Tag 3 Sonntag 25. Oktober
Es gibt Tage im Leben, seltene Tage, an denen hat man Blattgold an den Händen. Egal was man anfasst, alles gelingt. Und heute, Sonntag, ist definitiv so ein Tag. Welches Möbelstück auch immer mich ruft, es kann mich nicht schrecken. Alles fügt sich heute irgendwie zusammen. Es ist wie mit einem Puzzle. Je weiter man vorankommt, desto einfacher wird es, die fehlenden Teile zuzuordnen. Die Türen, die ich an die Schränke montiere, passen perfekt und müssen nicht wirklich ausgerichtet werden. Die Schubkästen im Matrixunterschrank, die mir gestern noch wie Bücher mit sieben Siegeln vorkamen, bauen sich heute fast von selbst zusammen und fügen sich nahtlos in alles andere an diesem Tag ein. Es ist mir ein wenig unheimlich und gegen Mittag sind wir ein großes Stück weiter. Man könnte beinahe das Gefühl bekommen, man befindet sich in einer richtigen Wohnung.
Unser Sohn muss schon heute abreisen, weil er morgen Schule hat. Und damit er außer der Wohnung auch ein bisschen etwas zu sehen bekommt, von der wirklich schönen Umgebung, fahren wir zum Concordia Turm. Dieser liegt am Rand von Bad Ems und ist knapp 200 Meter höher gelegen, als die Wohnung. Der Weg ist eigentlich nicht weit, aber ich kann den Hasen einfach nicht dafür gewinnen, auf den Berg zu kraxeln. Auf Berge kraxeln und der Hase, das passt nicht zusammen. Niemals. Eher selten habe ich sie zu solchen Aktionen überreden können und jeder Höhenmeter, der zurückgelegt wurde, war ein Grund für ausgiebiges Jammern und Stöhnen. „Boah, ist es noch weit?“ „Das schaff ich niemals.“ „Ich bleib hier, geht ohne mich.“ „Ist nicht schlimm. Lasst mich mal alleine. Hauptsache Ihr habt Spaß. Nein, ich bin nicht böse, wenn Ihr geht. Etwas enttäuscht vielleicht, aber geht nur.“…. „Nein, lass mich. Ich schaffe das nie. Das sind mindestens tausend Meter.“ So in etwas klingt das dann, wenn sie mitläuft. Da heute auch die Zeit ein bisschen knapp ist, verzichte ich auf eine Bergwanderung und wir fahren mit dem Transporter hoch.
Auch nicht so einfach. „Wir werden alle sterben!“, sagt der Hase, als ich die erste Steigung hochfahre. Sie klammert sich an alles, woran man sich klammern kann und wagt es nicht, aus dem Fenster zu blicken. Obwohl es ein schöner Blick ist. Es geht schön bergab und das nicht zu knapp. Und das Tolle ist, wir fahren immer weiter hoch. Die Kinder freuen sich, mir macht das Ganze wirklich Spaß, aber der Hase wird immer blasser. Wenn der Hase schon auf gerader Stecke meinen Fahrkünsten, oder besser gesagt, den Fahrkünsten von anderen Menschen im Allgemeinen, misstraut und fest steht, dass nur der Hase richtig Auto fahren kann (die anderen sind alles Amatuere), dann potenziert sich diese Angst und das Misstrauen auf einer Bergstrecke ins beinahe Unendliche. Natürlich würde der Hase jetzt und hier ganz anders fahren. Wenn sie sich nur trauen würde. Tut sie aber nicht, weswegen sie mir auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist. Ein Umstand der mir auch ein bisschen gefällt.
„Du musst mehr Gas geben“, sagt sie und die Panik, dass wir rückwärts runterrollen, ist ihr ins Gesicht geschrieben. Wenn es im wahren Leben eine Sprechblase für Gedanken gäbe, schwebte eine Wolke über ihrem Haupt und darin stünde: „Warum habe ich nur keinen vernünftigen Kerl geheiratet?“ Wenige Sekunden später, ich habe gerade ein bisschen Gas gegeben, erreicht mich die nächste Botschaft: „Fahr nicht so schnell. Wir werden alle sterben!“ Das Angebot meinerseits, ihr das Lenkrad in dieser anspruchsvollen Situation zu überlassen, kommt auch nicht besonders gut an.: „Nee, hier fahre ich nicht hoch. Bin doch nicht bescheuert!“ Was dann wohl impliziert, dass ich bescheuert bin. Was mir nichts ausmacht, denn ich bin eigentlich gern bescheuert. Da hat man mehr Spaß. Das letzte Teilstück ist dann eher ein Steilstück. Ein sehr steiles Steilstück. Dafür wird die Fahrbahn immer enger und der Belag ist auch nicht mehr der Beste. Scharfe Kurven und ein beinahe senkrechter Anstieg, es ist schon eine Herausforderung. mit dem Transporter hier hoch zu fahren. Wenn uns jetzt jemand entgegen kommt, dann würden beide Fahrzeuge nicht nebeneinander passen. Dann müsste ich rückwärts den Berg runter, bis zu einer breiteren Stelle. Und das ist ein weiter Weg. Ich denke, ich sage es dem Hasen mal.
„Wenn einer von vorne kommt, müssen wir rückwärts runter fahren“, sage ich. Der Hase schließt ein Stück weit mit dem Leben ab:“ Wir werden alle sterben!“ „Ach watt“, sage ich, „so steil geht´s die Böschung nun auch wieder nicht runter. Der Wagen wäre wohl kaputt, aber ich denke, wir würden es überleben.“ Mein Optimismus wirkt irgendwie beim Hasen nicht gerade ansteckend. „Das ist nicht witzig!“ Ich finde schon dass es witzig ist und lache ein wenig. Ich lache grundsätzlich sehr selten. Ich glaube es ist das vierte mal in diesem Jahr und ich finde es hat sich gelohnt. Der Hase wird blasser mit jedem Meter, den wir hochfahren und wenn ich ehrlich bin, bete ich auch ein bisschen, dass uns ja keiner entgegenkommen mag. Nicht dass ich Angst hätte, aber ich bin nicht unbedingt sehr scharf darauf, hier rückwärts den Berg runter zu fahren. Aber heute ist ja Blattgoldsonntag und deshalb kommen wir ohne Gegenverkehr oben an. Wusst ich´s doch.
Die Aussicht hier oben ist prächtig. Aber es steht ja noch dieser Concordia Turm in der Gegend rum. Den müssen wir nun auch noch hoch. Die Kinder sprinten und ihre Eltern, die sich gerade mal wieder wie deren Großeltern fühlen, schnaufen hinterher. Ich schätze mal zwanzig Meter wird das Ding hoch sein und wenn mein Hase etwas noch mehr hasst, als einen Berg hochzukraxeln, dann ist es zwanzig Meter Treppen steigen. Jede Stufe ein Stöhner. Weniger wegen der Anstrengung, sondern eher wegen der Frustration. „Ist es noch weit?“, fragt der Hase. „Das waren doch erst zehn Stufen“, sage ich, „ich denke schon, dass es noch weit ist.“ Das wiederholt sich gefühlt zehn Mal bis wir oben sind. Und ich schnaufe lauter als der Hase. Wehmütige Erinnerungen an meine Zeiten als junger Mann kommen hoch. Da wäre ich hoch gerannt. Und nun? Ich höre mich an wie ein Kettenraucher. Das Alter ist nicht gnädig mit mir. Aber die Aussicht entschädigt mal wieder. Allerdings genieße ich sie nur mit Einschränkungen.
Die Geländer sind mir nicht hoch genug. Ich liebe es auf hohen Plätzen, Erhebungen, Türmen und weiß der Geier was noch zu stehen. Ich liebe die Aussicht. Je höher, desto besser. Aber es darf da nicht so gestaltet sein, dass ich theoretisch irgendwie runterfallen könnte. Entweder ist man an einem Hang, der nicht steil ist, oder aber, wenn es stumpf nach unten geht, muss das Ganze gesichert sein. Ich wäre liebend gerne Alpinist. Allerdings sind mir da zu wenig Geländer. Die Natur nimmt einfach keine Rücksicht auf mich. Dieser Turm hat Geländer. Beruhigenderweise hat er sie. Allerdings sind sie mir nicht hoch genug. Mindestens bis eine Handbreit über den Bauchnabel müssen Geländer gehen, wenn ich in großer Höhe bin. Alles andere verleitet mein Hirn dazu, Horrorszenarien zu erdenken, in denen ich durch eine Ungeschicklichkeit irgendwie stolpere, dabei ans Geländer gelange und mein zu hoch gelegener Schwerpunkt dafür sorgt, dass ich eine Vorwärtsrolle über das Geländer mache und dann 273 Meter im freien Fall nach unten rausche. Ich zucke dann regelmäßig zusammen und meine Fußnägel wollen sich aufrollen. Diese Geländer hier sind noch unterm Bauchnabel. Was mich dazu verleitet, ihnen nicht zu nahe zu kommen. Der Rest der Familie kennt das schon von mir und man mach sich lustig über mich. Der Sohn, den man mühevoll großgezogen hat, lehnt sich spaßeshalber ein bisschen über das Geländer und sagt sowas wie: „Guck mal Papa!“ Aber das höre ich nicht, denn ich bin schon mit aufgerollten Fußnägeln auf dem Weg nach unten.
Dort angekommen warte ich darauf, dass der spottende Teil meiner Familie wieder nach unten kommt. Wir müssen weiter, denn Sohnemanns Zug fährt bald in Koblenz los. Wir steigen ein und fahren wieder talwärts. Und wenn die Fahrt nach oben für den Hasen schon eine Prüfung war, so ist es bergab auch nicht leichter. „Wir werden alle sterben!“, sagt sie und bremst imaginär die ganze Zeit mit. Ich widerstehe nur mühsam der Versuchung, mir einen Spaß zu erlauben und indem ich behaupte, die Bremsen wären heißgelaufen und würden nicht mehr richtig funktionieren. Das würde dem Hasen mit Sicherheit den Rest geben und ich weiß nicht, wozu sie in solchen Momenten fähig sein könnte. Also unterlasse ich den Scherz. Ich bin ja nicht lebensmüde.
Unerwarteterweise erreichen wir das Tal in voller Mannschaftsstärke, Trotz der mehrfachen Voraussagen vom Hasen, sind wir ausnahmsweise nicht gestorben. Der Hase ist immer noch etwas blass um die Hasennase, aber so langsam kehrt die Farbe zurück. Wir fahren nach Koblenz. Die meiste Zeit am Ufer der Lahn entlang und somit auch im Tal. Wenig Höhenmeter sorgen beim Hasen für Entspannung. Der Wagen ist im Übrigen wieder voll bis Oberkante. Das Ding wird einfach niemals leer. Diesmal ist das gesamte Verpackungsmaterial der Möbel drin. Jede Menge Pappe. Megaviel Pappe. Soviel Pappe, dass man damit den Reichstag verhüllen könnte. Oder halb Bötersen. Die Wohnung sieht nun beinahe aufgeräumt aus und der Wagen ist dafür das reine Chaos. Irgendein Chaos muss es einfach geben in diesen Tagen. Wir fahren nach Koblenz und versuchen unter großen Mühen einen Parkplatz zu finden, der ausreichend groß für den Transporter ist. Wir parken und die beiden Mädels bringen Junior zum Zug. Ich bleibe einfach mal sitzen. 25 Minuten bin ich allein und habe erstmals seit Tagen das Gefühl, es gäbe so etwas wie Ruhe auf diesem Planeten. Ich schlafe innerhalb weniger Sekunden ein. Mein Kopf kippt nach vorn ans Lenkrad und drückt auf die Hupe, die dann auch hupt.
Wie lange hupt die Hupe? Werfen wir bei Ikea einfach unseren Pappmüll über den Zaun? Gibt es ein Happy End für alles? Wer ist der Dirk? Mehr dazu beim nächsten und wahrscheinlich auch letzten Teil……