Auf den Zahn gefühlt

In meiner Kindheit war die ärztliche Versorgung auf dem Lande längst nicht so flächendeckend wie heutzutage. Wenn der Hausarzt ein Allgemeinmediziner war, hieß das nichts weiter, als dass er im allgemeinen auch ein Mediziner war. Einer, der sich neben seinen eigentlichen Patienten auch um die gesundheitlichen Belange der Nutztiere in seiner Region kümmerte. „Schweine und Menschen sind genetisch gar nicht so weit voneinander entfernt“, pflegte unser Hausarzt immer zu sagen, „und manch einem merkt man das auch an.“ Und so konnte es vorkommen, dass die Hand von dem Arm, der gerade noch bis zur Schulter in einer Kuh gesteckt hatte, um dort ein Kälbchen in die richtige Geburtslage zu bringen, als nächstes schon einen Holzspatel festhielt, um Dir Deine Zunge runterzudrücken:“Nun sag mal schön AAHH!“  Irgendwie roch es aber über alle Maßen nach Kuh und deshalb sagte man eher „Urrgh!“ „Aber Herr Doktor, warum gucken sie mir denn in den  Hals? Ich habe doch Durchfall.“ „Wollte nur sicher gehen, dass da nicht auch noch was rauskommt!“ Er überlegte kurz:“ Durchfall also, dann hole ich mal eben die armlangen Handschuhe….“

Selbstverständlich ist diese kleine Geschichte an den Haaren herbeigezogen und vollkommen erstunken und erlogen. Die medizinische Versorgung war damals weitaus besser als von mir dargestellt. Ich hatte zwei Ärzte in meiner Kindheit, von denen ich mich aber nur noch an einen erinnern kann. Beides waren sehr gute Ärzte und derjenige von den beiden, an den ich mich leider nicht mehr erinnern kann, hatte mir sogar das Leben gerettet.

Ich war ungefähr zwei Jahre alt und hatte eine ausgeprägte Leidenschaft für Kuchen. Meistens aß ich den Kuchen, den mir meine beiden älteren Geschwister „gebacken“ hatten. Mit ihren Förmchen in der Sandkiste. Sandtorte, wie sie mir sagten. Geschmacklich sicherlich eine Herausforderung, aber die bunten Backformen sahen so toll aus. Und wenn meine Geschwister diese bunten, mit feuchtem Sand befüllten Plastikförmchen anhoben, blieb der Sand in genau dieser Gestalt auf dem Rand der Sandkiste stehen. Es war pure Magie und meine Geschwister wahre Zauberer. „Hier, lecker Kuchen für Dich“, sagten sie. Ich war noch weit davon entfernt, Dinge zu hinterfragen und aß den angebotenen Kuchen.

Was von ihrer Seite als kleiner Spaß begann, wurde in kurzer Zeit zu einer regelrechten Obsession für mich und ich verlangte nach immer mehr Kuchen. Meine Geschwister wunderten sich zwar, dass jemand so dämlich sein konnte, erfüllten mir aber meinen Wunsch und buken was das Zeug hielt. Und ich aß, ohne weitere Fragen zu stellen. Diese ernährungstechnische Eigenart blieb meiner Mutter zunächst verborgen. Sie freute sich lediglich, dass ihre drei Kinder so friedlich miteinander spielten. Doch der Sand wurde zu einer Art Grundnahrungsmittel für mich, was meiner Mutter zunehmend bedenklich vorkam. Sobald ich irgendwo einen Sandhaufen erblickte, riss ich mich von ihrer Hand los und schaufelte mir abermillionen Sandkörner in den Mund. Diese eigentümliche Verhaltensweise  und das diabolisch verzerrte Gesicht, dass ich bei meinen Sandfressattacken machte, wurden ihr unheimlich.

Schließlich bekam ich Bauchschmerzen. Schreckliche Bauchschmerzen. Ich bin froh, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann, wie sehr der Bauch schmerzte. Manchmal bin ich dem Schmerz gegenüber sehr empfindlich. Besonders bei den Zähnen, aber dazu später mehr.

Was man wirklich sagen kann ist, dass man damals mit Arztbesuchen eher zurückhaltend war. Solange der Kopf nicht unterm Arm getragen wurde, musste man auch nicht zu einem Doktor. Meine Bauchschmerzen waren anscheinend aber so schlimm, dass meine Mutter sich genötigt sah, den Arzt zu konsultieren. Die Ausstattung in seiner Praxis war mit heutigem Standard nicht zu vergleichen und so gab es auch kein Röntgengerät Eine starke Taschenlampe war das Einzige, was dem noch am Nächsten kam. Aber unser damaliger Hausarzt benötigte diesen technischen Schnickschnack auch nicht. Er konnte mir sofort attestieren, dass ich einen an der Waffel hatte und dass mein Blinddarm kurz vorm Platzen war. Ich kam sofort ins Krankenhaus, wurde sofort operiert und musste fünf oder sechs Wochen dort bleiben.  Besuch durfte ich keinen empfangen. Meine Mutter konnte nur durch eine Glasscheibe in der Tür einen Blick auf ihren kranken Sohn werfen. Der allerdings auf sie überhaupt nicht gut zu sprechen war. Schließlich hatte sie ihn hierher gebracht und nun war er eingesperrt und mit dem schönen Kuchen war es auch Essig. Und so drehte ich meiner Mutter, immer wenn sie durch die Scheibe in der Tür von meinem Krankenzimmer blickte, den Rücken zu. Fünf Wochen lang, da war ich eisern.  Ja, ich war ein Arsch, ich weiß.

Es war damals wirklich höchste Eisenbahn, dass ich operiert wurde. Es hätte sonst mächtig schief gehen können. Wenn der Doktor vom Lande nicht gewesen wäre….nicht auszudenken. Medizinisch waren wir also damals in besten Händen, was man allerdings von der Zahnmedizin nicht so ohne Weiteres behaupten konnte.

Einen Zahnarzt kannte ich damals nur aus der Schule. Dieser Schulzahnarzt, der einmal im Jahr in die Schule kam und in die aufgerissenen Münder der Grundschüler blickte um ihnen einen detaillierten Bericht über die Katastrophen in ihrem Mundraum zu geben. „Wenn Du weiter soviel Süßigkeiten isst, dann gammeln Dir die Zähne weg und Du hast da nur noch schwarze Stumpen!“ Welch ein Schock. „Also Du musst immer dreimal am Tag die Zähne putzen und die Süßigkeiten gibst Du am besten gleich mir!“ Dreimal am Tag? Ich war erschüttert. Soviel Zeit hatte ich doch gar nicht. Also entschloss ich mich, dass dreimal in der Woche genügen müssten. Oder waren es dreimal im Monat? Ich weiß es nicht.

Dass so ein Zahnarzt auch seine eigene Praxis haben könnte und dass er auch die Zähne bearbeiten konnte, das wusste ich lange Zeit nicht mit Bestimmtheit, aber die Vermutung lag nahe. Der erste von uns Kindern, der praktische Erfahrungen im Dentalbereich machen durfte, war mein großer Bruder. Er wurde damit seiner Vorreiterrolle, die man als großer Bruder nunmal hat, gerecht. Warum er zum Zahnarzt musste, weiß ich nicht mehr, aber ich werde nie vergessen, wie er aussah, als er danach wieder zurück kam.

Wir hatten seinerzeit, und das ist die volle Wahrheit, den ältesten noch praktizierenden Zahnarzt Deutschlands bei uns im Dorf. Der gute Mann war weit über 80 und es gab auch einen Bericht in einer überregionalen Klatschzeitung über ihn und seine Ausnahmeposition als ältester Zahnarzt Deutschlands.  Er praktizierte in einem weiß verputzten Haus und seine Ausstattung war hochmodern. Zumindest ist sie das einmal gewesen. Kurz nach dem ersten Weltkrieg, den er auf jeden Fall noch miterlebt hatte. Er war ein eher dürres Männchen mit schlohweißen Haaren und der Trizeps an seinen Armen war eigentlich nur noch faltige Haut, die dort lose herumbaumelte.

Ich nehme mal an, dass mein Bruder Zahnschmerzen hatte und dass Nelken nicht gewirkt hatten. Nelken, oder besser Gewürznelken gehörten damals zur Hausapotheke. Genauso wie Klosterfrau Melissengeist. Ekelhaft schmeckende Tropfen, mit einem Alkoholgehalt kurz unter Brennspiritus, die auf einen Teelöffel Zucker geträufelt wurden und zur damaligen Zeit jedes Breitbandantibiotikum ersetzten. „Gegen Mückenschiss und Schlangenbiss!“, wie mein Bruder immer behauptete. Ob sie geholfen haben, wage ich zu bezweifeln, aber nach drei Teelöffeln war die Welt irgendwie bunter und begann sich ein wenig zu drehen. Der Beweis für die Erdrotation, wenn man so will. Die Nelken, oder Gewürznelken, kamen bei Zahnschmerzen zum Einsatz. Wenn also die Beißerchen weh taten, dann holte Muttern einen Beutel aus dem Gewürzschrank und es gab Nelken, auf denen man herumkauen musste, auf dass der Schmerz sich in Wohlgefallen auflösen möge. Selbstverständlich tat er das nicht, aber dafür schmeckten  die Nelken noch ekliger als die Klosterfrau.

Mein Bruder hatte also Zahnschmerzen und ging zu Deutschlands ältesten Zahnarzt, damit der im helfen möge. Mein Bruder nahm Platz auf einem Behandlungsstuhl, der wie ein Relikt aus einem Museum wirkte. Das dürre, schlohweiße Männchen kam herangeschwebt und blickte in den geöffneten Mund seines Patienten, um dort nach der Ursache für dessen Zahnschmerzen zu suchen. Der Patient, also mein Bruder, saß angsterfüllt auf dem Stuhl und blickte mit aufgerissenen Augen auf den, über diverse Umlenkrollen geführten, Riemenantrieb für den Bohrer, der am Ende eines, mit mehreren Gelenken versehenen, mechanischen Armes angebracht war. „Nicht bohren! Alles andere, aber nur nicht bohren! Nicht mit dieser hoffnungslos veralteten Apperatur!“ dachte mein Bruder und sein stummes Flehen wurde erhört.

„Ich glaube, da werden wir einen Zahn ziehen müssen“, sagte das dürre Männchen mit leiser und brüchiger Stimme. Er holte eine vorsintflutliche Spritze für die Betäubung. „Gleich wird es weh tun“, sagte er. „Arrgh!“ bestätigte mein Bruder. Und dann begannen zwei dünne Ärmchen, denen jegliche Muskelmasse abhanden gekommen waren, mithilfe einer Zange an einem Zahn in meines Bruders Kiefer zu ziehen. Doch das Unterfangen gestaltete sich schwieriger als erwartet. Allein die Zange war schon schwer. Damit noch zu arbeiten erschien als Ding der Unmöglichkeit. Aber der älteste Zahnarzt der Welt war auch ein zäher Bursche. Er versuchte es wieder und wieder. Seine Zahnarzthelferin, die ihm altersmäßig in Nichts nach stand, eilte, naja „eilte“ ist auch ein relativer Begriff, also sie schlich zu Hilfe. Gemeinsam versuchten sie, den Zahn aus seiner Verankerung zu lösen. Ohne Erfolg. Und als sie nach einer dreiviertel Stunde des Herumreißens noch kein Stück weiter gekommen waren, waren Dentist und Helferin mit ihren Kräften am Ende.

„Wir gehen mal eben einen Kaffee trinken und dann machen wir weiter. Bleib Du solange sitzen mein Jungelchen“, sagte der Zahnmediziner und begab sich zusammen mit seiner Assistentin in einen angrenzenden Küchenbereich, um dort neue Kraft zu schöpfen. Nach einer ausgedehnten Kaffeepause kamen sie zu ihrem Patienten zurück, der nicht wusste, ob er vor lauter Angst vom Stuhl fallen sollte, oder darauf hoffen, dass diese Tortur ein Ende fand. Letzteres war der Fall. Die Tortur wurde beendet und der Zahn aus dem Kiefer entfernt. Wie lange es insgesamt gedauert hatte? Stunden! Und die Betäubung war noch vor der Behandlung an ihr Ende gekommen.

Das alles weiß ich aus Erzählungen. Mein Bruder kam dann nach Hause und blutete aus dem Mund. Er sah sehr blass und mitgenommen aus, aber er hatte augenscheinlich nicht geweint, was ich sehr heldenhaft fand. Als ich ihn so sah und auch die Geschichte dahinter erfuhr, war mir augenblicklich klar, dass ich niemals zu einem Zahnarzt gehen würde.

Natürlich ließ sich das nicht umsetzen. Meine Zähne waren schlecht und es führte kein Weg umhin, dass sie repariert werden mussten. Der älteste Zahnarzt des Universums hatte seinen Dienst eingestellt. Es gab damals noch einen weiteren Dentalakrobaten im Dorf, von dem aber auch keine guten Dinge zu hören waren. Ich glaube mein Bruder war  bei dem auch einmal in Behandlung und kam genauso blutend nach Hause bei dem älteren Kollegen. Somit war für mich klar, dass auch diese Adresse nicht meine Zustimmung finden würde. Da machte sich die Kunde breit, dass ein neuer Zahnarzt in Kürze eine neue Praxis mit neuen Geräten und neuen Helferinnen eröffnen würde. Die Helferinnen waren mir damals gleichgültig, ich war noch recht jung. Elf oder zwölf, wenn ich mich recht entsinne. Aber die neuen Gerätschaften in der neuen Praxis machten mir Hoffnung, dass es auch Zahnärzte geben musste, deren Behandlung nicht zwangsläufig in einem Blutbad enden müssten. Von dem Doktor selbst wusste man nicht viel. Er sei noch vergleichsweise jung, was in unserem Dorf auch heißen konnte, dass er erst 65Jahre alt wäre, und käme aus dem Ostblock. Nicht aus der Zone. Eher so ein Tschechoslowake oder ein Ungar. Was eigentlich etwas ungewöhnlich war, denn es war noch die Zeit des kalten Krieges und der innerdeutschen Grenze. Niemand, der jung war, kam damals aus dem Osten raus. Es sei denn er flüchtete, oder wurde des Landes verwiesen. Es wäre mir zu dieser Zeit auch nie in den Sinn gekommen, dass mein zukünftiger Zahnarzt eventuell auch wegen seiner stümperhaften Arbeitsweise in den Westen verbannt worden sein könnte. Wenn man so will, eine Geheimwaffe der Kommunisten, um die westliche Bevölkerung zu zermürben.

Das erste was ich in seiner Praxis wahrnahm, als ich mich zu einer Behandlung meiner Zähne durchgerungen hatte, war dieser beißende Geruch. Eine Mischung aus Desinfektionsmitteln , Schleifstaub und verschmurgeltem Zahnfleisch, die mich sofort einschüchterte. Das zweite war die Geräuschkulisse, die nur unwesentlich gedämpft aus den Behandlungszimmern kam. Ein unglaublich hoher piepender Dauerton, den wahrscheinlich sonst nur Hunde wahrnehmen könnten und Schreie. Schreie des Schmerzes, der Angst und der Verzweiflung. Mir wurde augenblicklich schwindelig und ich musste mich am Anmeldungstresen festklammern. „Raus! Ich muss hier raus!“, dachte ich und es begann vor meinen Augen schon zu flimmern. Die Knie wurden mir weich. Was hatte ich hier nur verloren. „Können wir Dir helfen?“ fragte mich eine Helferin, die mich mit besorgter Miene ansah. Mein Ohren rauschten und so hörte ich sie nur wie durch Watte, ohne den genauen Wortlaut zu verstehen. Selbst wenn ich ihn verstanden hätte, hätte sich mir der Sinn der Worte nicht erschlossen. Ich hatte offensichtlich einen Schock, von dem ich mich aber schnell erholte. Ich konnte wieder klarer sehen und auch meine Ohren arbeiteten tadellos. „Ob wir Dir helfen können, frage ich Dich?“ fragte die Helferin und schüttelte mich ein wenig. „Ich…, Termin…, soll hier heute…., vielleicht besser ich gehe…, meine Zähne…., wuff!“ Meinen Namen sollte ich sagen, was ich tat und damit war mein Schicksal besiegelt, denn ich stand tatsächlich im Terminbuch.

Das nächste, dessen ich mir bewusst wurde war, dass es in dieser Zahnarztpraxis eine andere Form der Zeitrechnung geben musste. „Setz Dich noch kurz ins Wartezimmer“, hatte die freundliche Helferin gesagt. Kurz im Wartezimmer einer Zahnarztpraxis, ist in der freien Welt gefühlt ein halber Tag. Ich saß in diesem Wartezimmer zusammen mit einer Reihe weiterer Deliquenten. Uns einte die gemeinsame Sorge, unser Leben würde hier in Kürze ein jähes und schmerzvolles Ende finden. Niemand lächelte und ein kleines Mädchen weinte lautlos, während ihre Mutter leise betete. Im Laufe der Ewigkeit, die ich in diesem ungemütlich kaltem Wartezimmer verbrachte, lernte ich unterschiedliche Geräuschfrequenzen von unterschiedlichen Folterinstrumenten kennen und bemerkte zudem, dass auch die Schmerzenslaute der Patienten sich daran anpassten. Arrgh= großer brummender Bohrer, Üüühhhuu = hochtönendes Schleifgerät…. und so weiter.

Sekunden wurden zu Stunden und Minuten zu Tagen. Dann der Aufruf durch einen knarzenden Lautsprecher über der Eingangstür zum Wartezimmer. „Matthias Daus bitte zum Schafott!“ Schafott wurde nicht gesagt, sondern Zimmer zwei, aber die Ausrichtung war ähnlich. In Zimmer zwei befand sich ein ergonomisch geformter Behandlungsstuhl mit zwei Armlehnen, in welch ich im Laufe der kommenden Behandlungstermine noch häufig meine Hände krallen würde. An den Stuhl angebracht war ein Schwenkarm mit einem Tablett, auf denen die verschiedensten Folterinstrumente, die für die jeweilige Behandlung notwendig waren, bereit gelegt wurden. Alles in diesem Raum wirkte kalt und steril und der beißende Geruch war hier wesentlich intensiver.  Mein Blick auf das Tablett machte mir Hoffnung. Außer einem kleinen Spiegel und zwei, drei anderen Miniaturkratzern und Schabern lag nur eine Art weißer Serviette drauf. Viel konnte also heute nicht mehr passieren.

Genaugenommen war es nur eine erste Bestandsaufnahme der weitreichenden Baustellen in meinem Mund. Ich nahm Platz auf dem Stuhl, nachdem mich eine Helferin dazu aufgefordert hatte. Aus dem Nebenraum, Behandlungszimmer eins, kamen die mir mittlerweile allzu vertrauten Geräusche, welche dann ein abruptes Ende fanden. „Nu isser tot, oder Ohnmächtig“, dachte ich von meinem Leidensgenossen im Nebenraum. In diesem Moment erschien mein zukünftiger Zahnarzt. Ein schlanker Mann, in etwa Mitte bis Ende dreißig, mit dunklem Haar und einem Gesicht, das auf mich sehr osteuropäisch anmutete. Er erinnerte mich an Karel Gott. Wahrscheinlich deswegen, weil Karel Gott der einzige dunkelhaarige Osteuropäer war, den ich damals, Hitparade sei Dank, kannte. Er wirkte nicht besonders freundlich, allerdings auch nicht besonders unfreundlich. Einen Sadisten hätte ich jedenfalls in ihm nicht vermutet. Er sprach ein ebenso flüssiges, wie gebrochenes Deutsch mit einem stark ausgeprägten osteuropäischen Akzent. „Mach den Mund auf , bittä, und dann wärden wir sähen, was ist alles kaputt“, sagte er und an seine Helferin, die anscheinend Kathrin hieß, gewandt, „und Kathrin, Du schreibst alläs mit, was ich finde in Mund von kleines Jungä!“ Es folgte eine ellenlange Aufzählung von Ziffern und Begriffen. Wie ich später erfuhr waren die Ziffern die jeweiligen Zähne und die Begriffe, beschrieben den dazugehörigen Zustand. Es waren sehr viele Begriffe, die genannt wurden und es schien mir so, als wenn die meisten davon mit „ös“ endeten. 2.1. kariös, 3.4 ruinös, 4.4. desaströs, 4.6. komatös…. und so weiter. Bei jedem neuen Befund lächelte er entrückt, während Kathrin, die sich gerade die Finger wund schrieb, mitleidig den Kopf schüttelte. In seltenen Fällen sah der Dentist meines Misstrauens auch ein zweites Mal hin, um dann zu verkünden:“ Diesär Zahn ist gutt. Müssen wir machän nix daran!“ Eine gute Nachricht, die leider allzu selten zu vernehmen war.

Die Durchsicht meiner Kauleisten ergab ein niederschmetterndes Gesamtergebnis und es kristallisierte sich heraus, dass es eine Reihe von Folgeterminen bedurfte, um alles in einen annehmbaren Zustand zu versetzen. „Müssän wir machän ein paar Tärmine, vorne an Anmeldung“, sagte der Doktor und ich ging hin zur Terminvergabe, unwissend, aber durchaus ahnend, dass ich damit mein Schicksal besiegelte. Jahre später, als ich auch positivere Erfahrungen mit Zahnärzten gemacht hatte, musste ich immer an den Slogan der gelben Seiten denken: Vielleicht hätter er jemanden fragen sollen, der sich damit auskennt…..“ Aber damals war ich ahnungslos. Ich möchte mein jugendliches Alter als Entschuldigung anführen.

Was dann geschah, wie ich das alles trotzdem überlebte, und warum ich dem zahnärztlichen Beruf wesentlich näher kam, als ich je geglaubt hätte, das alles gibt es in einer neuen Folge von: „In der Tierklinik, aus dem Leben eines Quacksalbers, der vor die Hunde ging!“  Drum schalten sie auch nächstes Mal wieder ein, wenn sie Helferin Kathrin sagen hören wollen: „Herr Doktor, ist das nicht der gesunde Zahn an dem Sie gerade herumbohren……?“