Abgefahren

Wir sind gerne mal woanders. Der Hase und ich und die Kinder auch. Aber in der Vergangenheit war es weniger möglich, als wir es eigentlich gewollt hätten. Deshalb sind wir auch ebenso gern mal für eine Tagestour unterwegs gewesen. Dann ging es in der Regel an die Nordsee. Genaugenommen nach Döse bei Cuxhaven. Ein magischer Ort, an dem das Wasser der Nordsee mehrfach am Tag so weit verschwindet, bis man es nicht mehr sehen kann und es dann aber auch wieder zurück kommt. Und ich weiß, dass der Mond dafür zuständig sein soll. Ich weiß nur nicht, wie zum Henker er das genau anstellt. Ich habe nirgends einen großen Stöpsel oder Wasserhahn gesehen, der von ihm bedient würde. Es hat glaube ich etwas mit Gravitation zu tun, obwohl ich immer Magnetismus vermutet hatte, weil ich dachte, dass das Nordseewasser ziemlich eisenhaltig ist. Angewandte Physik zum Niederknien.

Ob das in Gänze ebenso aufregend für den Rest meiner Familie war oder ist, weiß ich nicht, möchte es zumindest für den Hasen schon mal stark bezweifeln. Aber wann immer wir wegfuhren, wegfahren und wegfahren werden, es ist immer eine spannende und zuweilen auch nervenaufreibende Angelegenheit. Dabei ist es egal, ob wir einen Tagesausflug unternehmen oder für zwei Wochen irgendwo am anderen Ende der Welt sind. Nicht dass wir schon einmal so lange so weit weg gewesen wären, aber das Prinzip der Abreise ist eigentlich immer das Gleiche. Nur sind die Vorbereitungen für mehrtägige Reisen ungleich anspruchsvoller.

Wenn wir also mal damals wieder nach Döse wollten, als die Kinder noch recht klein waren und mein Bauch ebenso, dann war mein Hase schon am Tag davor in einer gewissen Aufregung, die aber nicht mit Reisefieber zu verwechseln ist. Da wir an einem Samstag losfuhren und Samstag eigentlich der große Hausputztag ist, musste die Arbeit schon vorher erledigt werden. Das führte zu leichten Stresssymptomen. Denn der Hase kann das Haus nicht verlassen, wenn nicht alles fertig ist. Meinen Einwand, dass doch eigentlich niemals alles fertig sein könne, rein philosophisch betrachtet, stieß dabei immer auf taube Hasenohren. Und es ist egal, wann auch immer wir das Haus für einen Kurztrip oder eine lange Reise verließen, morgens musste vor der Abreise immer eine gewisse Hektik herrschen. Ich glaube der Hase braucht das ein bisschen.

Als die Kinder noch kleiner waren, hatte der Hase dann immer morgens ein paar Brötchen für uns alle geschmiert, die wir dann am Strand essen konnten. Dafür wurde im Vorfeld eine kleine Anforderungsliste erstellt, mit dem was man denn so auf dem Brötchen haben wolle. „Aber Hase Du weißt doch, was wir alle mögen“, sagte ich in die Hasenohren, die auch wieder ein bisschen auf Durchzug gestellt waren. Der Kühlschrank war, wie immer, mehr als gut gefüllt und für jeden war genug dabei. Also ging ich dann morgens zum Laden, ein paar frische Brötchen holen. Zu einer Tageszeit, als diese noch gerade brühwarm aus dem Ofen kamen. Lange schlafen war nicht drin an solchen Tagen. Glücklicherweise war es Sommer und somit auch schon hell, oder kurz davor hell zu werden, wenn mein Hase sich seiner Unruhe hingab und in ungebremste Betriebsamkeit verfiel.

Während also die Vögel so langsam erwachten und die Dämmerung dämmerte und ich mit müden, kleinen Augen die Brötchen erstanden hatte, wurden die Kinder auch geweckt. Frühstücken. Mein Magen war es eigentlich nicht gewohnt zu dieser Zeit mit Nahrung belästigt zu werden, aber ich stopfte mir trotzdem tapfer ein kleines Mettbrötchen mit dick Zwiebeln rein. „Igitt, wie kann man nur so früh sowas essen?“ fragte der Hase. „Naja, Döner gab´s schließlich nicht!“, antwortete ich wahrheitsgemäß. Der Rest der Familie war in fester Nutella Hand, weswegen man mein gequirltes Schwein auch immer mit einem gewissen Ekel betrachtete und der Zwiebelgeruch in Zusammenspiel mit Nuss/Nougat auch etwas spezieller war.

Der Hase übernahm das Kommando (so wie der Hase es immer tut, wenn wir irgendwo hinreisen) und sorgte für genügend Unruhe, damit auch der Letzte wach werden musste. Wenn der Hase in dieser Stimmung ist, ist es immer besser etwas zu tun zu haben. „Ich putze meine Zähne“, sagte unsere Tochter und verschwand nach oben. „Ich auch“, sagte unser Sohn und ich überlegte, ob er nun auch die Zähne seiner Schwester putzen würde. Jedenfalls waren meine kleinen desertierten Leichtmatrosen nicht mehr im Einzugsbereich des Feldwebels, der eigentlich ein Hase war. Dieser Feldhase holte tief Luft und präsentierte mir mir klarem Befehlston, was ich denn zu tun und zu lassen hätte. Um ihr die Luft aus den Segeln zu nehmen sagte ich: „Ich belade das Auto!“ Was angesichts dessen, was man für einen Tag an der See mitnehmen musste, keine leichte Angelegenheit war und selbst der Hase wusste, dass ich nun bis zur Abfahrt beschäftigt sein würde. Uff, ich war aus dem Schneider.

Der ganze Flur war voll mit den Utensilien, die alle im Kofferraum Platz finden müssten. Da wir keine Dachbox hatten, spielte ich mit dem Gedanken spontan noch einen Anhänger zu kaufen. Aber Dank meines Talentes für Kofferraumtetris hatte ich jeden einzelnen Kubikzentimeter vollgestopft und es passte wirklich alles rein. Mit etwas Glück könnten auch die Kinder drin sitzen. Ich bewunderte mich selbst für mein Werk, während aus dem Haus einige Flüche und leichte Streitigkeiten zu hören waren. Der Hase war in Hektik, unsere Tochter schon ziemlich fertig, aber unser Sohn, der eigentlich noch schlief, es aber nur nicht in seinem Bett tat, stand mehr im Weg, als dass er eine große Hilfe wäre. Das gefiel dem Hasen nicht so besonders, deswegen die kleinen Unstimmigkeiten. In großer Eile, so als müssten wir genau zu einer bestimmten Zeit los, weil es sonst keinen Strandkorb mehr geben würde, schmierte der Hase die Brötchen. „Ich will aber lieber Pommes haben, wenn wir da sind“, sagte unser Sohn. „Brötchen sind auch lecker“, antwortete der Hase und der Ton, den sie anschlug, beendete die Diskussionen im Keim. Ich selbst traute mich nicht, zu sagen, dass ich auch viel lieber Pommes haben wollte. In Erziehungsfragen ist eine gemeinsame Richtung der Schlüssel zum Erfolg. Außerdem sind Pommes ja auch ungesund. Zumindest für Kinder.

Und dann war es so weit. Der Kofferraum war beladen, alle waren noch mal auf Klo gegangen und die Zähne waren geputzt und die Brötchen geschmiert. Es konnte losgehen. Donnerwetter! Es war sogar immer noch Vormittag. Aber halt! So einfach fährt ein Hase nicht weg. „Ich muss noch saugen und wischen!“, sagte der Hase und hatte leichte hektische Flecken im Gesicht. Nun bin ich vielleicht auch ein bisschen begriffsstutzig, aber warum man noch eine Grundreinigung machen musste, nur weil man einen Tag unterwegs sein würde, hätte ich auch dann nicht verstanden, wenn ich ein bisschen klüger wäre. „Warum?“, fragte ich. „Na guck Dir doch mal an, wie dreckig hier alles ist!“ „Sieht aus wie immer..“, sagte ich und meinte damit, dass es halt wie immer sauber, oder besser sehr sauber ist. „Ach, bei uns ist es also immer dreckig?“, missverstand mich mein Hase. „Nein!“, sagte ich, aber die Zeit für Beschwichtigungen war jetzt nicht gekommen. „Dann lass doch wenigstens das Wischen“, versuchte ich zu vermitteln, „und überhaupt, für wen soll man das alles machen? Soll hier ein Einbrecher später nach seiner Verhaftung sagen: „War echt sauber da. Da bricht man gerne ein. So macht der Beruf einfach mehr Spaß“ Aber im langen Zusammenleben mit meinem Hasen, habe ich gelernt, dass man nicht immer alles hinterfragen muss. Eine grundsätzliche Erkenntnis für das Zusammenleben von Mann und Frau, wie ich vermute.

Den Sauger einschaltend murmelte der Hase etwas wie „Blödmann“ und dann wurde mit einer Inbrunst gesaugt, dass ich befürchtete, die Fliesen würden vom Boden gerissen. Der Hase saugte dann noch in Ecken, die ein Sauger nur höchstselten frequentiert und fühlte sich ein bisschen alleingelassen. „Alles muss ich hier alleine machen“, sagte sie. Wie sollte ich nur erklären, dass diese Sachen eigentlich nicht nötig waren. Ich versuchte es lieber nicht. Der Staubsauger hatte enorme Saugkraft und ich wollte nicht darin verschwinden.

Irgendwann war es so weit und ich schloss die Tür ab. Die Familie saß im Auto und der Hase machte sich Sorgen, dass sie irendwas vergessen haben könnte. Der Hase macht sich bei vergleichbaren Situationen immer Sorgen. „Ich glaube ich habe irgendwas vergessen“, sagt sie dann immer regelmäßig und ich kann jedesmal nur mit Mühe der Versuchung widerstehen, kurz vor Ankunft am Ziel irgendetwas wie: „Den Herd hast Du schon ausgemacht, oder?“ Oder: „Ich glaube das Velux Fenster ist noch offen!“ zu sagen. Wir wären sonst glatt umgekehrt, weil der Hase meinen Beteuerungen, es sei nur ein Scherz und alles habe seine Ordnung, nicht mehr geglaubt hätte.

Die Fahrt zu unserem Ziel dauerte immer rund anderthalb Stunden und war eigentlich immer sehr entspannt. Abgesehen davon, dass mein Hase so ein furchtbarer Beifahrer ist und mich laufend auf bremsende Autos beim Bremsen, abbiegende Autos auf Abbiegespuren und das Verkehrsaufkommen im Allgemeinen hinweisen musste. Aber in dieser Hinsicht war ich schon lange Kummer gewohnt und versuchte gelassen zu bleiben. Manchmal mit Erfolg und manchmal eben nicht. Aber insgesamt wurde der Hase ruhiger und wir konnten uns auch ein bisschen der Vorfreude hingeben. „Ich glaube das Wetter wird nicht gut werden und wir kriegen bestimmt keinen Strandkorb und wenn doch, dann nicht in der ersten Reihe“, sagte mein Hase. Sie hat eine etwas eigene Art der Freude.

Dann kunfteten wir an. Oder ankunfteten wir. Wie auch immer. Das schlechte Wetter manifestierte sich durch blauen Himmel und ungetrübten Sonnenschein. Wir stiegen aus und nahmen alles mit an den Strand, was im Auto war. Wolldecken, Handtücher in groß und klein, eine Strandmuschel (so eine Art halbes Iglozelt), eine Wäscheleine, Klappstühle, einen Korb mit Zeitungen, Keksen und ungekühlten Getränken, eine Kühltasche in der Größe eines mittleren Koffers oder Kühlschranks mit einem halben Dutzend Kühlakkus, gekühlten Getränken und diversen Tüten mit Brötchen, die der Hase in der allgemeinen Hektik geschmiert hatte, Spielzeug für die Kinder und einen Bollerwagen auf dem wir alles mitkriegen konnten. Komischerweise musste ich trotzdem das meiste per Hand tragen.

Bepackt wie ein Maulesel schob ich mit dem Hasen zusammen den Bollerwagen den Deich, der vor dem Strand war, rauf. Gefühlt waren es 20 Meter und 30% Anstieg. Mein Puls war bei rund 157 Schlägen angekommen und ich schnaufte. „Geht es Dir gut?“, fragte der Hase und ich glaube sie hat dabei ein wenig verschmitzt gelächelt. Wir bekamen einen Strandkorb in der ersten Reihe. Der Hase sagte etwas vom frühen Vogel, der den Wurm fängt und ich wies auf das offensichtliche Überangebot an Würmern. also Strandkörben hin. Aber egal. Wir hatten nun so ein Ding und ich schloss ihn auf und setzte mich sofort hin, schließlich waren wir ja schon ein paar Stunden wach. Das heißt, ich wollte mich hinsetzen. Denn ganz so einfach ist das ja nun wieder auch nicht. Bevor wir damit anfangen konnten den Tag zu genießen, musste erst eine gewisse Grundordnung hergestellt werden. Mein Hase ist ein großer Freund von Grundordnungen. Also wurden die Taschen so weit ausgepackt, dass wir unseren Lagerplatz einrichten konnten und dann ordentlich aufgereiht an den Strandkorb gestellt. Die Strandmuschel wurde aufgebaut und Wolldecken wurden für eine Liegezone angeordnet. Und in den Strandkorb konnte ich mich erst dann setzen, als der Hase ein Handtuch über den Kunststoffbezug der Sitzfläche gespannt hatte.
Dafür gibt es so kleine Klammern am Strandkorb, die ich erst durch den Hasen kennengelernt habe. Das Gitter mit dem der Strandkorb verschlossen war, wurde in den Boden gerammt und diente als antitouristischer Schutzwall gegen andere einfallenden Tagesgäste, deren Ankunft zu befürchten war. „Wenn Du könntest, würdest Du noch eine Hecke pflanzen „, scherzte ich. Der Hase fand die Idee famos und sagte, ich könne gleich anfangen.

Aber wir fanden einen Kompromiss. Ich ging mit den Kindern über das Watt und der Hase machte es sich im kleinen Hasenstrandreich gemütlich und genießt es auch mal ein bisschen allein zu sein und Zeitungen zu lesen und in der Sonne zu braten. Mit meiner kleinen Mannschaft machte ich mich auf den Weg. „Ist es noch weit?“, fragte der Sohn nach wenigen hundert Metern. „Das will ich doch hoffen“, sagte ich und war beseelt von dem Gedanken, einmal so weit Wattwandern zu können, bis zu dem Punkt, an dem sich das Wasser am weitesten zurückgezogen har. Ich weiß nicht genau, was mich da erwartet. Vielleicht ja auch zwei Schilder. Das erste: „Die Erde ist doch eine Scheibe!“ Und ich würde sagen: „Teufel auch, ich habe es immer schon geahnt!“. Das Zweite: „Da vorn ist die Kante, bitte nicht runterfallen!“ Und dann würde ich wieder umdrehen. Vermute ich.

Aber das ist nur eine Option dessen, was mich erwarten könnte. Es ist aber unbestritten, dass es mich sehr fasziniert und ich schon immer darauf brannte, einmal so weit rausgehen zu können. Das ist aber auch nicht einfach und hängt ein gutes Stück davon ab, dass man den richtigen Zeitpunkt erwischt. Denn irgendwann ist Flut und das Wasser kommt wieder, dann muss man unweigerlich umdrehen. Das Schöne daran, so weit durch das Watt zu wandern ist, dass man sich von den Menschen am Strand entfernt. Sie werden immer kleiner und auch wenn der Wind ihren Lärm noch sehr weit übers Watt trägt, ist es irgendwann so weit, dass es auch ruhiger wird. Dann werden diejenigen, die noch weiter rausgehen auch immer weniger. Irgendwann sind es nur noch eine Handvoll Leute, die wie kleine Punkte durch eine grenzenlose Wüste wandern. Und drei dieser Punkte waren gerade die Kinder und ich.

Erstaunlicherweise murrten die beiden nicht mehr und man fragte mich dies und das zum Watt, den Möwen und den Gezeiten und ich antwortete immer mit meinem gesunden Halbwissen. „Warum geht das Wasser weg und kommt dann wieder?“ „Das macht der Mond“, schöpfe ich aus meinem unermesslichen Wissensfundus. „Aber ich sehe hier keinen großen Stöpsel und auch keinen Wasserhahn“, sagte er. Endlich jemand, der auch die wissenschaftliche Seite korrekt beleuchtet. Unterwegs gab es immer wieder Stellen und Gräben, in denen noch Wasser vorhanden war und wir sind selbstredend immer da durch gegangen. Manchmal schwammen dort auch hunderte kleiner Fische, die sich um unsere Füße schlängelten und wir fanden es toll. So wie ich alles toll fand. Die Weite, die Einsamkeit zu dritt, das Rauschen des Windes und diese Losgelöstheit vom Alltag und der Hektik der Menschheit. Es gibt wohl kaum einen friedvolleren Ort.

Man müsste immer hier sein können. Wenn der Hase hier wäre, würde sie wissen, was ich meine. Aber ich gönnte ihr die Ruhe am Strand und dass sie auch mal abschalten konnte. Jeder auf seine Art, dachte ich. Leider mussten wir schon umkehren, bevor die beiden Schilder kommen konnten, weil die Flut einsetzte. Was aber nicht schlimm war. Denn einerseits waren wir sehr weit draußen und andererseits war ich (und bin ich immer noch) ein kleines Kind, das mit staunenden Augen beobachtet, wie das Wasser sich seinen Weg durch das Watt bahnt. Ich könnte Tage und Wochen damit verbringen, mir dieses Schauspiel anzusehen und es würde nie langweilig werden. Die Kinder fanden es auch toll, aber sie nutzten das Wasser eher zum Toben.

Das Schöne an der Flut ist, dass es so ein faszinierendes Schauspiel ist. Das weniger Schöne, dass man wieder zum Strand zurück muss. Aber der Weg war noch weit und ich genoss jeden Meter, den ich ging. Menschen kamen vom Strand, um das Wasser zu begrüßen. Die meisten gingen nicht gerade weit raus. Das Wasser würde ja eh kommen. Nur eine Person schritt pfeilschnell auf die offene See zu. Und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, dass es der Hase ist. Aber so schnell habe ich meinen Hasen noch nie im Watt gesehen. Doch ich täuschte mich nicht. Mit mittlerer Schallgeschwindigkeit erreichte uns der Hase, als wir noch sehr weit draußen waren. Über ihrem Kopf schien sich eine kleine Rauchwolke gebildet zu haben. Da war was im Busch.

„Hallo Hase“, sagte ich, als sie uns erreicht hatte, „alles in Ordnung bei Dir?“ Eine rhetorische Frage, denn es war offensichtlich nicht alles in Ordnung beim Hasen, aber irgendwie musste man ja ein Gespräch beginnen. „Wenn jetzt noch irgendwer „Ferdi Fuchs“ sagt, dann versenke ich den im Matsch!“ Die Wut war offensichtlich, aber da ich nicht wusste, was Ferdi Fuchs war, musste ich nachfragen:“ Was ist denn Ferdi Fuchs?“ Mit ein paar Grundtechniken aus dem „Griechisch- Römischen Ringen“ hatte mich der Hase ins Watt geworfen und war bereit mir die Hasenzähne in den Hals zu bohren. Was natürlich nicht stimmte und nur in meiner Phantasie stattfand. Aber ich vermutete, dass der Hase genau die gleichen Phantasien hatte, in diesem Moment.

Sich kaum beruhigen könnend, gab sie einen kleinen Lagebericht. Wie zu erwarten, kamen immer mehr Gäste an den Strand und mit der anfänglichen Ruhe war es schnell vorbei. Und wie es so ist, wenn viele Leute dicht beieinander sind, dann gibt es auch immer sehr unterschiedliche Charaktere, die da aufeinander prallen. Manche sind eher ruhig und in sich gekehrt, andere dann doch lieber etwas extrovertierter. Kleine Babys, die schreien, weil sie lieber irgendwo anders wären, als hier am Strand. Genaugenommen wären sie sogar lieber überall anders, egal wo. Schwerhörige Leute, die sich lautstark im Strandkorb unterhalten. Und meistens sind es die mit den nervigsten Stimmen, die dabei weder Punkt und Komma machen, noch in irgendeiner Form Luft holen, beim Redeschwall. Und so wird man schnell und unfreiwillig Zeuge davon, dass diese Personen (in der Mehrheit sind es echt Frauen, Stereotype hin oder her) ihr gesamtes Leben, mit Querverweisen auf Verwandtschaftsgrade und freundschaftliche Verbindungen, ausbreiten und dabei die Krankheitsgeschichten von allen Beteiligten verraten. Wer genau hinhört, weiß später vom Furunkel am Arsch des Nachbarn von Frau Meyerdierks, die ja so eine nette Person zu sein scheint, in Wahrheit aber eine falsche Schlange ist, die schon das erste Mal lügt, wenn sie „Guten Morgen“ sagt. Wissen, das die Welt nicht braucht.

Im Falle vom Hasen, waren natürlich diese Leute auch an „unseren“ Strandabschnitt gekommen. Aber damit konnte sie umgehen. Es ist halt wie es ist und man muss manche Dinge einfach mal in Kauf nehmen. Das gehört dazu. Für mich nur ein weiterer Grund weit, weit, weit ins Watt zu laufen. Der Hase kann damit schon eher umgehen. So weit so gut. Dass dabei manchmal irgendein Kind irgendeinen Ball in „unser Reich“ schießt, oder beim Rennen auch mal gerne Sand aufwirbelt, der an dem frisch eingecremten Hasen hängen bleibt, ist dann auch nicht schlimm. Manchmal nervig, aber man kann es aushalten. So war dann eigentlich alles, wie man es hätte erwarten können, an diesem Strandtag mit dem Strandleben für den Hasen. Und sie lag so auf dem Bauch, die Sonne brutzelte und die Stimmen der Schwerhörigen schienen sich zu entfernen und auch das Baby (es gibt immer irgendein Baby) wurde leiser. Der Hase war mit sich und der Welt im Einklang und kurz davor wegzudösen. Was man in Döse halt so macht.

Doch da, vom Deich kommend, drohte Ungemach. Eine Familie bahnte sich ihren Weg durch den Sand und fand zielsicher die beiden letzten noch freien Strandkörbe. Diese waren natürlich in der direkten Nachbarschaft von unserer kleinen Festungsanlage. Die Familie bestand aus einem spargeldürren Vater, der mit Schlapphut und hochgezogener Badehose sich eine Dose Bier nach der anderen öffnete und sonst nichts zum allgemeinen Familienleben beitrug. Dann gab es noch eine Großmutter und eine Mutter, die die Tochter der Großmutter war. Was man sowohl optisch als auch akustisch einwandfrei feststellen konnte. Dazu kam eine, nicht genau zu definierende Anzahl an Kindern, die auf Namen wie Chantalle, Kevin, Blumelia oder Hungbert hörten. Die Kinder waren rund ein halbes Dutzend und nur zwei von ihnen waren schon älter als 10 und auch etwas ruhiger.

Kevin eroberte als erstes einen Strandkorb, auf den er sich stellte und dabei Laute von sich gab, die keiner anerkannten Sprache zugeordnet werden konnten. Er hüpfte, irrsinnig dreinblickend, auf dem Strandkorb herum, während zwei seiner Geschwister mehrfach unseren Schutzwall niederrissen und hin und wieder über den Hasen trampelten, der somit auch aus seiner Traumwelt gerissen wurde. Die Mutter des mobilen Einsatzkommandos machte keinerlei Anstalten, ihre Brut davon abzuhalten, die umstehenden Strandkorbparteien zu terrorisieren. Sie war zu sehr damit beschäftig, sich lautstark mit ihrer Mutter anzubölken. Während Vater neben einem Strandkorb stand, seinen kalkweißen Körper in die Sonne hielt und sich lieber noch eine Dose Bier aufmachte. Er dachte über sein verpfuschtes Leben nach und träumte davon, dass Fortuna auch irgendwann einmal ihr Füllhorn über ihm ausschütten würde.

Zwischendurch fütterte Mutter die Meute. Das heißt, sie versuchte es, denn eigentlich hatte niemand Hunger, aber das eigentliche Familienoberhaupt, das der blassen Gestalt mir der Bierdose um Längen überlegen war, kannte keine Gnade. Aus einer überdimensionalen Tasche, gegen die unsere Taschen nur ein Witz waren, zog sie immer wieder neue Schokoriegel, matschige Milchbrötchen und Ferdi Fuchs. Ferdi Fuchs, so habe ich mittlerweile rausgefunden, ist so eine Art Bockwurst, die nicht wirklich lecker ist und von der man gar nicht wissen will, welche Tiere überfahren wurden, um den Fleischanteil zu bekommen. Der Vorteil ist, man kann sie problemlos auch in der Sonne liegen lassen, ohne dass sie dabei anfangen würde zu gammeln. Die ideale Strandwurst also.

Und für die kleinen Strandterroristen die ideale Nahrung. Und während sich das mobile Einsatzkommando damit beschäftigte, den gesamten Strandabschnitt in Schutt und Asche zu legen, wurden die Satanisten immer wieder von des Teufels Mutter oder Großmutter dazu aufgefordert, doch jetzt endlich mal Ferdi Fuchs zu essen. Das kleinste Kind, das offensichtlich gerade dem Schnuller entwachsen war, nuckelte auf dem Würstchen nur herum. „Musstu abbeißen von Deinem Ferdi Fuchs“, sagte Mutter und verfiel dabei in diesen Kleinkinderslang und eine etwas höhere Tonlage. Oma sprang ihr bei:“ Mein Kleines, Ferdi Fuchs ist nicht zum nuckeln. Das musst Du essen. Oma nimmt sich jetzt auch einen Ferdi Fuchs und zeigt Dir wie es geht!“ Der Hase, der schon längst nicht mehr süß träumend auf der Wolldecke lag, saß im Strandkorb und spürte wie sich eine dunkle Energie breit machte. Noch einmal Ferdi Fuchs und es würde eine Explosion geben.

„Ich mag aber kein….“, begann eines der Kinder zu klagen, doch der Hase unterbrach:“ ….Sag es nicht….!“ Und Mutter und Großmutter erstarrten und Vater trank lieber noch einen Schluck von dem Bier, dessen Kohlensäure schon lange verflüchtigt war und dessen Temperatur ziemlich lauwarm war. Bevor irgendwer irgendwas erwidern konnte, war der Hase aufgebrochen und über das Watt gesprintet. Dort traf sie uns und konnte ihrem Frust Luft machen. Es ging ihr danach offensichtlich viel besser. Sie stand in einem dieser Gräben, in dem noch das Wasser der letzten Flut stand und fragte: „Was kitzelt denn hier so an den Füßen?“ Die Kinder erklärten, dass es die vielen kleinen Fische wären. Der Hase wurde kreidebleich, sah in das Wasser und erkannte die Hundertschaften der Fische und hüpfte, laut schreiend aus dem Wasser. Ein rekordverdächtiger Sprung aus dem Stand. Wozu man in Schockmomenten doch alles fähig ist, dachte ich anerkennend. Der Hase liebt das Meer und wenn das Wasser warm ist, schwimmt sie auch mal darin. Aber mit ihr schwimmt auch immer die Angst davor, dass das Seewasser ja auch mit Tieren, Algen und lauter komischen Dingen bevölkert ist. Solange sie nichts davon berührt, ist alles in Ordnung. Aber wehe, wenn doch. Panikattacken und Schnappatmung sind die Folge.

Wir gingen mit dem kommenden Wasser zurück zum Strand. Ich hatte schlimmste Befürchtungen, was unsere Nachbarschaft anging und wollte eigentlich nicht wieder zurück. Aber ich konnte den Hasen nicht alleine lassen. Als wir ankamen, wurde gerade die verhaltensauffällige Brut zusammengerufen. Man wolle jetzt los. mal ein paar Pommes essen. Die Kinder und ich blickten etwas neidisch. Pommes wären jetzt wirklich mal sehr gut. „Es gibt Brötchen“, freute sich der Hase (auch für uns gleich mit) und zog aus der Kühltasche ein paar Tütchen in denen Brötchen waren, deren Oberflächen sich anfühlten wie die Haut eines 90 jährigen. Ich hatte Hunger und so schlimm waren Brötchen nun auch nicht. Also biss ich herzhaft in mein Brötchen, das etwas zäh war und deshalb meinen Zähnen erbitterten Widerstand leistete.

Das war alles nicht so schlimm. Viel schlimmer für mich war die Butter.

Vielleicht sollte ich an dieser Stelle kurz mein Verhältnis zur Butter erklären. Meine Mutter liebte Butter und wenn sie mal wieder ein neues Päckchen öffnete und die Butter auf eine eigens dafür hergestellte Schale tat, dann rieb sie immer mit den Fingern die Reste der Butter von dem Verpackungspapier und leckte diese Reste von diesen Fingern und ich wurde immer grün im Gesicht. Es war immer eine Horrorvorstellung für mich in irgendwas zu beißen, auf dem dick Butter ist. In meiner Schulzeit hatte eine Mitschülerin Kekse dabei. Immer zwei dieser Kekse waren durch eine Schicht verbunden, von der ich vermutete, dass es irgendeine Zitronencreme sei. Als sie mir sagte, dass es Butter wäre, wusste ich zwei Dinge. Erstens war das ekelig und zweitens würde sich dieser Moment für ewig in mein Gedächtnis gegraben haben..

Als Kind kam ich selten mal irgendwo hin, weil meine Eltern kein Auto hatten, aber einer meiner Onkel nahm mich manchmal mit an die Nordsee. Ich weiß nicht mehr, ob es auch Döse gewesen ist, aber es ist durchaus möglich. Und meine Tante schmierte dann immer ein paar Brötchen. Und weil meine Tante ebenso affin für Butter war, wie meine Mutter, bestand das Brötchen, oder besser dessen Belag zu 92% aus Butter. Butter die daumendick aus dem Brötchenteig herausquoll, wenn man hineinbiss. Und ich war dann immer in der Zwickmühle, weil ich einerseits kotzen könnte und andererseits die Gefühle meiner Tante nicht verletzen wollte. Es war ja sehr nett, dass ich hier sein durfte und sie mich auch fütterten.

Und nun hatte ich ein Dejavue. Das Brötchen, der Belag, die Nordsee, das Watt und diese eklig dicke Schicht Butter. Wo war ein Bier, wenn man es brauchte. Eigentlich wusste der Hase, dass ich mit dicker Butter auf Kriegsfuß stand, aber in der Hektik des Morgens hatte sie keine Zeit, sich um derartige Details zu kümmern. Die Zunge würgend aus dem Mund streckend und dabei auch würgende Geräusche machend, war ich mir nicht sicher, ob ich dieses Butterattentat essen oder in den Mülleimer spucken sollte. Aber es gab ja auch den Grundsatz dass man nicht einfach Lebensmittel wegschmiss. Ich spülte jeden Bissen mit einem Getränk runter und sank erschöpft nieder, als ich fertig war. Nächstes Mal würde es Pommes geben. Soviel war sicher.

Der Tag ging vorüber, die Familie des Ferdi Fuchs Grauens kam nur noch einmal kurz vorbei, um die Sachen zusammenzusuchen und es breitete sich eine Ruhe aus, die ruhiger wurde, je weiter der Tag voranschritt. Das sind dann die Momente für mich. Am liebsten bin ich abends am Strand. Wenn die Menschen wieder in ihren Hotels und Ferienwohnungen sind. Wenn das Wasser leise rauscht, die Sonne untergeht und ein spektakulärer gefärbter Himmel über allem ist und ein Frieden herrscht, den man mit Bockwurst nie erreichen könnte. Wir gingen wieder über den Deich, beluden das Auto und fuhren, erschöpft aber glücklich, zurück. Die Kinder schliefen unterwegs ein und der Hase fragte mich: „Hast Du Dich eigentlich heute morgen eingecremt?“ Der Hase hatte sich und die Kinder mit einer Schicht, die fast so dick war, wie die Butter auf den Brötchen, eingeschmiert und ist davon ausgegangen, dass ich schon erwachsen genug sei, das Gleiche auch mit meiner Haut zu machen.

Natürlich hatte ich mich nicht eigecremt. Schließlich bin ich ein Mann und somit auch resistent gegen die Sonnenstrahlung. Es war dunkel auf der Rückfahrt und mein Körper schien unerklärlicherweise heiß zu sein. Und irgendwie wurde ich den Eindruck nicht los, dass er stellenweise auch im Dunkeln leuchtete. Noch Tage später war ich rosa wie Paulchen Panther und hatte Schwierigkeiten irgendwelche Kleidungsstücke am Leib zu tragen, weil es so entsetzlich brannte. Zu großen Teilen war ich unfreiwilliger Nudist. Aber das war die Sache wert. Es war wieder einmal ein schöner Tag an der See und wir würden auf jeden Fall noch öfter an die Nordsee fahren. Auf dem Watt wandern, das Wasser suchen, Entspannung finden und Pommes essen, oder Ferdi Fuchs mit dick Butter drauf.