch Tageslicht drüber erstrahlt. Und nein, bei Licht betrachtet, sieht es nicht besser aus.

Aber irgendwie liebe ich es. Es ist auf eine ganz merkwürdige Art faszinierend, ein Teil von dem Treiben hier zu sein. In meinen früheren Jahren war es auch immer der Ausbruch aus dem Alltag, der mich an diesem Festival so fasziniert hat. Dass es zwar in einem sehr weit gesteckten Rahmen Regeln gibt, in dem ansonsten aber wirklich alles scheißegal ist. Jeder kann einfach mal machen, was er will, wann er will und mit wem er will. Auch ein flotter Dreier im Nachbarzelt ist machbar. Ja, selbst stricken könnte ich, wenn ich wollte. Eine Art der Ungebundenheit, die man in seinem normalen Leben einfach nie hinkriegt. Das Stück Freiheit, für das man nicht bis ans Ende der Welt fahren oder fliegen muss. Es ist direkt vor der Haustür, wenn man so will. Aber so sehr ich es auch genossen habe und hoffentlich auch wieder genießen werde, in der toten Stunde, sieht die Freiheit auch immer ein bisschen abgenutzt aus. Es ist kühl, alles ist irgendwie klamm und über den körperlichen Zustand habe ich ja bereits genug erzählt.

Ein paar vereinzelte Schnapsleichen torkeln zwischen den Zelten umher und fallen auch schon beinahe über die eigenen Füße. Manch einer blickt zu mir rüber. Verständnislos und nicht in der Lage auch nur ein sinnvolles Wort zu sprechen. Ich blicke zurück.Ein kurzes Erkennen, dass in Kopf des jeweils anderen absolute Leere herrscht. Ein wissendes Blicken. Damit ist diese Unterredung beendet. Ich setze mich auf diesen Festivalklappstuhl an den Festivalklapptisch unter dem Festivalklapppavillon. Auch hier ist alles ziemlich klamm und feucht. Ein gegrilltes Nackensteak vom Vorabend lauert teilnahmslos darauf, dass ich es vielleicht noch aufesse. Aber ich lasse ab davon. Zumindest für den Moment. Mein Magen ist noch nicht soweit, dass er schon ein kaltes Steak mit Tzatziki und Ketchup verabreicht bekommen möchte. Ach, scheißegal, soll das jetzt so vor sich hin gammeln? Ist das nicht irgendwie zu schade? Ein aufgeweichtes Scheibchen Toast, etwas labberiger Krautsalat, eine Prise Ketchup und ein Hauch angewässerter Tzatziki und fertig ist das Genießermenü. Der Rest einer offenen Colaflasche wird zum Runbterspülen benutzt. That´s Life! Aber sowas von. Da ich kein Besteck finde, muss ich abbeißen. Die langen Fasern der Muskel- und Fettstränge in dem Fleisch hängen aus meinem Mundwinkel, als der Reisverschluss von meinem Zelt geöffnet wird.

Die Überreste dessen, was gestern Abend noch mein Bruder gewesen sind, erwachen und seine beinahe zugeschwollenen Augen mit diesen unglaubliche kleinen Pupillen blicken aus dem Zelteingang. Er hustet sich erst einmal ein bisschen die Seele aus dem Leib. Diese Art von Husten, bei dem man nicht weiß, ob ein Notarzt notwendig wird und sich jede Menge von irgendwas ansammelt, wovon man nicht wissen möchte, was es sein könnte, dass aus der Lunge in den Rachen schleimt. „Hmmh“, denke ich, „Mayonnaise ist fertig!“ „Hmmh“, sagt er, „Mayonnaise ist fertig!“ „Fehlen noch die Pommes“, sage ich.

Er setzt sich auf einen anderen Festivalklappstuhl an diesen Festivalklapptisch unter dem Festivalklapppavillon. Wir schweigen. Keiner von uns hat die Kraft irgendwas sinnvolles zu tun. „Bier?“, fragt er. „Alster!“ , antworte ich. Man wird halt vernünftiger mit dem zunehmenden Alter. Also holt er zwei Dosen Alster. Abgesehen von den leichten Problemen, den Verschluss zu öffnen, ist das Ganze aber auch keine Delikatesse zu dieser Uhrzeit. Auch mein Versuch, nur den Brauseanteil herauszutrinken, scheitert kläglich. Der Magen rebelliert und es geht mir für den Moment nicht so besonders besser. Meinem Bruder augenscheinlich auch nicht zwingend. Wir entschließen uns dazu, schoppen zu gehen. Einmal rein in diesen überdimensionalen Supermarkt. Ein Zelt, das so groß ist, dass es in verschiedene Zeitzonen unterteilt werden könnte. „Combi“ ist diesmal der Betreiber. Letztes Mal als wir hier waren, war es noch Penny.

Wahrscheinlich sind wir schuld, dass die gewechselt haben. Weil wir damals vor dem Markt standen und jeden der vorbei lief vollgebrabbelt hatten. Wir haben jedem, der es hören wollte, oder auch nicht hören wollte, erzählt, dass wir die Geschäftsführer sind. Inkognito auf dem Festival, um mal nach dem Rechten zu sehen. Nach dem Linken würden wir ein andermal sehen. Unsere Namen waren dann auch sehr bewusst gewählt. Wir waren die Herren „Penn“ und „Nie“. Und wir würden deswegen auch nie schlafen. Geschäftsschädigend könnte man unseren Auftritt nennen, aber wir fanden es toll. Wir finden ja auch so ganz andere Sachen toll, aber das wollen wir nicht thematisieren.

Heute jedenfalls sind wir geschmeidiger und holen relativ wortlos Brötchen und Nutella und Wurst für die ganze Mannschaft. Mein Brunder holt sich noch einen überteuerten Kaffee, von einem windigen Kaffeehändler, der mit einem dreirädrigen Gefährt vor dem Markt steht und da den halb bewusstlosen Festivalbesuchern das Geld aus der Tasche zieht. Später erkenne ich, dass es da mehrere von gibt und es sich um ein Netzwerk von „Geld aus den Taschen Ziehern“ handelt. Ich persönlich mag keinen Kaffee. Mochte ich noch nie. „An mir verdient ihr nix, ihr Blutsauger!“, schimpfe ich einem der Dealer entgegen.

Wir erreichen unsere Zelte und der Rest ist auch schon so ziemlich wach und ich frage mich, ob es nicht auch irgendwie spießig ist, wenn man so gepflegt frühstückt, wie wir es dann tun. „Bier?“ fragt eine vertraute Stimme und ich nicke. Bah, schmeckt auch nicht gerade gut. Aber nachdem ich eine dreiviertel Stunde an der Dose rumgenuckelt habe, wird´s besser. Und das ist dann auch der Moment, an dem ich beschließe, doch noch ein bisschen zu bleiben. Könnt ja noch lustig werden. Von der übernächsten Zeltgemeinschaft, also neben dem Swingerklub, der sich höchstwahrscheinlich gerade seinem sündhaften Treiben hingibt, kommt eine junge Dame vorbei. „Heimatland“, denke ich, “ die ist ja noch ziemlich lattengerade!“

Sie setzt sich zu uns und beginnt einen ellenlangen Monolog, in dessen Verlauf sie ihren Namen mindestens fünfmal wechselt. Nichts Ungewöhnliches. An so einem Wochenende hat man in jedem Jahr mindestens eine solche Begegnung. Sie ist extrem gut drauf, ziemlich witzig und immer noch mächtig betrunken. So wie sie spricht, klingt sie wie Clint Eastwood, wenn er heiser ist und ein bisschen nach Gosse. Sie hat eine hohe Schlagzahl, was Witze und erheiternde Annekdoten angeht und ist dabei so ein bisschen wie Fips Assmussen

………….Mal eben Finger hoch, wer Fips Assmussen nicht kennt…….hmmh, das sind dann wohl die meisten…Dann will ich das mal kurz erklären….Also Fips Assmussen ist so eine Art Komiker, der in den 70er und 80er Jahren seine Blütezeit hatte und dessen Komik darin bestand, oder vielleicht auch noch besteht, dass er wirklich schlechte Witze erzählte. Die stammten höchstwahrscheinlich nicht von ihm, waren zu 95% unter der Gürtellinie angesiedelt und zu einem ähnlichen Prozentsatz auch nicht mal richtig witzig. Er konnte sie allerdings gut erzählen und brachte davon so rund 250 Stück in eine Stunde unter. Und irgendwann, war man dann so weichgeklopft im Brägen, dass man es dann schon wieder witztig fand. So als wenn aus einem großen Haufen Pferdescheiße plötzlich Vanilleeis wird.

Der ist mal in einer Talk Show gewesen. Das Publikum war wohl eher gebildet und vom Menschenschlag so, dass man zum Lachen in den Keller ging und wenn man keinen hatte, würde man sich einen bauen lassen, um dann da rein zu gehen und zu lachen. Wenn man überhaupt lachen würde. Jedenfalls hat der Fips dann seine Nummer abgezogen und ein paar Sachen zum Besten gegeben, bei denen das Publikum verstört drein blickte, weil man mit diesem Niveau noch niemals auch nur ansatzweise irgendwann mal in Berührung gekommen war. Manch einer suchte hektisch nach seinem Desinfektionsspray, um die Ohren davon zu befreien. So in etwa waren die Gegebenheiten und nach nicht mal fünf Minuten hatte Fips seine ersten 20 Witze für die Ewigkeit runtergerasselt und die Leute kriegten sich nicht mehr ein vor Lachen. Manchmal kommt es eben auch auf die Menge an. Das ist in Kürze dargestellt der Fips.

Wir haben jedenfalls Fips Assmussens Reinkarnation in weiblicher Gestalt auf einem unserer Stühle sitzen und sie redet wie ein Wasserfall. Was ja auch nicht schlimm ist. Man muss dann selbst nicht soviel reden. Und sie spricht über alles und jeden und in der Hauptsache über sich und wie betrunken und witzig sie doch ist. Das geht dann so weiter für rund anderthalb Tage. Nicht dass sie so lange bei uns gesessen hätte oder dass sie pausenlos erzählte, aber immer wenn wir sie zu Gesicht bekommen , ist sie auf diesem Level und begrüßt uns, als wären wir zusammen aufgewachsen. Und dann wurde sie nüchtern und überblickt das Ausmaß dessen, was sie wohl so von sich gegeben hatte und es scheint ihr unangenehm. Auch scheint es ihr unangenehm, dass wir sie offensichtlich kennen. Wir sehen sie, machen eine halbe Laola und rufen: “ Hey, (an dieser Stelle kam einer ihrer vielen Namen), was geht?“ Die Antwort ist dann weniger üppig. Ein ebenso kurzes wie arrogantes Kopfnicken und ein Blick der uns sagt: „Wer seid denn ihr? Wollt ihr nicht lieber weiter gehen?“ Ja, so ist es auf dem Hurricane. Man trifft irgendwie immer viele Leute, aber man lernt eigentlich nie jemanden richtig kennen. 70.000 Leute, die gemeinsam ein Wochenende Individualisten sein wollen. Vielleicht liegt es aber auch am Alter, dass man auch ein bisschen außen vor bleibt. Vielleicht ist es für viele befremdlich sich mit Leuten zu unterhalten, die eventuell auch schon älter als die eigenen Eltern sein könnten. Man weiß es nicht.